Zusammenfassung
Der Begriff der Kultur hat seit den cultural turns an Erklärungskraft und an Einfluss auch in den Sozialwissenschaften gewonnen, insbesondere, aber nicht nur in seinem weiten Verständnis. Der Beitrag will die Potenziale des Konzepts für die Gedächtnissoziologie ausloten. Er geht zunächst auf die Begriffsgeschichte und die Unterteilung in weite, enge und vergleichende Kulturtheorien ein, wendet sich dann der Pluralität von Kulturen und dem Verhältnis von Kultur und Wissen zu, um nach einer Besprechung kulturtheoretischer Ansätze in den Memory Studies, insbesondere anhand der Konzepte ‚kulturelles Gedächtnis‘ und ‚Erinnerungskultur‘, das Verhältnis von Kultur und Gedächtnis zu diskutieren. Letztlich gibt es keine Kultur ohne Gedächtnis und kein soziales Gedächtnis ohne Kultur: Die Entstehung, Stabilisierung, Weitergabe und Internalisierung objektivierter kultureller Welten in ihrer Semantik wie ihrer Struktur beruht auf sozialen Zeit-, also Vergangenheits- und Zukunftsbezügen. Gleichzeitig gewinnt eine sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung mit Hilfe von Kulturtheorien eine anthropologische Fundierung als Einsicht in Kulturalität als conditio humana. Kulturtheorien schärfen aber auch den Blick für die Spezifität, Pluralität und Kontingenz partikularer Gedächtnisse. Zumindest in Hinsicht auf einen weiten Kulturbegriff ist eine Gedächtnissoziologie letztlich dem Konzept der Kultur recht nahe, insofern sich den Kategorien von Kultur (Objektivität, Historizität, aus Relevanzstrukturen gegenwärtiger Situationen und Motive erwachsende Selektivität von Wissensordnungen) auch zentrale Gedächtniskategorien zuordnen lassen. Dennoch fallen Kultur und Gedächtnis nicht in eins: Zum einen lässt sich Kultur auch als Gedächtnisprozess verstehen, insoweit sie in ihrer Entstehung, Weitergabe und Internalisierung auf Operationen des Gedächtnisses – Erinnern und Vergessen – angewiesen ist. Zum anderen sind (soziale) Gedächtnisse immer auch Teil von Kultur, da sie in ihrer Partikularität spezifisch in konkreten Kulturen existieren und abstrakt betrachtet stets aus Objektivierungen und Internalisierungen kulturellen Wissen bestehen.
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