Zusammenfassung
Der Wohlfahrtstaat umfasst eine Vielzahl von staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen, die vielfältige Leistungen erbringen. Dies betrifft die finanzielle Absicherung von Risiken und Unterstützung von Bedürftigen, aber auch die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen. Bezugspunkt sozialstaatlichen Handelns sind stets soziale Probleme, die die beteiligten Akteure (mit-)definieren, bearbeiten und zu lösen versuchen. In diesem Beitrag stellen wir den Wohlfahrtsstaat als ein komplexes Gebilde unter dem Gesichtspunkt der Integration (in) einer differenzierten Gesellschaft mit kapitalistischer Wirtschaft und demokratischem politischem System dar. Integration ist dabei einerseits als gesellschaftliche Teilhabe Einzelner (Sozialintegration) und andererseits als Zusammenhalt gesellschaftlicher Teilsysteme (Systemintegration) zu verstehen.
Zunächst werden theoretisch-begriffliche Konzepte, die Integration im und durch den Wohlfahrtsstaat analysieren, erörtert. Danach stellen wir Länder vergleichende Perspektiven der Wohlfahrtsstaatsforschung vor und erläutern vor diesem Hintergrund anschließend die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in Deutschland. In einem vierten Schritt beziehen wir die Frage der Integration im und durch den Wohlfahrtstaat auf die Frage der Migration. Abschließend gehen wir auf einige Probleme der Integration und Entwicklung im deutschen Sozialstaat ein.
Notes
- 1.
In Deutschland spricht man in der Regel und in Abgrenzung zu Ausgestaltungen, die als „Wohlfahrtsstaat“ (z. B. in Schweden oder in Großbritannien nach dem 2. Weltkrieg) bezeichnet werden, vom „Sozialstaat“. Wir benutzen in diesem Beitrag beide Begriffe, ohne damit eine politische Abgrenzung zu implizieren.
- 2.
„The core of a society, as a system, is the patterned normative order through which the life of a population is collectively organized. As an order, it contains values and differentiated and particularized norms and rules, all of which require cultural references in order to be meaningful and legitimate. As a collectivity, it displays a patterned conception of membership which distinguishes between those individuals who do and do not belong.“ (Parsons 1966, S. 10).
- 3.
Ein Beispiel für diese Wandlungsprozesse ist das Vereinigte Königreich, das nach dem 2. Weltkrieg durch die Labour-Regierung von Clemens Attlee einen universalen Wohlfahrtsstaat (Brown 2013; Kaufmann 2003, S. 14.) entwickelte, der ab den 1970er-Jahren unter Margret Thatcher wieder zu einem liberalen Wohlfahrtsstaat umgebaut wurde. Mit dem National Health Service existiert allerdings immer noch ein staatlich finanziertes universales Gesundheitswesen.
- 4.
Eine Heuristik zur Analyse der Schnittstellen und deren Bearbeitung im komplexen Mehrebenensystem des deutschen Sozialstaats entwickeln Stöbe-Blossey u.a. (2019).
- 5.
Gabriel und Reuter weisen darauf hin, dass Spannungen durch (u. a. konfessionell geprägte) unterschiedliche Verständnisse von Solidarität begründet seien: Während sie im Protestantismus eher als universale Brüderlichkeit konzipiert werde, basiere Solidarität im Katholizismus eher auf partikularer Gemeinschaftlichkeit (Gabriel und Reuter 2013, S. 115).
- 6.
Seit 2007 besteht eine allgemeine Krankenversicherungspflicht.
- 7.
Den chronischen Charakter der Krise diagnostizieren Borchert und Lessenich in ihrer Relektüre von Claus Offes Theorie des spätkapitalistischen Wohlfahrtsstaats: Chronisch sei die Krise, da die innere Widersprüchlichkeit der Konstellation von Kapitalismus, Demokratie und Wohlfahrtstaat nicht aufhebbar ist (vgl. Borchert und Lessenich 2004; Offe 1972).
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Sammet, K., Steffens, T. (2020). Gesellschaftliche Integration im und durch den Wohlfahrtsstaat. In: Pickel, G., Decker, O., Kailitz, S., Röder, A., Schulze Wessel, J. (eds) Handbuch Integration. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21570-5_70-1
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