Zusammenfassung
Drogen und ihre Effekte haben beständig Einfluss auf Zeitwahrnehmungen und Gedächtnisfunktionen. Der Beitrag kartografiert verschiedene kulturgeschichtlich überlieferte Versionen dieser Verknüpfung. Eine breite Palette zeigt sich: Von Rauscherfahrungen als Zugang zum absoluten Gedächtnis bzw. zum Unbewussten bis zum restlosen Gedächtnisverlust, vom Zeitstillstand bis zu Momenten der Beschleunigung. Psychoaktive Substanzen rütteln, quer zu verschiedenen Epochen der Kulturgeschichte, an den vermeintlichen Pfeilern der Wahrnehmung. Sie sind also eine beständige Herausforderung, nicht zuletzt für ein sozialwissenschaftliches Verständnis von Gedächtnis und seinen Funktionen.
Schlüsselwörter
- Drogen
- Rausch
- Zeit
- Erinnern
- Vergessen
- Beschleunigung
- Zeitlosigkeit
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Notes
- 1.
Das hat vor allem damit zu tun, dass die Umwertung aller Werte, gekippte Hierarchien etc. keine Rolle mehr spielen. Wurden im Karneval einst die Mächtigen verlacht und die Volkskultur gefeiert (Bachtin 1995), stehen mittlerweile die Mächtigen selbst auf der Bühne und machen sich mitunter sogar über Minderheiten lustig.
- 2.
Siehe shore-stein-papier.de (Zugegriffen am 03.06.2019).
- 3.
Ähnliche psycholytische Methoden wendet auch der holländische Psychiater Jan Bastiaans in den 1970er-Jahren bei Überlebenden der Konzentrationslager an, die das „Post-KZ-Syndrom“ aufweisen (Bastiaans et al. 1976, S. 127). LSD dient zwar zur Aktualisierung der grausamen Er-fahrungen, was mitunter zur Linderung der Symptome führen kann. Eine gewissermaßen einfache Lösung ist die Droge für Bastiaans (und Eugen Kogon) dagegen nicht.
- 4.
Siehe die MIND-Foundation, https://mind-foundation.org/ (Zugegriffen am 04.06.2019).
Literatur
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Feustel, R., Schmidt-Semisch, H. (2020). Droge. In: , et al. Handbuch Sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26593-9_109-1
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