Skip to main content

Grundlagen der Archivrecherche in der Soziologiegeschichte

  • Living reference work entry
  • First Online:
Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie

Part of the book series: Springer Reference Sozialwissenschaften ((SRS))

  • 166 Accesses

Zusammenfassung

Die herkömmliche Soziologiegeschichtsschreibung beruht vornehmlich auf Material, das in Bücherdepots zugänglich ist und das Merkmal aufweist, in mehr als einer Kopie zugänglich zu sein. Die Resultate dieser Art zu forschen gehören selbst wieder zur Bibliotheksforschung. Nicht-gedruckte schriftliche Informationen, also Unikate, lagern in anderen Wissens- bzw. Datendepots, die von Soziologiehistorikern und Wissenschaftssoziologinnen bislang eher selten und unsystematisch benutzt wurden: Staatliche und andere Archive und deren Bestände werden von ihnen selten aufgesucht. Was dort lagert sind sogenannte „prozessproduzierte“ Daten (oft zeitnah produzierte Dokumente, die zu noch nicht abgeschlossenen Entwicklungen gehören), die gerade für die Rekonstruktion von Vergangenem von großem Nutzen sein können. Archive unterscheiden sich untereinander danach, wer das Archiv gründete und wessen überlieferte Bestände es verwaltet. Soziologinnen und Soziologen, die in Archiven lagernde Quellen als Daten nutzen wollen, treffen dort auf Historiker, mit deren spezifischen Gepflogenheiten sie selten vertraut sind. Archivare, die zumeist als Historiker ausgebildet wurden und sich als solche verstehen, üben die gate keeper Funktion aus, stehen also zwischen dem Material und dem Benutzer. Nicht als Historiker sozialisierte Benutzer von Archiven sollten einige seiner Eigentümlichkeiten beachten, die hier geschildert werden.

Ich danke Dirk Kaesler und Wolfgang L. Reiter für nützliche Hinweise, sowie Albert Müller und Mario Wimmer für kritische Kommentare zu einer früheren Version. Für alle Fehler ist allein der Verfasser verantwortlich.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Zu den Besonderheiten von „library research“ s. Abbott (2011) und (2014), sowie Mann (2015).

  2. 2.

    Die folgenden Ausführungen beruhen empirisch großteils auf eigenen Erfahrungen mit Archiven und gelten daher möglicherweise nicht für jene Einrichtungen, die ich nicht kennengelernt habe. Alle von mir jemals konsultierten Archive hier aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen und die Frage der Verallgemeinerbarkeit der Aussagen dennoch nicht voranbringen. Angesichts einiger im Folgenden gemachter kritischer Bemerkungen möchte ich allerdings betonen, dass die weitaus überwiegende Zahl meiner Archivkontakte und -besuche zu meiner allergrößten Zufriedenheit ausfiel. Da sich diese Erfahrungen über mehrere Jahrzehnte erstrecken, ist es durchaus wahrscheinlich, dass jene wenigen Archive, mit denen ich unbefriedigende Erfahrungen machte, mittlerweile eine andere Politik verfolgen; allein schon deswegen verzichte ich weitgehend auf die Nennung von Namen von einzelnen Archiven.

  3. 3.

    Hier und im Folgenden führe ich en passant die Sprache der Archive ein. Für jene, die basalen Erklärungsbedarf haben, verweise ich auf Wimmer (2012b) und das „Kleine Archiveinmaleins“ des Österreichischen Staatsarchivs, http://www.oesta.gv.at/site/4936/default.aspx.

  4. 4.

    Das Museum Marienthal in Grammatneusiedl bei Wien http://agso.uni-graz.at/museum_marienthal/index.htm ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt; nicht verschwiegen sei, dass (Wissenschafts- und Universitäts-) Archive oftmals auch Wechselausstellungen ausrichten.

  5. 5.

    Den Gründungsbestand dieser 1921 gegründeten Bibliothek bildeten die Privatbibliotheken führender Sozialdemokraten und des Kathedersozialisten Anton Menger. 1938 wurden die Bestände durch die Nazis nach Berlin verbracht und in der Folge zerstreut bzw. zerstört.

  6. 6.

    Vgl. zu den Unterschieden zwischen historischer und soziologischer Forschungspraxis Fleck und Müller (1997).

  7. 7.

    Ich sehe davon ab, hier im Detail zu begründen, warum mir die genannten Wahrnehmungsformen genügen, weiß aber, dass nicht nur Esoteriker der Auffassung anhängen, Glauben, Fühlen, Erinnern und manch anderes zähle auch zu den Wegen des Erkennens. Im WWW geistern unter der Überschrift ‚Ways of Knowing‘ andere Formen der Gewinnung von Erkenntnis herum: Emotion, Faith, Imagination, Intuition, Language, Memory, Reason und Sense Perception, die helfen sollen „TOK [theory of knowledge] students around the world to read between the lines“ http://www.theoryofknowledge.net/ways-of-knowing/. Da mir schon das Lesen und Verstehen dessen, was auf den Linien steht, schwierig genug erscheint, verzichte ich hier darauf, Hinweisen zu folgen, die die Entzifferung dessen, was sich dazwischen befindet, zu optimieren versprechen.

  8. 8.

    Howard S. Becker (2008) diskutiert ausführlich die Frage, was eine Zahl Bilder denn zu einer (Kunst-) Sammlung mache; seine Ideen ließen sich unschwer auf Papiere sammelnde Archive übertragen, wogegen nur spricht, dass derartige Artefakte im Gegensatz zu Bildern selten außerhalb von Archiven überleben.

  9. 9.

    Zu weiterführenden Überlegungen eines Historikers über die Folgen variabler Überlieferungswahrscheinlichkeit s. Esch (1985).

  10. 10.

    Als Beispiel dafür s. Österreichisches Staatsarchiv, Benutzerordnung, III. 3, http://www.oesta.gv.at/site/4940/default.aspx.

  11. 11.

    Auch die ehemals in DDR-Archiven lagernden Teile sind nicht viel umfangreicher und detaillierter.

  12. 12.

    Der jahrelange Zwist zwischen den Kindern Niklas Luhmanns illustriert, wie leicht ein Testamentsverfasser Konfusion erzeugen kann. Der juristisch versierte Soziologe hinterließ den „Hausrat“ zu gleichen Teilen seinen drei Kindern und setzte die Tochter als Erbin des Nachlasses ein. Um den legendären Zettelkasten wurde dann zwischen den Geschwistern jahrelang prozessiert: war dieser Hausrat oder nicht? Mit der Digitalisierung des (Inhalts des) Zettelkastens wurde mittlerweile begonnen, s. http://www.uni-bielefeld.de/soz/luhmann-archiv/.

  13. 13.

    Das Integrated Public Use Microdata Series, International (IPUMS international) Projekt des Minnesota Population Center sammelt seit Jahren Urdaten von Volkszählungen weltweit und bereit diese für Sekundäranalysen auf; die historische Tiefe liegt bei rund einem halben Jahrhundert, das heißt es sind Mikrodaten ab ca. 1970 vorhanden, https://international.ipums.org/international/release_dates.shtml. Die US-amerikanischen Volkszählungsdaten stehen weiter zurückreichend, nämlich bis 1850, zur Verfügung.

  14. 14.

    http://www.nobelprize.org/nomination/archive/show.php?id=7847 und http://www.nobelprize.org/nomination/archive/show.php?id=6093.

  15. 15.

    Die wissenschaftliche Arbeitsteilung führt dazu, dass wissenschaftliche Debatten über Informationsfreiheit und über Archivsperre in unterschiedlichen Disziplinen beheimatet sind.

  16. 16.

    Mündliche Auskunft eines Archivmitarbeiters Anfang der 1980er-Jahre über meine Anfrage bezüglichen Akten über die Tätigkeit von Partisanen bei Kriegsende 1945 in der Steiermark, vgl. Fleck (1986); für weitere zeitgenössische Beispiele s. Fleck (1984).

  17. 17.

    Für eine eingehende Diskussion von running records und non reactivity s. Webb et al. (1966). Vgl. zu prozessproduzierten Daten auch den Beitrag von Tilo Grenz „Spuren der Soziologiegeschichte: Prozessorientierte Analysen kommunikativer Wissenskulturen“ in diesem Band.

  18. 18.

    Absolventen werden zu Mitgliedern des Instituts ernannt und erhalten eine seit 1855 fortlaufende Mitgliedsnummer, 2014 hatte das IÖG es auf bislang 963 ordentliche Mitglieder gebracht http://www.geschichtsforschung.ac.at/sites/default/files/Leistungsbericht%202014.pdf.

  19. 19.

    Auf der Website des Österreichischen Staatsarchivs findet man ein „Kleines Archiveinmaleins“, wo auch darauf verwiesen wird, dass jemand, der die Quellen „zum Sprechen bringen“ will, gut tut über „gewisse historische und hilfswissenschaftliche Grundkenntnisse und eine Vertrautheit mit archivwissenschaftlichen Basisbegriffen“ zu verfügen. http://www.oesta.gv.at/site/4936/default.aspx.

  20. 20.

    Man kann sich genauso gut und produktiv mit anderen Archivbenutzern unterhalten oder in vielen Archiven dessen Bibliothek nutzen.

  21. 21.

    Man sollte bedenken, dass in periphereren Archiven Dinge erhalten bleiben können, die in der Zentrale aus Platzgründen skartiert wurden.

  22. 22.

    Ähnlich wurde 1949 ein Deutsches Institut für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit (ab 1952 Institut für Zeitgeschichte München) gegründet, das die Akten der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse übernahm und bearbeitete.

  23. 23.

    Alle hier genannten Archive betreiben ausführliche Web Seiten, deren URLs leicht gefunden werden können, weshalb auf ihre Anführung hier verzichtet wird.

  24. 24.

    Die Website 50 Klassiker der Soziologie berichtet für jede/n der dort angeführt auch, ob ein Nachlass erhalten geblieben ist (leider ohne Aktualisierung): http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/00cont/00_ins.htm.

  25. 25.

    Ebenfalls hilfreich ist ArchiveGrid <https://beta.worldcat.org/archivegrid/>, eine Art virtuellem Meta-Katalog US-amerikanischer Archivbestände.

  26. 26.

    Interessenten können das im Verbundkatalog des Österreichischen Bibliothekenverbundes unter „Nachlässe & Handschriften“ einsehen.

  27. 27.

    In Interviews erklärte Luhmann seine bemerkenswerte Produktivität mit der Existenz seines Zettelkastens, der eigentlich die Bücher von alleine schreibe, Luhmann et al. (1987), S. 141–2.

Literatur

  • Abbott, Andrew. 2011. Library research infrastructure for humanistic and social scientific scholarship in America in the twentieth century. In Social knowledge in the making, Hrsg. Charles Camic, Michèle Lamont und Neil Gross, 43–87. Chicago: University of Chicago Press.

    Google Scholar 

  • Abbott, Andrew. 2014. Digital paper: A manual for research and writing with library and internet materials. Chicago: The University of Chicago Press.

    Book  Google Scholar 

  • Amerbauer, Martin. 2003. Das Informationswesen in Österreich und im Ausland: Skriptum im Rahmn der Grundausbildung „Bibliotheks-, Informations- und Dokumentationsdienst“. http://www.amerbauer.info/download/univ/BIBL2003.pdf. Zugegriffen am 14.02.2016.

  • Becker, Howard S. 2008. Art worlds: 25th anniversary edition. Berkeley: University of California Press.

    Google Scholar 

  • Eckert, Astrid M. 2010. Archivar. In Von der Arbeit des Historikers: Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft; [für Peter Schöttler zum 60. Geburtstag], Hrsg. Anne Kwaschik und Mario Wimmer, 21–25. Bielefeld: Transcript.

    Google Scholar 

  • Esch, Arnold. 1985. Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers. Historische Zeitschrift 240:529–570.

    Google Scholar 

  • Eskildsen, Kasper R. 2008. Leopold ranke’s archival turn: Location and evidence in modern historiography. Modern Intellectual History 5(3): 425–453.

    Google Scholar 

  • Fleck, Christian. 1984. Datenschutz – Behinderung der Wissenschaften? Die Zukunft 6:28–30.

    Google Scholar 

  • Fleck, Christian. 1986. Koralmpartisanen: Über abweichende Karrieren politisch motivierter Widerstandskämpfer. Wien: Böhlau.

    Google Scholar 

  • Fleck, Christian, und Albert Müller. 1997. Daten und Quellen. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8:101–126.

    Google Scholar 

  • Freud, Sigmund. 1938. Erklärung: BBC Broadcast Recording 1938. deutsch und englisch. http://www.oesterreich-am-wort.at/treffer/atom/014F3D71-123-001E6-00000D5C-014E5066/. Zugegriffen am 14.02.2016.

  • König, Thomas. 2012. Die Entstehung eines Gesetzes: Österreichische Hochschulpolitik in den 1950er Jahren. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23(2012):57–81.

    Google Scholar 

  • Luhmann, Niklas, Dirk Baecker, und Georg Stanitzek. 1987. Archimedes und wir: Interviews. Berlin: Merve Verlag.

    Google Scholar 

  • Mann, Thomas. 2015. The Oxford guide to library research, 4. Aufl. New York: Oxford University Press.

    Google Scholar 

  • Melichar, Peter. 2007. Tote und lebendige Archive. Ein Begriff, seine Verwendungen und Funktionen. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 18:129–144.

    Google Scholar 

  • Merton, Robert K., und Elinor G. Barber. 2004. The travels and adventures of serendipity: A study in sociological semantics and the sociology of science. Princeton: Princeton University Press.

    Google Scholar 

  • Merton, Robert K. 1942 A Note on Science and Democracy. Journal of Legal and Political Sociology 1(1–2): 115–26; unter dem Titel “Science and Democratic Social Structure” wieder abgedruckt in: Social Theory and Social Structure. 2nd, revised and enlarged edition, Glencoe, Ill.: Free Press 1957, 550–61.

    Google Scholar 

  • Morgenstern, Oskar. 2015. Tagebuch. Digitale Edition: 1917 bis 1977. http://gams.uni-graz.at/context:ome. Zugegriffen am 14.02.2016.

  • Myrdal, Gunnar. 1962. An American dilemma: The Negro problem and modern democracy. New York: Harper & Row.

    Book  Google Scholar 

  • Savage, Mike. 2010. Identities and social change in Britain since 1940: The politics of method. Oxford: Oxford University Press.

    Book  Google Scholar 

  • Schöggl-Ernst, Elisabeth. 2010. Archiv und Recht: Österreichische Archivgesetzgebung und der Zugang zum Archivgut. Atlanti 20:93–105. http://www.iias-trieste-maribor.eu/fileadmin/atti/2010/Schoggl.pdf. Zugegriffen am 14.02.2016.

  • Webb, Eugene J., et al. 1966. Unobtrusive measures: Nonreactive research in the social sciences. Chicago: Rand McNally.

    Google Scholar 

  • Wimmer, Mario. 2012a. Archivkörper: Eine Geschichte historischer Einbildungskraft. Konstanz: Konstanz University Press.

    Google Scholar 

  • Wimmer, Mario. 2012b. Der Geschmack des Archivs und der historische Sinn. Historische Anthropologie 20(1): 90–107.

    Article  Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Christian Fleck .

Editor information

Editors and Affiliations

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2016 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH

About this entry

Cite this entry

Fleck, C. (2016). Grundlagen der Archivrecherche in der Soziologiegeschichte. In: Moebius, S., Ploder, A. (eds) Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-07999-4_11-1

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-07999-4_11-1

  • Received:

  • Accepted:

  • Published:

  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Online ISBN: 978-3-658-07999-4

  • eBook Packages: Springer Referenz Sozialwissenschaften und Recht

Publish with us

Policies and ethics