Zusammenfassung
Die Prämisse vom vernunftfähigen, die soziale Welt konstituierenden Menschen hat das moderne Denken entscheidend inspiriert und die modernen Sozialwissenschaften fundiert. Bereits die Aufklärer haben die Arbeit mit Handlungsmodellen und -theorien erkenntnis- und sozialtheoretisch begründet. In Anlehnung an die Arbeiten von David Hume, Adam Smith und später denen von Max Weber und Karl Popper haben sich große Teile der Sozialwissenschaften als Erfahrungs- und Handlungswissenschaft entwickelt. Eines der zentralen Werkzeuge dafür sind Modelle menschlichen Handelns. Sie dienen dazu, soziale Zusammenhänge und Strukturen kausal als Folge individuellen Handelns zu erklären und auch praxisrelevante Gestaltungsvorschläge zu gewinnen. Vor allem zwischen der Ökonomie und der Soziologie haben sich dafür unterschiedliche methodologische Prinzipien und Funktionen von Handlungstheorien ausgebildet, die allerdings in den letzten Jahren auch wieder Konvergenzen erkennen lassen. Sowohl für die Wirtschaftswissenschaften als auch für die Soziologie und die Politikwissenschaft können die analytisch und heuristischen Stärken sowie der systematische Ausbau handlungsbasierter Erklärungen dargelegt werden. Damit regt die Debatte um Menschenbilder, Handlungsmodelle und Handlungstheorien auch wieder dazu an, über die Aufgaben und Möglichkeiten der Sozialwissenschaften fundiert nachzudenken.
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Notes
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In den Sozialwissenschaften wird überwiegend von Handlungsmodellen, worunter hoch abstrakte Zusammenhänge zwischen den Ursachen menschlichen Handelns und der Handlung, oder auch von Handlungstheorien, worunter zumeist die Arbeit an und mit einem allgemeinen Handlungsgesetz und daraus logisch gefolgerten Thesen verstanden wird, gesprochen und nicht von Menschenbildern. Der Begriff des Menschenbildes (Mayntz 2001; Bahrdt 1961) ist eher in philosophischen oder pädagogischen Kontexten beheimatet (Zichy 2017).
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Für einen vergleichenden Zugang zu den Handlungsmodellen und -theorien der Aufklärer und deren erkenntnis- und sozialtheoretischen Prämissen vgl. etwa Bonß et al. (2020).
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Erklären bedeutet dabei, dass aus einem Gesetz, wie etwa einem Handlungsprinzip, und dem Nachweis seiner Anwendungs- und Randbedingungen das zu erklärende Phänomen logisch gefolgert wird (Maurer und Schmid 2010, Kap. 2). Über Erweiterungen des handlungstheoretischen Kerns und Theorien sozialen Handelns wurde auch der sog. „naive Rationalismus“ überwunden, indem aus individuell intentionalen Handlungen nicht automatisch kollektiv vorteilhafte Situationen, sondern eben auch soziale Dilemmata oder unvorteilhafte Verteilungen gefolgert werden können (vgl. Abschn. 3.4).
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Vgl. für eine Darstellung dieser Debatte (Maurer und Schmid 2010, S. 23 ff., 28 ff.). Vor allem innerhalb der Soziologie haben sich unterschiedliche methodologische Positionen und darüber divergente Programme ausgebildet, die sich entsprechend der hier vorgestellten Argumentation als je typische Kombinationen aus Erkenntnis-, Sozial- und Gesellschaftstheorie rekonstruieren und ordnen lassen (vgl. für einen solchen Versuch Bonß et al. 2021, S. 271 ff.).
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Im Vergleich zu Lerntheorien, Verhaltens- oder Praxistheorien – den wichtigsten Konkurrenten – gibt die Theorie rationaler Wahl eine eindeutige Wahlregel an, eignet sich gut, um Handlungssituationen zu erschließen, indem Situationsfaktoren mit Bezug auf Ziele und Zweckmittel-Relationen erschlossen werden und indem sich wichtige soziale Interdependenzformen wie etwa kollektives Handeln in ertragreiche Thesen überführen und auch noch erkennen lassen, an welchen Stellen wie Erweiterungen (Konkretion der Ziele oder Mittel; und nur zuletzt an der individuellen Rationalität) vorgenommen werden können und müssen (Maurer und Schmid 2010). Zu den Stärken und Schwächen der Theorie rationaler Wahl und deren Nutzung in sozialwissenschaftlichen Erklärungen s. etwa Elster 1986; Lindenberg et al. 1986; Tutic 2020.
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Innerhalb der erfahrungswissenschaftlichen Sozialwissenschaften, vor allem denen, die davon ausgehen, dass die soziale Welt von Strukturgesetzen (Prämisse von der Determinanz des Sozialen) bestimmt ist und die daher der Handlungsebene und der Beschreibung des Menschen keine erklärungsrelevante Aufgabe zuweisen, wie dies etwa bei Marx, Durkheim und späterhin aus anderen Gründen bei Niklas Luhmann (1984) der Fall ist. Das markiert auch die Trennlinie zu all den Ansätzen, welche weiterhin mit normativen oder anthropologischen Annahmen über das allgemeine Wesen des Menschen arbeiten und diesen a priori als soziales Wesen oder Kulturwesen mit spezifischen Eigenschaften losgelöst von sozialen Kontexten beschreiben und kollektive Erfahrungen und ein allgemeines Interesse als Basis für die Gestaltung von Gesellschaft und Wirtschaft unterlegen (s. etwa Joas 1992, 1999; Etzioni 1996; Polanyi 1979). Vgl. für eine systematisch-vergleichende Darstellung von Menschenbildern und Handlungstheorien in den Sozialwissenschaften und den damit verbundenen Sozial- und Gesellschaftstheorien Etzrodt (2003) und Bonß et al. (2020, S. 341 ff.).
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Das haben in der Folge Soziolog*innen unterschiedlicher Richtungen gemacht und darüber realistischere Handlungsmodelle gegenüber der Standardökonomik vorgelegt, weil so Situationsdeutungen, Werte und Normen berücksichtigt und erklärt werden können. Allerdings finden sich längst auch in der Ökonomik erweiterte Handlungsmodelle und -theorien welche Werte, Situationsdeutungen oder evaluative Weltsichten einbeziehen; wie es etwa die Fairnessexperimente eindrucksvoll belegen (Fehr et al. 2002).
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Im ersten Schritt sieht Schütz dafür eine unbewusste Wahl des Situationstyps vor, der erst bei Nicht-Passen ein praktisches Problem für die Individuen setzt, auf das sie mit der sinnvollen Suche nach einem passenden oder der Konstruktion eines neuen Situationstyps reagieren, was sowohl zweck- und wertrationale wie auch traditionelle Handlungsformen umfassen kann; vgl. für eine ausführliche Rekonstruktion und Einordnung Esser 1991.
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Eine eigene Stellung in den soziologischen Handlungstheorien nimmt der Symbolische Interaktionismus ein, der von George Herbert Mead begründet und von Herbert Blumer, der Chicago School und Erving Goffman ausgearbeitet wurde (vgl. Joas 1980). Dort wird angenommen, dass menschliches Handeln immer schon durch die Relation zu anderen bestimmt wird und dass daher individuelles Handeln gemeinsam geteilten Mustern folgt, die in Interaktionen in Gruppen entstehen.
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Im Pareto-Optimum findet sich dieser, unmittelbar an die frühen Sozialtheorien anschließende Gedanke derart ausgeführt, dass ein individuell-rationales und eigen-nutzorientiertes Handeln unter Bedingungen vollkommenen Wettbewerbs und bei vollkommener Rationalität kollektiv vorteilhafte Gleichgewichte (Pareto-Optimum) entstehen, welche sich durch freiwillige Handlungen nicht mehr verbessern lassen, bzw. anders formuliert: der Markt führt auf der Makroebene zu vorteilhaften Lösungen.
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Maurer, A. (2022). Das moderne Menschenbild und die Grundlegung der Sozialwissenschaften. In: Zichy, M. (eds) Handbuch Menschenbilder. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-32138-3_13-1
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