Zusammenfassung
40 Jahre nach der Geburt des ersten Kindes nach IVF ist die Reproduktionsmedizin zu einem Standardverfahren geworden. Dennoch ist der „unerfüllte Kinderwunsch“ weiterhin in mehrerlei Hinsicht ein sperriger Gegenstand für die Medizin, nicht zuletzt, weil er nur unzureichend als Krankheit definiert werden kann. Der vorliegende Text thematisiert sowohl die Normalisierung der Reproduktionsmedizin als auch die Regulierung und diskursive Verhandlung als gesellschaftspolitische und stellt diese in den Kontext aktueller Entwicklungen.
Schlüsselwörter
- Gender
- IVF
- Medikalisierung
- Reproduktionsmedizin
- Ungleichheit
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Notes
- 1.
Das deutsche IVF-Register (DIR) ist eine Einrichtung verschiedener medizinischer Fachgesellschaften und erfasst seit 1992 die Mehrzahl der reproduktionsmedizinischen Einrichtungen in Deutschland, vgl. Fußnote 9.
- 2.
Eng verknüpft ist die „Erfolgsgeschichte“ der Reproduktionsmedizin mit der Entwicklung und Ausweitung genetischer Diagnostik wie etwa der Pränatal- bzw. nun auch Präimplantationsdiagnostik (vgl. etwa Kuhlmann 2010). Dieser Aspekt bleibt im Folgenden mit dem gewählten Fokus auf die Versorgungspraxis weitgehend unberücksichtigt.
- 3.
Wischmann (2008) kann in einem Überblicksartikel zeigen, dass die psychische, motorische und soziale Entwicklung von Kindern, die mit einem reproduktionsmedizinischen Verfahren gezeugt wurden – sofern sie nicht Mehrlinge sind – und auch die Beziehung zu den Eltern im Vergleich zu spontan gezeugten Kindern kaum Unterschiede aufweisen.
- 4.
International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems bzw. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, hierin v. a. ICD-10 GM N00-N99.
- 5.
Über entsprechende Anträge nichtverheirateter Paare entscheiden die Landesärztekammern.
- 6.
Vgl. bspw. http://www.kinderwunsch-tschechien.de/preisliste.htm. Zugegriffen am 01.12.2015.
- 7.
Für einen Überblick zum „Gender-Bias des Gesundheitsversorgungssystems“ und weiteren Facetten von Geschlecht als Dimension gesundheitlicher Ungleichheit vgl. Kuhlmann und Kollek 2010 sowie Pauli und Hornberg 2010.
- 8.
Zur Bedeutung und Verhandlung von Samenspenden und somit auch Männlichkeiten im Feld der Reproduktionsmedizin siehe auch die Beiträge in Knecht et al. 2010.
- 9.
Wie im Falle des DIRs werden die Daten von den behandelnden Zentren selbst erhoben, unabhängige Daten liegen m.W. nicht vor (vgl. Fußnote 1).
- 10.
Auch andere Zentren führen diese Verfahren durch, hierzu liegen aber keine Zahlen vor.
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Ullrich, C. (2016). Kinderwunschbehandlung als entgrenzte Medizin?. In: Jungbauer-Gans, M., Kriwy, P. (eds) Handbuch Gesundheitssoziologie. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-06477-8_42-1
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