1906 prophezeite Paul Ehrlich (1854–1915), dass in naher Zukunft die Pharmazie in der Lage wäre, Substanzen zu produzieren, die spezifisch krankheitsauslösende Agenzien erkennen könnten. Er nannte diese Substanzen „magic bullets“. Sie sind Grundlage der modernen zielgerichteten Therapie von Tumoren.

Ohne Zweifel ist diese zielgerichtete Therapie ein großer Fortschritt in der Onkologie. Hierbei wirken die Medikamente gegen definierte Strukturen an der Tumorzelle, beispielsweise gegen Rezeptoren an der Zelloberfläche oder deren Liganden oder gegen Enzyme, die einen Einfluss auf die Zellteilung und das Zellüberleben haben.

Zielgerichtete Therapien orientieren sich an Molekulargenetik, Molekularbiologie und Tumorimmunologie

Zielgerichtete Therapien beruhen auf den Erkenntnissen der modernen Molekulargenetik, Molekularbiologie und Tumorimmunologie. Voraussetzung für ihren Einsatz ist der flächendeckende Zugang zur individuellen molekularpathologischen Diagnostik. Auch bei bisher rein morphologisch und immunologisch diagnostizierten Tumoren spielt die molekulare Klassifikation nun eine therapieentscheidende Rolle. Seit langem etabliert ist die molekularzytogenetische Klassifikation der Leukämien, die HER2-Diagnostik beim Mammakarzinom oder der Nachweis spezifischer Punktmutationen bei gastrointestinalen Stromatumoren. Beispiele für neue molekulare Marker, die wegen ihrer therapeutischen Relevanz rasch in die Routinediagnostik übernommen werden sollten, wurden für häufige Tumoren wie das kolorektale Karzinom, das nichtkleinzellige Bronchialkarzinom oder das maligne Melanom beschrieben.

Die medikamentöse Tumortherapie wird somit zunehmend komplexer. Neben 130 verschiedenen zytotoxisch wirksamen Arzneimitteln wurden in den letzten 15 Jahren mit den monoklonalen Antikörpern (-mabs) und den gezielt wirkenden kleinen Molekülen (-mibs) zwei neue Substanzklassen eingeführt. Frühe Vertreter waren Trastuzumab und Rituximab als Antikörper bzw. Imatinib als kompetitiver ATP-Bindungsinhibitor. Die Perspektiven für gezielt wirksame immunmodulierende Medikamente werden das Spektrum darüber hinaus erweitern.

Das vorliegende Heft hat sich dem Leitthema „Neue Substanzen und neue Wirkprinzipien in der Onkologie“ aus der Perspektive der kooperativen Behandlung in den verschiedenen Fachrichtungen der Onkologie gewidmet. Beleuchtet werden die Möglichkeiten der modernen pathologischen Diagnostik als Voraussetzung des Einsatzes zielgerichteter Medikamente. Am Beispiel der systemischen Behandlung von Bronchial- und Nierezellkarzinomen sowie Melanomen wird die enge Verzahnung der Grundlagen- und translationen Forschung sowie der Diagnostik mit der Therapie erläutert.

Die Einbringung zielgerichteter Medikamente in die klassischen onkologischen Therapiekonzepte hatte zunächst meist palliatives Potenzial. In Kombination mit chirurgischen und strahlentherapeutischen Maßnahmen werden neue kurative Konzepte ermöglicht. Dies erfordert eine enge Kooperation der Systemtherapie mit den chirurgischen Disziplinen und der Strahlentherapie zur Planung der zeitlichen Abfolge und möglicher Interaktionen der einzelnen Therapieverfahren. Die Flut der neuen Medikamente und die damit verbundenen Kosten erfordern eine kritische Diskussion über die zukünftige Organisation klinischer Studien, über geeignete patientenrelevante Endpunkte, über Nutzenbewertung, über Kostenerstattung und über die Anpassung der Strukturen des Gesundheitswesens.

Goldstandard für den Nachweis eines klinischen Nutzens ist die Messung der Gesamtüberlebenszeit. Dieser Endpunkt wird ergänzt durch weitere Parameter wie das progressionsfreie Überleben und Surrogatparameter, die das Ansprechen auf zielgerichtete Therapien sehr früh im Behandlungsverlauf beschreiben. Die Messung der Änderung der Lebensqualität gehört ebenfalls zu den Endpunkten gut geplanter klinischer Studien und sollten auch zur Nutzenbewertung herangezogen werden.

Zielgerichtete Medikamente haben neue, z. T. klassenspezifische Nebenwirkungen

Zielgerichtete Medikamente haben neue, z. T. klassenspezifische Nebenwirkungen, die bei der Indikationsstellung und Verlaufskontrolle berücksichtigt werden müssen. Die Kenntnis der zu erwarteten Symptomatik, der Möglichkeiten ihrer Vermeidung oder Linderung gehören zum Handwerkszeug eines jeden Onkologen, der zielgerichtete Medikamente einsetzt. Zur Vermeidung von Interaktionen mit anderen Medikamenten, z. B. Lipidsenkern, Antiarrhythmika, Antidepressiva oder Antibiotika ist die enge Kooperation mit den Hausärzten und Apothekern besonders wichtig.

Nach 100 Jahren ist Ehrlichs Traum vom „Magischen Geschoss“ Wirklichkeit geworden.

Für die Schriftleiter

A. Hochhaus

Für die Herausgeber

K. Höffken