Zusammenfassung
Seit vielen Jahren wird der Umgang mit Migration und Diversität im Kulturbetrieb debattiert und werden Projekte und Förderprogramme aufgelegt. Gleichzeitig scheinen bisher insgesamt in den drei relevanten Bereichen Programm, Personal und Publikum nur wenig signifikante Fortschritte erzielt worden sein. Da der bei weitem größte Teil der subventionierten Kulturproduktion in kommunaler Zuständigkeit liegt, untersucht der Beitrag auf Grundlage einer Umfrage unter Kulturämtern in Deutschland, was der Stand der Umsetzung ist, aber auch, welche Bedeutung der Frage der Öffnung überhaupt zugewiesen wird.
Notes
- 1.
Diese Feststellung basiert auf Auswertungen einer Reihe von Städtestatistiken im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte. Entsprechende Zahlen sind sowohl in den Statistikberichten größerer Städte aufgeführt und teilweise auch den Statistikseiten der Landesämter für Statistik zu entnehmen (z. B. für Baden-Württemberg: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg 2023). Für einen Überblick zur Forschung über regionale Mobilität in Deutschland vgl. Kley 2016.
- 2.
Basierend auf Auswertungen von Zahlen des Mikrozensus 2019, die dem Autor von den Statistischen Landesämtern zur Verfügung gestellt wurden. Diese stehen allerdings nur für kreisfreie Kommunen zur Verfügung, sodass Kommunen, die einem Landkreis zugeordnet sind, aber ebenfalls einen Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund von über der Hälfte haben (z. B. Sindelfingen und Rüsselsheim) nicht aufgeführt sind. International findet sich unter dem Begriff „majority minority-cities“ eine Reihe von europäischen Großstädten wie u. a. London, Amsterdam, Paris, Wien und Genf (vgl. Crul 2016; Schneider et al. 2015; Schneider 2018; Pott und Schneider 2019).
- 3.
Vgl. hierzu die jeweils aktualisierten Berichte des Statistischen Bundesamtes zu den Ergebnissen des Mikrozensus in der Fachserie 1, Reihe 2.2 (Destatis 2023). Für eine detaillierte Analyse der vorhandenen statistischen Daten am Beispiel einer Kommune mit einem Bevölkerungsanteil von Personen mit Migrationshintergrund über fünfzig Prozent siehe Pott und Schneider 2019.
- 4.
Hierzu ein Beispiel: Im Rahmen einer Fallstudie in der Stadt Sindelfingen haben wir zwischen 2016 und 2018 über einen Zeitraum von etwa anderthalb Jahren regelmäßig die von der Stadt herausgegebenen Informationsmedien über das lokale Kulturprogramm auf interkulturelle Aspekte hin ausgewertet. Bis auf eine regelmäßig stattfindende Kinderbuchlesung in türkischer Sprache in der Stadtbibliothek fanden sich keinerlei Hinweise auf die hohe migrationsinduzierte Vielfalt und die damit einhergehende Kulturproduktion in der Stadt (vgl. Pott und Schneider 2019, S. 227–229, 233).
- 5.
Siehe hierzu auch z. B. die Empfehlung „Kulturelle Vielfalt in der Stadt – Chance und Herausforderung für die kommunale Kulturpolitik“ des Kulturausschusses des Städtetages NRW vom März 2021 (Städtetag NRW 2021).
- 6.
- 7.
Für kleinere Kommunen besteht sicherlich das Problem, dass sie in den Veröffentlichungen der statistischen Landesämter auf Basis des Mikrozensus aufgrund der zu niedrigen lokalen Fallzahlen nicht einzeln aufgeführt sind, aber für eigene statistische Berechnungsverfahren – etwa auf Basis des von der Städtestatistik in größeren Städten entwickelten MigraPro-Verfahrens für Auswertungen der Meldedaten (Verband Deutscher Städtestatistiker 2013) – häufig weder die Personalkapazitäten noch die statistischen Fachkenntnisse vor Ort vorhanden sind.
- 8.
Entsprechende Zahlen sind nur dezentral in den Städtestatistiken zu finden und diese arbeiten zudem häufig mit unterschiedlichen Einteilungen der Altersgruppen. Der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund lag in aktuellen Statistiken z. B. bei den über 60-Jährigen in Köln bei 29 % (Stadt Köln 2023), bei den über 65-Jährigen in Augsburg bei 33 % (Stadt Augsburg 2023) und bei den über 70-Jährigen in München bei 29 % (Statistisches Amt München 2023).
- 9.
Siehe hierzu auch die Ergebnisse der Studie „Stand der kommunalen Integrationspolitik in Deutschland“ des DESI – Instituts für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration von 2012 (Gesemann et al. 2012, S. 12, 36–37).
- 10.
Es gibt inzwischen viele zivilgesellschaftliche und auch öffentlich geförderte Einrichtungen, die solche Unterstützung leisten, wie z. B. Diversity Arts Culture in Berlin oder das Forum der Kulturen in Stuttgart. Denkbar sind auch entsprechend orientierte Landesprogramme, die sich gezielt an kleinere und mittlere Kommunen oder die Landkreise wenden.
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Schneider, J. (2024). Kommunale Kulturpolitik in der Migrationsgesellschaft. In: Gesemann, F., Filsinger, D., Münch, S. (eds) Handbuch Lokale Integrationspolitik. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43195-2_37-1
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