Zusammenfassung
Mit dem Ziel, Praktiken sichtbar zu machen und sie als situierte Praktiken zu untersuchen, ist unter dem Begriff „Kamera-Ethnografie“ in den vergangenen 15 Jahren ein eigenständiges Profil visueller Ethnografie entwickelt worden. Die Forschungsprozesse selbst werden dabei mit filmischen Mitteln gestaltet und schließlich als ethnografische Erfahrung des Hinschauens und Sehenlernens im Rahmen einer zeigenden Ethnografie kommuniziert. Grundzüge der Kamera-Ethnografie werden in vier Teilen vorgestellt: „Blickschneisen: Filmen als Hinschauen“; „Dynamik: Forschen durch situierte Methodologie“; „Schnittstellen: Schneiden als Versuchen“; „ Visuelle Analytik: Zeigende Ethnografie im Modus des Arrangements“.
Notes
- 1.
Neben dem Buch „Filming Culture: Spielarten des Dokumentierens nach der Repräsentationskrise“ (Mohn 2002) liegen eine Reihe einführender Texte zur Kamera-Ethnographie vor, die unterschiedlich akzentuiert sind: Forschung mit der Kamera (Mohn und Amann 1998); Vom Blickentwurf zur Denkbewegung (Mohn 2007); Die Kunst des dichten Zeigens (Mohn 2008a); Im Denkstilvergleich entstanden (Mohn 2008b); Zwischen Blicken und Worten (Mohn 2010); Methodologie des forschenden Blicks (Mohn 2011a); Differenzen zeigender Ethnographie (Mohn 2013). Siehe auch: http://www.kamera-ethnographie.de.
- 2.
Vom „Dokumentieren“ (Mohn 2002, 2011a) zu sprechen und nicht vom „Dokumentarischen“ (Lipp 2012) macht den entscheidenden Unterschied aus zwischen einer Orientierung an Forschungsprozessen und ihren Praktiken oder an Dokumentarfilmen und ihren narrativen Strukturen. Dies gilt ebenso für die von Nichols (2001) vorgeschlagene Typologisierung des Dokumentarfilms in poetische, erklärende, beobachtende, partizipative, reflexive oder performative Filme.
- 3.
Im Rahmen des Forschungsprojekts Frühe Kindheit und Smartphone (Jutta Wiesemann) des SFB Medien der Kooperation (2016–2019, Universität Siegen) führen Bina E. Mohn (Kamera-Ethnographin), Pip Hare (Visuelle Anthropologin) und Astrid Vogelpohl (Multimedia-Pädagogin) eine kollaborative Kamera-Ethnographie durch: Sie forschen und filmen in Familien mit 0- bis 6-jährigen Kindern, tragen ihre Filmminiaturen zusammen und bauen daraus vergleichende analytische Arrangements, so auch das Wordless Language Game 01: Frühe Kindheit digital im Rahmen der Ausstellung „Das bist Du!“ Frühe Kindheit digital (Leitung: Mohn und Wiesemann. Siegerlandmuseum Siegen. 27.09.2018 bis 01.06.2019).
Literatur
Texte
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Mohn, Bina Elisabeth. 2011b. Das Beobachten beobachten – Notizen aus dem Laboratorium. In Theater von Anfang an! Reflexionen und Positionen für die Praxis, Arbeitsheft 5 der Schriftenreihe des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der BRD. Hrsg. Gabi dan Droste und Christel Hoffmann, 50–54. Frankfurt a. M./Berlin.
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Mohn, Bina Elisabeth, und Klaus Amann. 1998. Forschung mit der Kamera. In Anthropolitan Visuelle Anthropologie, Hrsg. Mitteilungsblatt der GeFKA, Bd. 6, 4–20. Frankfurt a. M.
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Pichler, Alois. 2004. Wittgensteins Philosophische Untersuchungen. Vom Buch zum Album. Amsterdam/New York: Editions Rodopi.
Streeck, Jürgen. 2017. Self-making man: A day of action, life, and language. New York: Cambridge University Press.
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Voss, Gabriele. 2000. Ins Offene – Dokumentarisch Arbeiten 2, Texte zum Dokumentarfilm, Bd. 7. Berlin: Vorwerk 8.
Wittgenstein, Ludwig. 1989–1993. Philosophische Untersuchungen (1949–1950). In Werkausgabe in 8 Bde, Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Installationen und Video-DVDs (Auswahl)
Ehmann, Antje, und Carles Guerra. 2017. Harun Farocki Retrospektive. Mit anderen Mitteln – By other means. Austellung vom 14.09.2017 – 28.01.2018, n.b.k. Berlin.
Farocki, Harun. 1995. Schnittstelle (Installation für zwei Monitore, 23 Min.) Produktion Musée Moderne d’art de Villeneuve d’Ascq, Harun Farocki Filmproduktion, Berlin.
Hare, Pip, Bina Mohn, und Astrid Vogelpohl. 2018. Wordless Language Game 01: Frühe Kindheit digital (interaktive Sortierung von Filmfragmenten auf Tablets). In Ausstellung „Das bist Du!“ Frühe Kindheit digital, Hrsg. Bina Mohn und Jutta Wiesemann, 26.09.2018 – 06.01.2019, Siegerlandmuseum, Siegen.
Mohn, Bina Elisabeth, und Klaus Amann. 2006. DVD Lernkörper. Kamera-ethnografische Studien zum Schülerjob. Göttingen: IVE Institut für Visuelle Ethnographie.
Mohn, Bina Elisabeth, und Georg Breidenstein. 2013. DVD Arbeitswelten in der Grundschule: Praktiken der Individualisierung von Unterricht. Reihe kamera-ethnografische Studien. Göttingen: IVE Institut für Visuelle Ethnographie.
Mohn, Bina Elisabeth, und Geesche Wartemann. 2009. DVD Wechselspiele im Experimentierfeld Kindertheater. Reihe kamera-ethnografische Studien. Göttingen: IVE Institut für Visuelle Ethnographie.
Weitere Publikationen: siehe http://www.kamera-ethnographie.de
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Mohn, B.E. (2019). Kamera-Ethnographie. In: Geimer, A., Heinze, C., Winter, R. (eds) Handbuch Filmsoziologie. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10947-9_69-2
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Kamera-Ethnographie- Published:
- 31 January 2019
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-10947-9_69-2
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Original
Kamera-Ethnographie- Published:
- 07 September 2018
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-10947-9_69-1