Zusammenfassung
Der Brokdorf-Beschluss des Ersten Senats des BVerfG (1985) gilt als die „magna charta“ des Versammlungsrechts und eine der herausragenden freiheitsrechtlichen Karlsruher Entscheidungen. Zugleich ist er ein Musterbeispiel für eine sowohl rechtsrealistische als auch verfassungstheoretische Verfassungsinterpretation: Durch den Jugendprotest der sechziger Jahre und die Friedens- und Anti-AKW-Bewegung entstanden neue Versammlungsformen, für die das Versammlungsrecht der fünfziger Jahre nicht gemacht worden war. Karlsruhe übernimmt dessen Anpassung im Wege der verfassungskonformen Interpretation. Dabei leiten den Senat integrationstheoretische Überzeugungen, wie mit einer Opposition umzugehen ist, deren Anliegen sonst keine demokratische Mehrheitschance haben und kein rechtsstaatlicher Abwägungsbelang sind. Ob die illustre Tradition der Karlsruher Rechtsprechung zum Versammlungsrecht andauern wird, ist angesichts neuerlicher Protestformen, auf die die alten Grundsätze noch nicht angewendet wurden, eine noch offene Frage.
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Notes
- 1.
Hesse, Grundzüge, S. 5, ebenso noch in der 20. Aufl. 1995, Rn. 6.
- 2.
BVerfGE 3, 58 – Erlöschen aller Beamtenverhältnisse am 8. Mai 1945 (1953); 6, 132 – Gestapo-Beschluss (1957).
- 3.
Siehe dazu Voßkuhle, Integration durch Recht.
- 4.
Vgl. Hesse, Grundzüge, S. 154.
- 5.
Näher BVerfGE 69, 315 (350) – Brokdorf [1985].
- 6.
BVerfGE 69, 315 (351). Ob § 14 Abs. 3 VersG noch verfassungskonform ausgelegt werden kann, ist umstritten. Vgl. BVerfGE 85, 69 mit Sondervotum von Seibert und Henschel S. 77 ff. – Eilversammlungen [1991]; aktuell Kaiser, Art. 8 Rn. 66.
- 7.
Vorläufer der politischen Massendemonstration: Hambacher Fest am 27.5.1832, Organisatoren Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth, 30.000 Teilnehmer; Friedensdemonstration nach der Marokko-Affäre („Panther-Sprung“) in Berlin Treptower Park am 3.9.1911, Organisator SPD, 200.000 Teilnehmer; Demonstration gegen das Betriebsrätegesetz vor dem Reichstag am 13.1.1920, Organisator KPD und USPD, 100.000 Teilnehmer; 17. Juni 1953 Volksaufstand in 500 Städten der DDR.
- 8.
Zur Entwicklung und Ausweitung der Widmungszwecke der Straße unter dem Einfluss der Grundrechte siehe Siehr, Recht am öffentlichen Raum, §§ 2, 3, 8.
- 9.
Näher Fürmetz, Schwabinger Krawalle. Juristische Konsequenz war die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungklage „doppelt analog“ gegen nach Klageerhebung erledigte Polizeiverwaltungsakte durch BVerwGE 26, 161 [1967], was erst die Justiziabilität der Demonstration ermöglichte. Eine vergleichende Bewertung der Ereignisse in München und Berlin zugleich auf der Basis eigener Anschauung bei Wesel, Latein, S. 71–73.
- 10.
So die Zusammenfassung der Allgemeinverfügung durch BVerfGE 69, 315 (321 f.).
- 11.
BVerfGE 69, 315 (326).
- 12.
Zur Zuordnung einzelner Entscheidungspassagen näher Lepsius/Doering-Manteuffel, Richterpersönlichkeiten, S. 172 f., 184 ff., 189 f.
- 13.
Vgl. Herzog, Jahre der Politik, S. 14, 31.
- 14.
Vgl. Herzog, Der unbequeme Präsident, S. 64–69.
- 15.
Eine Auswahl seiner Reden und Denkschriften sind abgedruckt und erläutert in: Simon, Leben zwischen den Zeiten; siehe auch ders., Demokratie und Grundgesetz; ders., Die rechts- und sozialstaatliche Demokratie. Näher und mit weiteren Nachweisen: Lepsius/Doering-Manteuffel, Richterpersönlichkeiten, S. 177–189.
- 16.
Vgl. W. Huber, Demokratie wagen; Heckel, Kirche und Staat nach evangelischem Verständnis, S. 601 f., 625 f., 635 f.
- 17.
Kirchenamt im Auftrag der EKD (Hrsg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie.
- 18.
Simon, Freiheitliche Verfassung und Demonstrationsrecht, S. 6, 10 f., 13 ff.
- 19.
Simon, Referat auf dem Hamburger Kirchentag 1981, in: ders., Leben zwischen den Zeiten, S. 94 ff. (97, 98).
- 20.
Simon, Rechts- und sozialstaatliche Demokratie, S. 78 f.
- 21.
Deutscher Bundestag, Jugendprotest im demokratischen Staat, Band II, S. 56.
- 22.
Programmatisch war seine Freiburger Antrittsvorlesung: Hesse, Die normative Kraft der Verfassung. Siehe dazu die Analysen in: Krüper/Pajandeh/Sauer, Konrad Hesses normative Kraft der Verfassung; Lege, Normativer Anspruch und politische Wirklichkeit; Voßkuhle, Hesse als Richter des Bundesverfassungsgerichts; Hollerbach, Öffentliches Recht an der Universität Freiburg, S. 87–106.
- 23.
BVerfGE 69, 315 (346 f.), Zitat aus Hesse, Grundzüge, 20. Aufl., S. 157.
- 24.
BVerfGE 69, 315 (347) (Nachweise weggelassen).
- 25.
BVerfGE 69, 315 (346).
- 26.
Siehe zu den alternativen Demokratiekonzeptionen der Senate Lepsius, Gesellschaftliche Integration, S 142–144; van Ooyen, Brokdorf-Beschluss.
- 27.
Die Ausführungen des OVG werden hier referiert nach der Zusammenfassung durch BVerfGE 69, 315 (324–326).
- 28.
Eine Rechtsänderung erfolgte erst seit 1997 mit § 146 Abs. 4 VwGO.
- 29.
Im Ergebnis wurde die Entscheidung des OVG sowohl wegen Verstoßes gegen die Bindung des Richters an das Gesetz auch Art. 20 Abs. 3 GG als auch wegen der Verletzung des Art. 8 Abs. 1 G aufgehoben, vgl. BVerfGE 69, 315 (371 f.).
- 30.
BVerfGE 69, 315 (357–359).
- 31.
BVerfGE 69, 315 (349).
- 32.
BVerfGE 69, 315 (320).
- 33.
Nach § 125 StGB (Landfriedensbruch) konnte bestraft werden, wer sich an einer Demonstration friedlich beteiligte, aus der heraus es zu Gewalttaten kam. Nach dieser Norm waren harte Strafen gegen protestierende Studenten verhängt worden. Im Rahmen der großen Strafrechtsreform wurde der Straftatbestand 1970 neu gefasst. Er betrifft heute nur noch den Gewalttäter selbst oder dessen Gehilfen, was zum zivilrechtlichen Gleichklang mit § 830 BGB führt. Vgl. zum demonstrationsrechtlichen Zusammenhang der Reform des Landfriedensbruchs Wesel, Rechtsgeschichte, S. 157; zur neuerlichen Renaissance Heinze, Landfriedensbruch als Generalklausel.
- 34.
Vgl. BVerfGE 69, 315 (358).
- 35.
BVerfGE 69, 315 (354–357).
- 36.
BVerfGE 69, 315 (319 f., 355).
- 37.
BVerfGE 69, 315 (355).
- 38.
BVerfGE 69, 315 (356).
- 39.
BVerfGE 69, 315 (357).
- 40.
Vgl. Hoffmann-Riem, Kompensatorische Rechtsanwendung.
- 41.
Einige Länder haben inzwischen Versammlungsgesetze erlassen, in denen das Kooperationsprinzip als Zusammenarbeitspflicht oder Deeskalationsgebot normiert ist. In den übrigen gilt das Gesetz des Bundes solange unverändert fort. Die länderspezifischen Neuregelungen betrafen vor allem aber datenschutzrechtlich relevante Überwachungsmaßnahmen. Für einen Überblick siehe Gericke, Versammlungsgesetze der Länder.
- 42.
BVerfGE 69, 315 (361).
- 43.
BVerfGE 69, 315 (362).
- 44.
Dazu näher Lepsius, Maßstabsbildung.
- 45.
Als Richter argumentierte Hesse freilich problembezogen und nicht abstrakt, vgl. Konrad Hesse, Diskussionsbemerkung, VVDStRL 39 (1981), S. 207 f.
- 46.
Vgl. Martin Draht, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 9 (1952), S. 17–116 (93–110): Verfassungsgerichtsentscheidungen seien eine Beteiligung an der Gestaltung des sozialen und politischen Lebens. Sie hätten zwangsläufig eine aktive, politische Funktion und verlangten vom Gericht selbst politisches Denken und eine innere Bindung der Verfassungsrichter an die freiheitliche Demokratie. Ähnliche Erwartungen formulierte Helmut Simon, Die rechts- und sozialstaatliche Demokratie, S. 67 f.
- 47.
So Hoffmann-Riem, Demonstrationsfreiheit.
- 48.
Vgl. Künast, Gesellschaftsvertrag, S. 15. In ihrem Vortrag wurde das noch deutlicher ausgesprochen als in der Druckfassung.
- 49.
Dem Maastricht-Urteil, BVerfGE 89, 155 [1993], lag eine Verfassungsbeschwerde von EU-Kritikern zugrunde, deren Erfolg jedoch ein vom Gericht erst neu zu schaffendes Grundrecht auf demokratische Teilhabe voraussetzte. Dieser Ansatz, die fehlende parlamentarische Artikulation durch eine grundrechtlich begründete Artikulation im Gerichtssaal zu kompensieren, kam später auch den Euro-Skeptikern zugute. Die Prüfung durch das BVerfG half, das Vertrauen in die Währung zu erhören.
- 50.
Vgl. näher Lepsius, Die politische Funktion des Bundesverfassungsgerichts.
- 51.
Schon 1969 hatte der BGH psychische Gewalt für ausreichend für eine Nötigung erklärt, BGHSt 23, 46 – Laepple. Damit wurde im Sinne des Versammlungsrechts friedliches Protestverhalten kriminalisiert. Zunächst prüfte das BVerfG die Unbestimmtheit des Gewaltbegriffs bei § 240 StGB, was zu unterschiedlichen Ergebnissen führte, die von der Senatszusammensetzung abhingen, vgl. BVerfGE 73, 206 – Sitzblockade Mutlangen [1986]; 92, 1 – Sitzblockade Großengstingen [1995]. Nachdem der BGH am erweiterten Gewaltbegriff festhielt (BGHSt 41, 182 – „Zweite Reihe“ [1995]), legte das BVerfG die Verwerflichkeit nach § 240 Abs. 2 StGB verfassungskonform aus: BVerfGE 104, 92 – Sitzblockade Wackersdorf/Blockade Autobahn A 5 [2001]; erneut BVerfG, Beschl. der 1. Kammer des Ersten Senats v. 7.3.2011, 1 BvR 385/05, NJW 2011, S. 3020: Sitzblockade als Teil des Schutzbereichs der Versammlungsfreiheit. Die zuvor vom BGH abgelehnte Betrachtung der Fernziele ist nun verfassungsrechtlich geboten. Zur Entwicklung im Lichte der Sachverhalte Stuckenberg, Sitzblockade und Mutlangen, m. w. N.
- 52.
Überblicke über die kontroverse Rechtsprechung, besonders einen Einschätzungskonflikt zwischen dem BVerfG und dem OVG Münster: Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit für Rechtsradikale; Hong, Die Versammlungsfreiheit, S. 164 ff.
- 53.
Die „Love Parade“ und die Gegenveranstaltung „Fuckparade“ wurden zunächst durch das OVG Berlin, Beschl. v. 6.7.2001, 1 S 11.01, nicht als Versammlung qualifiziert: Es handele sich um gemischte Veranstaltungen, bei denen der Spaß-, Tanz- und Unterhaltungszweck im Vordergrund stehe. Im einstweiligen Rechtsschutz bestätigte das BVerfG dies zunächst, Beschl. der Ersten Kammer des Ersten Senats v. 12.7.2001, 1 BvQ 28/01: Eine Musik- und Tanzveranstaltung wird nicht allein dadurch zu einer Versammlung, weil bei ihrer Gelegenheit Meinungskundgaben erfolgen. Bleiben Zweifel, so bewirkt der hohe Rang der Versammlungsfreiheit, dass die Veranstaltung wie eine Versammlung behandelt wird. Diese Zweifel bejahte im Hauptsachverfahren BVerwG, Urt. v. 16.7.2007, 6 C 23.06, Rn. 25: „Angesichts des dargestellten Gewichts der auf jeden Fall dem Meinungsbildungsbereich zuzuordnenden Elemente ist vielmehr nicht auszuschließen, dass die Veranstaltung, hätte sie stattgefunden, ihrem Gesamtgepräge nach als auf die Teilhabe an der Meinungsbildung gerichtet angesehen worden wäre.“
- 54.
So hatte zum Beispiel der Innenminister von NRW, Herbert Reul, zu Beginn der Pandemie erwogen, die Grundsätze des Brokdorf-Beschlusses „auf den Prüfstand zu stellen“, fühlte sich dann aber missverstanden; es sei um eine Frage von Leben und Tod gegangen. Vgl. die Kontroverse im Innenausschuss des Landtages NRW, Ausschussprotokoll 17/972 v. 23.4.2020, S. 55–67.
- 55.
Deren Rechtswidrigkeit wurde erst mit erheblicher Zeitverzögerung festgestellt. Zur Rechtswidrigkeit der sächsischen Coronaschutzverordnung v. 17.4.2020, die ein vollständiges Versammlungsverbot im öffentlichen Raum anordnete: BVerwG, Urteil v. 21.6.2023 – 3 CN 1.22.
- 56.
Vgl. für eine zwischenbilanzierende Analyse bis April 2021: Kraft, Versammlungsverbote.
- 57.
BVerfG, Beschl. der Ersten Kammer des Ersten Senats v. 31.1.2022, 1 BvR 208/22. Es ging um eine Allgemeinverfügung der Stadt Freiburg (gleichlautend von anderen Gemeinden erlassen), die sowohl vom VG Freiburg als auch vom VGH Mannheim bestätigt wurde. Anders entschieden für eine Allgemeinverfügung der Stadt Bad Mergentheim durch VG Stuttgart, Beschl. v. 12.1.2022, 1 K 80/22. Alle Entscheidungen ergingen im einstweiligen Rechtsschutz und sind daher nicht vollumfänglich verwertbar.
Literatur
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Wesel, Uwe: Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2019; ders., Wozu Latein, wenn man gesund ist? München 2022.
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