Zusammenfassung
Wissen als kognitives ebenso wie inkorporiert-praktisches Element der Befähigung zur Orientierung in emergenten Situationen muss aus sozialwissenschaftlicher Sicht als ‚geworden‘ begriffen werden. Es erwächst generationsübergreifend habitualisierten evolutionären Anpassungsleistungen und wird sozial sowie gesellschaftlich organisiert weitergegeben. Diese Organisation ist je nach sozialem Kontext unterschiedlich ausgestaltet. Immer geht es dabei darum, welche Eindrücke und Erfahrungen auf welche Weise an nachfolgende Generationen weitergegeben werden und wie dies vonstattengeht. Wenn Gedächtnissen eine solche Organisation von Vergangenheitsbezügen zukommt, kann man feststellen, dass Wissen ohne Gedächtnis nicht möglich ist. Im folgenden Beitrag geht es darum, zentrale Grundmotive dieses Zusammenhangs näher zu betrachten.
Notes
- 1.
Hierbei sei auf die Rekonstruktion der Entstehung des Märchens bei Eviatar Zerubavel (2006, S. 2) hingewiesen, der feststellt, der Verfasser „was particularly fasciated by the fundamental tension it so effectively portrays between the private act of noticing and the public act of acknowledging.“
- 2.
Dieses Motiv entfaltet bereits Vilfredo Pareto (1975, 393, Hervorh. i. Orig.) mit folgendem Hinweis: „Wir glauben, der Vernunft nachzugeben, weil wir sehr gut sind im Erfinden von Argumenten, um a posteriori die Handlungen zu rechtfertigen, zu denen uns Gefühle und Interessen trieben.“
- 3.
Dies wird auch von dem Wissensforscher Umberto Eco (1995) aufgegriffen, in dessen Roman Die Insel des vorigen Tages die Orientierung an falschem Wissen einen zentralen Stellenwert hat.
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Dimbath, O. (2022). Wissen. In: Berek, M., et al. Handbuch Sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26593-9_15-1
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