Im Frühjahr 2021 erschien in zwei großformatigen Bänden die „Oxford World History of Empire“.Footnote 1 Wer geglaubt haben mochte, die Imperienforschung sei ein Stiefkind der Geschichtswissenschaft, wurde spätestens jetzt eines Besseren belehrt. Endlich gibt es ein Werk, das ein Dream-Team von 64 erstrangigen Autorinnen und Autoren versammelt, in vielen Fällen die Koryphäen auf ihrem jeweiligen Gebiet. In fürstlicher Luxusausstattung und mit einem entsprechenden Verkaufspreis versehen, ist die „Oxford History“ (wie sie fortan in diesem Text genannt wird) ihres Gegenstandes allein schon äußerlich würdig. Oxford University Press zieht nun gegenüber der Verlagskonkurrenz aus Cambridge nach, die über die letzten Jahrzehnte hinweg in ihren zahlreichen „Cambridge Histories“ – zu Afrika, Lateinamerika, China, Südostasien, der islamischen Welt, Australien, den „Native Peoples of the Americas“, auch zu den systematischen Themen Sklaverei, Kapitalismus und Gewalt, schließlich in einer neunbändigen „Cambridge World History“ – bereits eine unendliche Fülle von beschreibendem und analytischem Material über die meisten Imperien der Geschichte vorgelegt hat.Footnote 2

Die Publikation der „Oxford History“ mit ihren 1.870 Seiten ist Anlass dieses Aufsatzes. Er hat zum Ziel, die historiografische Landschaft, in der die beiden Bände nun als zentrale Hegemonialmacht thronen, in groben Zügen zu skizzieren. An einen auch nur annähernd vollständigen Literaturbericht ist dabei nicht gedacht. Die Übersicht wird sich auf die allgemeine und vergleichende Imperienforschung beschränken, ohne in die ungeheuer reiche Forschung zu einzelnen Imperien einzudringen, auf denen Synthesen wie die „Oxford History“ beruhen müssen. Auch werden manche Themen, die im Schnittbereich der Geschichtswissenschaft und einiger ihrer Nachbardisziplinen angesiedelt sind, nur am Rande gestreift. Dazu gehört die heute viel diskutierte „Interimperialität“, die zunächst ein literaturwissenschaftliches Konzept gewesen ist.Footnote 3 Auch übergehe ich die oft gestellte Frage, ob Imperienforschung heute notwendigerweise von „postkolonialen“ Voraussetzungen ausgehen muss. De facto tut sie es nicht. Postkoloniale Ansätze, die sich selbst wiederum in mehrere Richtungen ausdifferenzieren, sind einflussreich, ohne das Feld konkurrenzlos zu dominieren.

Der Beitrag wird zunächst allgemeine Beobachtungen zur neueren Imperienliteratur anstellen, sodann die wichtigsten Ansätze zu Imperientheorie und Imperienanalyse skizzieren. Vor diesem Hintergrund wird eine Einordnung und Kritik der „Oxford History“ unternommen. Abschließend wird ein kurzer Blick auf den ebenfalls 2021 erschienenen Sammelband „The Limits of Universal Rule. Eurasian Empires Compared“Footnote 4 geworfen, der sich als Aufbruch zu einer neuen „Imperiologie“ präsentiert.

1 Drei allgemeine Beobachtungen zur Literatur über Imperien

Das Erste, was auffällt, wenn man sich der neuesten Imperienliteratur aus großem Abstand nähert, ist das nahezu völlige Fehlen des Themas „Imperialismus“ – nach der russischen Aggression gegen die Ukraine im Februar 2022 eine besonders auffällige Leerstelle. Ein Rückblick: In den 1960er und 1970er Jahren verschwanden die Imperien hinter dem Imperialismus. Bücher von Hans-Ulrich Wehler und Dietrich Geyer, von David K. Fieldhouse und Jacques Marseille fragten nach den Triebkräften des aggressiven Ausgreifens der europäischen Großmächte in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg.Footnote 5 Weit über die Alte Geschichte hinaus setzte 1976 das Buch eines Außenseiters aus den strategic studies, Edward Luttwak, das Thema des römischen Imperialismus auf die Tagesordnung.Footnote 6 Peter Cains und A. G. Hopkins’ Neuinterpretation der britischen Reichsbildung seit dem 17. Jahrhundert war 1993 das letzte aufsehenerregende Werk dieser Art.Footnote 7 Die Strukturen einigermaßen stabiler Imperien außerhalb der Eroberungsphasen und das Leben in diesen Imperien fanden demgegenüber relativ wenig Interesse. Es gab Forschungen zu einzelnen Kolonien, doch ein Band wie die vorzügliche Sammlung „Le concept d’empire“, die der Politikwissenschaftler Maurice Duverger und die Byzantinistin Hélène Ahrweiler 1980 herausgaben, stand damals allein.Footnote 8

Als späte Folge der Fischer-Kontroverse um die Ursachen des Ersten Weltkriegs, angetrieben durch die Wiederentdeckung der linksliberalen und marxistischen Imperialismustheorien der Jahre kurz vor 1914 und zeitgenössisch angespornt durch die US-amerikanische Aggressivität im Vietnamkrieg, drehten sich hitzige Debatten um die Antriebskräfte der europäischen Welteroberung: Waren sozioökonomische Sachzwänge im Spiel, psychologische Dispositionen aggressiver Eliten, ein manipulierter populistischer Jingoismus oder einfach nur kurzfristige Realpolitik in einem instabilen Großmächtesystem? Welche Rolle spielten Akteure in den kolonisierten außereuropäischen Gesellschaften? Gab es vielleicht außer den Push-Faktoren in den Metropolen auch Pull-Bewegungen an der ‚Peripherie‘? Diese Fragen wurden keineswegs abschließend beantwortet und bleiben auch aus heutiger Sicht relevant.Footnote 9

Doch das Interesse am Thema „Imperialismus“ erlosch. Am ehesten hielt es sich, wenn es um die Weltpolitik der USA ging. Die USA hatten nie ein nennenswertes Territorialreich, betrieben aber im 20. Jahrhundert eine weltweite Expansionspolitik, die vielfach als imperialistisch bezeichnet und kritisiert worden ist. Diese Debatte hat A. G. Hopkins vor einigen Jahren ausführlich und vielleicht auf längere Sicht gültig resümiert und durch eigene Forschungen bereichert, allerdings unter einem charakteristischerweise zeitgemäßen Titel: „American Empire. A Global History“.Footnote 10 Ein Werk des Übergangs von „Imperialismus“ zu „Imperien“, im Jahrzehnt nach dem Abschluss der Dekolonisation erschienen, war Wolfgang Reinhards vierbändige „Geschichte der europäischen Expansion“.Footnote 11 Ihm lag ein weltgeschichtlicher, um die darstellerische Balance zwischen Metropolen und Peripherien bemühter Ansatz zugrunde. Der Begriff der „Expansion“ gilt heute als antiquiert, weil einseitig und „eurozentrisch“. Das muss er aber gar nicht sein (und war es auch bei Reinhard nicht). Er umfasst sowohl den Prozess der „Unterwerfung der Welt“ – wie der Titel der revidierten Zusammenführung der vier Bände 2016 lautetFootnote 12 – als auch die Resultate dieses Prozesses. Auch impliziert der Ausdruck keine analytische oder gar wertende Privilegierung der ‚Täter‘ und kann neutral auf Imperien aller Art angewendet werden („Mongol expansion“, und so weiter). Man muss mit einem gewissen Bedauern konstatieren, dass er aus der Mode gekommen ist.

Imperialismus spielt auch in der „Oxford History“ nur eine kleine Nebenrolle; das Verhältnis zwischen Imperium und Imperialismus wird nicht geklärt. Das Werk teilt die mehr oder weniger unausgesprochene Grundannahme der neueren Imperiumsliteratur, dass ein Imperium ein abgrenzbarer Herrschaftsraum sei, der sich am ehesten in statischen Momentaufnahmen oder in einem Prozess langfristiger Metamorphose beobachten lasse. Ein Imperium sei ein Gebilde, innerhalb dessen sich „Imperialität“ auslebe, das heißt ein gesellschaftlicher und kultureller Zustand, der sich von demjenigen in Nationalstaaten oder autonomen Stadtgemeinden charakteristisch unterscheide. So verstanden, interessiert an einem Imperium wenig, dass es als großer Machtstaat „imperialistisch“ auftritt, nicht selten als player in einem multi-imperialen System.Footnote 13 Lässt sich diese Trennung von „Imperium“ und „Imperialismus“ aufrechterhalten? Das internationale Agieren der beiden eurasischen Weltmächte Russland und China, so unterschiedlich es ist, erlaubt Zweifel. Dank Wladimir Putin und Xi Jinping werden wir auch in der „Geschichtsschreibung“ bald wieder von „Imperialismus“ hören.

Zudem entsteht dadurch ein gewisser Überwältigungseffekt, dass in der vormodernen Welt das Imperium gewissermaßen der politikgeschichtliche Normalfall und eine imperiale Semantik eine der wichtigsten Ausdrucksformen des Politischen war. Wenn man über Assur, das Imperium Romanum, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation oder den Herrschaftsbereich der russischen Zaren seit dem 16. Jahrhundert arbeitet (alles sehr unterschiedliche Ausprägungen von „Imperium“), lässt sich ein spezieller imperialer Aspekt nur schwer isolieren. Das Forschungsobjekt als solches trägt Reichscharakter. Auch wenn etwa die Partherkriege ein ‚imperialeres‘ Thema sind als die römische Familie, haben doch alle Aspekte Roms seit dem dritten Jahrhundert vor der Zeitrechnung irgendwie eine imperiale Bedeutungsfacette. Viele der Reiche, die in der weltgeschichtlichen Literatur auftauchen, sind daher einfach ‚nur‘ Reiche und nichts sonst. Man muss sie deshalb meist auch gar nicht von anderen Institutionstypen abgrenzen. Zum Beispiel stellt sich die für die Neuzeit charakteristische Frage des Verhältnisses von Imperium und Nationalstaat in all diesen Fällen nicht.Footnote 14 Wenn Weltgeschichte allerdings mit Imperiengeschichte tendenziell identisch wird, ergeben sich Differenzierungsaufgaben, die nicht dadurch gelöst werden, dass man einzelne Imperienporträts addiert. Wir werden sehen, dass die „Oxford History“ dazu neigt, dies zu tun.

Drittens hat das Thema „Imperien“ einen Nervenkitzeleffekt, eine Beziehung zur Gegenwart: es gilt als aktuell oder aktualisierbar. So weit es chronologisch zu den Anfängen komplexer Staatsbildung zurückreicht, so vertraut ist es doch der heutigen Welt. Selbst wer meint, das Zeitalter der Imperien sei vorüber, mag zweifelnd fragen, ob es nicht doch in anderer Form zurückkehren könne. Die Zusammenhänge zwischen imperialer und postimperialer Netzwerkbildung finden in vielen Zusammenhängen Aufmerksamkeit: Wie viel Imperiales steckt zum Beispiel in der „Globalisierung“?Footnote 15 Die imperiale Geschichte ist ein großes Reservoir für Analogien. Während der Ägide des amerikanischen Präsidenten George W. Bush fühlten sich viele an das triumphierende Imperium Romanum des Kaisers Trajan erinnert. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts drehten sich die Diskussionen um den Unilateralismus der USA und die Furcht oder Erwartung, sie würden eine Weltherrschaft nie gekannten Ausmaßes errichten. Heute geht es eher um die Beurteilung des Kolonialismus, um Russlands gewalttätige Machtpolitik und um den Wiederaufstieg Chinas in den Grenzen und im Stil einer vergangenen Kaiserzeit. Immer wieder enden auch übergreifende historische Betrachtungen über Imperien mit der Frage, ob die Europäische Union imperiumsähnliche Züge trage.Footnote 16 „Imperium“ ist auch deshalb ein alles andere als antiquarisches Thema, weil es in der Populärkultur bis hin zu Netflixserien und Computerspielen allgegenwärtig ist. Imperiale Symbolsprachen sind bis heute leicht verständlich und manipulierbar. Das Thema „Imperien“ ist alt und neu zugleich. Vielleicht deshalb fühlen sich nicht wenige, die sich damit beschäftigen, zu zeitdiagnostischen Kommentaren über die Gegenwart gedrängt.

2 Imperientheorie

Wahrscheinlich erkennt man ein Imperium, wenn man es in der historischen Überlieferung ‚sieht‘; dennoch sollte man Gründe und Kriterien angeben können. Deshalb ist die gesamte Literatur über Imperien ein großes Ringen um eine Definition. Die Erfahrung lehrt, dass die Suche nach einer Idealdefinition vergeblich ist, es aber auch wenig zufriedenstellen kann, definitorisch zu kapitulieren. „Theorie“ ist mehr als nur die Bildung von Idealtypen, die aber wiederum die Grundlage jeder Theorie darstellt. Es gibt bis heute keinen Bestand an Theorien des Imperiums, der den bekannten Theorien über den Imperialismus ebenbürtig an die Seite gestellt werden könnte.Footnote 17 Abgesehen von Bereichstheorien, die in der spezifischen Imperienforschung von Fall zu Fall instrumentell herangezogen werden (Beispiele wären Zeittheorien, demografische Modelle oder die theoretischen Werkzeuge der Archäologie), und metahistorischen EntwürfenFootnote 18, hat man es mit vier Theorietypen zu tun:

Erstens haben Zeitgenossen sich Gedanken über Imperien gemacht. Das ist oft imperiale Propaganda, manchmal aber auch die Äußerung von Kritik und Widerstand.Footnote 19 Eine besonders interessante Spielart solcher Eigentheorien, wie man sie nennen könnte, besteht im systematisierten Herrschaftswissen imperialer Praktiker, sozusagen der Gouverneursperspektive. All dieses Material, zu dem auch die Erinnerung an Imperien gehört, ist Stoff für die heutige Ideengeschichte, deren Ergebnisse wiederum in die besseren unter den imperialhistorischen Synthesen einfließen.

Zweitens wird mit Imperien zu Recht eine ganz besondere Reflexionsform assoziiert: Zyklentheorien von Aufstieg, Blüte und Fall, manchmal empirisch fundiert, manchmal eher im geschichtsphilosophisch-spekulativen Duktus vorgetragen, immer auf der Annahme beruhend, dass sich in der Geschichte Bewegungsgesetze erkennen lassen. Als wissenschaftlich diskutabel wird man heute nur solche Konzepte einstufen, die sich von der Vorstellung regelhafter Automatismen lösen und vor allem imperiale Untergänge – das ist die beliebteste Anwendungssituation solcher Ideen – mit spezifischen Erklärungsmodellen zu erfassen versuchen; darunter sind fiskalisch-militärische Überdehnung und ökologische Degradation heute besonders stark beachtete Faktoren.

Drittens hat man es mit etwas zu tun, das eher ein Forschungsparadigma als eine Theorie ist: der New Imperial History, deren Vorzüge Benedikt Stuchtey vor einigen Jahren umfassend und mit einer Fülle bibliografischer Belege dargelegt hat.Footnote 20 Sie ist heute nahezu unumstritten und wird allgemein praktiziert. Sofern es tatsächlich so etwas wie eine Old Imperial History jenseits durchschaubarer Apologetik gegeben hat, ist sie durch das jüngere Paradigma nicht weggefegt, sondern absorbiert worden. Es hat sich nicht bewährt, imperiale Geschichte ganz in Diskursen und Identitätsbildungen aufgehen zu lassen. Allein schon die politischen und militärischen Kämpfe der Befreiungsbewegungen sichern der Machtfrage selbst unter kulturalistischen Auspizien ein gewisses Interesse. Die eher allgemeinen Hinweise aus der New Imperial History, dass Gewalt bisher am Rande der herkömmlichen Geschichtsbilder geblieben sei (nicht unbedingt als Folge bewussten Verschweigens), sind in den letzten Jahren weithin unabhängig aus der Genozidforschung unterstützt worden. Dass in Stuchteys ausführlichem Literaturbericht die Wirtschaft, die in marxistischen und älteren liberalen Untersuchungen zu den neuzeitlichen Imperien, aber zunehmend auch für ältere Epochen bis zurück zur AntikeFootnote 21 ein absolut zentrales Thema war und ist, so gut wie gar nicht vorkommt, reflektiert die Prioritäten der New Imperial History. Das ist durchaus eine Verlustgeschichte und kann kaum vorbehaltlos als Errungenschaft der imperialen Applizierung des cultural turn begrüßt werden. Das Ökonomische zu übersehen, bedeutet, einen wesentlichen Antrieb aller Reichsbildung zu ignorieren. Die Aneignung von Ressourcen und die Unterwerfung ausbeutbarer Arbeitskräfte waren zu allen Epochen zwar nicht die einzigen, aber doch immer irgendwie bedeutsame Motive imperialer Expansion. Es bedeutet auch, den Blick davor zu verschließen, dass zum Erbe von Imperien und Kolonialismus nicht bloß rassistische Dispositionen und Verweigerung von kulturellem Respekt gehören, sondern höchst konkrete wirtschaftliche Verwerfungen, die im Rahmen fortdauernder Ungleichheiten in der Weltwirtschaft auch nach der Kolonialzeit nicht korrigiert worden sind.

Damit soll Folgendes gesagt sein: Die New Imperial History ist selbst keine Theorie, sondern ein Aufmerksamkeitskonsens, der steuert, welche Themen und welche Terminologien gegenüber anderen bevorzugt werden. Dies entspricht in der Wirkung ungefähr einem Paradigma à la Thomas S. Kuhn. Die New Imperial History, die heute nicht mehr so neu ist wie in den 1990er Jahren, zeigt – wie jeder profilierte Ansatz – bestimmte Einseitigkeiten. Sie kann deshalb nicht mit Imperienhistorie insgesamt gleichgesetzt werden. Während sie im frame des Imperiums außerordentlich differenzierte sozial- und kulturhistorische Forschungen ermöglicht hat, nicht zuletzt in den Perspektiven gender und race, kann sie aus sich heraus keine Definition von „Imperium“ hervorbringen und nichts dazu sagen, wie Imperien ‚funktionieren‘. Deshalb hat sie einen weiteren Theorietyp nicht überflüssig gemacht.

Denn, viertens, zeigen gerade Versuche, Imperien insgesamt – und nicht nur in einzelnen Aspekten und Subsystemen – zu vergleichen, dass Strukturtheorien von Imperien weiterhin benötigt werden, um Funktionszusammenhänge innerhalb von Reichsgebilden zu erfassen. So vermag die Problematisierungsperspektive der New Imperial History die Herausbildung konfligierender Identitäten innerhalb imperialer und kolonialer Gesellschaften sehr gut herauszuarbeiten, also Differenzierungen immer feinerer Granulierung vorzunehmen, aber sie kann wenig dazu sagen, (a) was Imperien zusammenhält (integriert) und in vielen Fällen sehr langlebig (resilient) gemacht hat, (b) wie sie auf internationaler Bühne agieren und wie (c) ihr jeweils spezifisches Ende zu erklären ist (wenn man sich nicht mit dem Verweis auf eine metaphysische Zyklizität begnügen will).

Solche Strukturtheorien stammen so gut wie nie aus der Geschichtswissenschaft, sondern entweder aus der Historischen Soziologie oder den Internationalen Beziehungen. Die wichtigsten und auch in der „Oxford History“ zumindest als Literaturreferenzen auftauchenden sind:

  1. a)

    Theorien der imperialen Kohärenzsicherung durch Herrschaftspraktiken und Symbolpolitik von Eliten, die letztlich auf S. N. Eisenstadts klassisches, aber wohl (leider) kaum noch gelesenes Buch „The Political System of Empires“ (1963) zurückgehenFootnote 22;

  2. b)

    das Buch „Empires“ (1986) des Politologen Michael W. Doyle, das eine erstaunliche Langlebigkeit bewiesen hat, die sich weniger aus seinen nicht immer tiefschürfenden Fallanalysen ergibt als aus dem fruchtbaren Gedanken, empire sei, politisch gesehen, „a sovereignty that lacks a community“Footnote 23;

  3. c)

    die Unterscheidung verschiedener Machtformen und ihrer wechselseitigen Transformationsmöglichkeiten bei dem Soziologen Michael MannFootnote 24, der sonst in seiner Tetralogie „The Sources of Social Power“ (1986–2013) die erhoffte Imperientheorie leider nicht vorgelegt hat und den Verlockungen des Narrativen erlegen istFootnote 25;

  4. d)

    Herfried Münklers Buch „Imperien. Die Logik der Weltherrschaft“ (2005), das, historisch schwach fundiert und an Doyle (besonders dessen Konzept der „Augusteischen Schwelle“) und Mann anschließend, vor allem die Unterscheidung zwischen Imperium und Hegemonie herauspräpariert und geopolitische Aktionsmodi untersucht hat, allerdings ohne jede Beziehung zur während der Entstehungszeit des Buches aufblühenden New Imperial History und ohne hinreichende Berücksichtigung multi-imperialer Systeme – nicht verwunderlich, weil das Buch unter dem Eindruck vermeintlicher US-Allmacht in den Jahren der Unipolarität nach der Auflösung von Sowjetblock und Sowjetunion entstand.Footnote 26

3 Benchmarks der Imperienanalyse

Will man das wissenschaftliche Umfeld beschreiben, in das die „Oxford History“ eintritt, stellt sich die Frage nach möglichen Standards (benchmarks), an denen das ambitionierte Werk gemessen werden kann. Diese Standards werden durch drei Monografien und zwei Enzyklopädien verkörpert.

Jane Burbanks und Frederick Coopers „Empires in World History“ (2010) ist zunächst einmal ein Lehrbuch, das mit Belegen sparsam umgeht und sich auf relativ wenige Literaturhinweise beschränkt. Es ist ein einführender Überblick über die Imperiengeschichte seit der Antike.Footnote 27 Fachleute werden in den Kapiteln über die einzelnen Imperien nichts Neues finden. Nun erwartet man von einem solch versierten Team wie Jane Burbank (russische Geschichte) und Fred Cooper (Afrika, westeuropäische Kolonialgeschichte) zu Recht mehr als ein textbook. Burbank und Cooper haben die Imperienforschung um wesentliche Konzepte und Thesen bereichert: Imperien verfügten über Machtrepertoires: „ruling strategies that were imaginable and feasible in specific historic situations“ (S. 3). Sie waren nicht auf Homogenisierung aus, sondern beruhten auf dem Wechselspiel von „incorporation and differentiation“ (S. 13). Solche Differenzierung machte sich in Herrschaftstechniken bemerkbar: „different peoples within the polity will be governed differently“ (S. 8). Imperien waren vertikal organisiert, aber nicht in starren Hierarchien, sondern in einem ständigen Kampf um Auf- und Abstieg. Obwohl sie auf Gewalt beruhten, waren sie keine reinen Zwangsanstalten, bei denen säuberlich zwischen Herrschern und Beherrschten, Tätern und Opfern unterschieden werden kann: „What successful empires produced, usually, was neither consistent loyalty, nor consistent resistance. They produced contingent accommodation“ (S. 14). Sofern Imperien erfolgreich, also langlebig, waren, beruhte ihr Erfolg auf Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. All dies sind Einsichten aus der Forschungsliteratur, die Burbank und Cooper bündeln und zu Begriffen verdichten.

Das Schlusskapitel ihres Buches („Empire, States and Political Imagination“, S. 443–459) ist eine tour de force, eine Verschmelzung von prozessualer Imperiengeschichte und kategorialer Analyse, deren Niveau an kaum einer Stelle in der „Oxford History“ erreicht wird. Bemerkenswert ist, dass Burbank/Cooper eine klare Periodisierung der Imperiengeschichte bewusst vermeiden, indem sie von „intertwined imperious trajectories“ sprechen (S. 443), Verflechtungen, die jedoch keineswegs als planvolle Netzwerkbildung zu verstehen sind (S. 447), wie eine Überbetonung ‚globaler‘ Aspekte gerne suggeriert. Burbank und Cooper sind jeder imperialen Apologie unverdächtig. Umso aufmerksamer sollte man zur Kenntnis nehmen, dass ihre Bilanz ambivalent ausfällt: Die Dekolonisation nach 1945 war kein voller Erfolg, der unitarische Nationalstaat mitsamt dem Leitmotto der ‚Souveränität‘ vielfach eine Schimäre. Trotz einer allgegenwärtigen Arroganz der Macht verstanden sich die stabileren Imperien auf das Management – einschließlich der Manipulation – von Diversität. Das Schlusskapitel von Burbank/Cooper, hier nur grob zusammengefasst, ist ein Stück meisterlicher Verdichtung, von dem weiterhin jede Diskussion imperialer Vergangenheiten ausgehen sollte.

Einige Jahre zuvor hatte John Darwin in Oxford die Messlatte für Imperiengeschichte vielleicht noch eine Spur höher gelegt. Nur tat er es in der Form eines langfristigen Narrativs, das man nicht einfach imitieren und mit dem man nicht experimentell spielen kann wie mit dem Ideen- (oder Theorie‑)Baukasten von Jane Burbank und Fred Cooper.Footnote 28 Darwin gilt zu Recht als einer der besten Historiker des British Empire im letzten Jahrhundert seiner Existenz. In „After Tamerlane. The Global History of Empire Since 1405“ überraschte er mit einem Rückgriff ins 15. Jahrhundert und mehr noch dadurch, dass die chronologisch frühen Kapitel der beste Teil seines insgesamt hervorragenden Buches sind. Darwin erzählt tatsächlich eine durchgehende Geschichte der Imperien seit dem, was in europäischer Periodisierung das „Spätmittelalter“ wäre. Er tut dies mit Diskretion, ohne sich pompös als Welthistoriker zu inszenieren. Der Gegenwartsbezug ist deutlich. Geschichte sei dazu da, die heutige Zeit verständlich zu machen. Das Buch ist anschaulich geschrieben und dennoch streng argumentativ gehalten. Vergleich und Beziehungsgeschichte – von Geschichtstheoretikern oft zu Gegensätzen erklärt – werden geräuschlos integriert, ebenso Kultur, Gesellschaft und Politik, Realitäten und Imaginationen.

Darwins theoretische Beiträge sind versteckt, aber leicht auffindbar: Statt von linearen oder zyklischen Entwicklungen sollte man von „conjunctures“ ausgehen (S. 18). Konvergenzen und Divergenzen ändern sich ständig. Imperien bewegen sich aufeinander zu und stoßen sich unter anderen Umständen voneinander ab. Wenn gleichzeitig Konvergenzen gehäuft auftreten und besonders stark werden, kommt es zu Schüben, die Periodisierungseinschnitte begründen, zum Beispiel eine „Eurasische Revolution“ zwischen etwa 1750 und 1830 (S. 160), die bereits vor der Industrialisierung eingeleitet, dann durch sie stabilisiert wurde. Kontingenzen werden fein abgewogen. Vor allem technologische Durchbrüche (etwa das Dampfschiff) sind unabhängige Variablen, die Zeitpunkte ihres Auftretens und ihre Folgen in hohem Maße kontingent. Die Asiaten hätten den beginnenden Freihandel selbst nutzen können. Warum haben sie es nicht getan? Der Imperialismus des 19. Jahrhunderts wird neu gefasst. Darwin sieht ihn weniger als Ausweitung territorialer Herrschaft denn als Kontrolle der Europäer über die großen Ströme der globalen Zirkulation: Waren, Ideen und Menschen (S. 212). Und so fort. Bewundernswert bei Darwin ist nicht so sehr eine große These, die er zu seinem Markenzeichen macht, als die außerordentliche Beweglichkeit, mit der dynamische Zusammenhänge auf verschiedenen Ebenen dargestellt werden. Dazu ist es nicht nötig, einzelne Imperien an und für sich zu porträtieren. Alles ist Wirkung und Wechselwirkung. Nicht jede Erklärung, die Darwin anbietet, ist gleich überzeugend. Konsequenzen analysiert er besser als Ursachen. Seit „After Tamerlane“ fällt es schwer, Imperien als Monaden zu sehen. Das Buch zeigt aber auch, dass man gar keine komplizierten Theorien von Konnektivität und Interimperialität bemühen muss, um Interaktionen zwischen Imperien zu erfassen.

Man könnte noch andere Bücher aus jüngerer Zeit nennen, hinter deren Reflexionsstand die Imperiengeschichte nicht zurückfallen sollte. Dazu gehören Charles Maiers konzentrierte Einordung des weltpolitischen Aufstiegs der USA in größere ZusammenhängeFootnote 29, Hans-Heinrich Noltes systematisierendes LehrbuchFootnote 30 und das bedeutende Alterswerk des im März 2022 verstorbenen Frühneuzeithistorikers Sir John H. Elliott, in dem er am Beispiel von Hispano-Amerika und Britisch-Nordamerika zeigt, was der Vergleich zwischen Imperien leisten kann, wenn die strukturellen Unterschiede nicht zu ausgeprägt sind.Footnote 31 In der Historischen Soziologie kann im Prinzip alles mit allem verglichen werden; die Geschichtswissenschaft mit ihrer größeren Kontextsensitivität ist vorsichtiger.

Um benchmarks für heute zu bestimmen, sind zwei andere Publikationen noch aufschlussreicher, die in ihrer Machart der „Oxford History“ sehr nahekommen. In beiden Fällen handelt es sich um breit angelegte enzyklopädische Zusammenstellungen von Beiträgen zu einzelnen Imperien, denen ehrgeizige Einleitungen vorangestellt sind. Diese Einleitungen sind offenkundig mit dem Anspruch geschrieben worden, Grundtexte der vergleichenden Imperienforschung zu sein. Wir wollen sie als solche prüfen.

2014 erschien ein monumentales zweibändiges Werk, das in der Fülle der behandelten Fälle seinem Titel gerecht wird: „Imperien und Reiche in der Weltgeschichte“. Die Einleitung der Herausgeber Michael Gehler und Robert Rollinger will – wie sollte es anders sein? – Grundfragen der Imperialgeschichte klären.Footnote 32 Der Gegensatz zur New Imperial History, die von den Verfassern weitgehend ignoriert wird, könnte nicht größer sein. Gehlers und Rollingers Ansatzpunkt sind politikhistorische und „neorealistische“ Ansätze, die sie bereits als Reaktion auf ein Übermaß an imperialer Kulturgeschichte deuten. Mit Hans-Heinrich Nolte warnen sie vor epochenübergreifenden Allgemeinbegriffen (S. 6 f.). Dennoch unterbleibt zum Glück auch hier nicht der Anlauf zu einer Begriffsumzingelung. Dabei wird jedoch auf eine förmliche Definition verzichtet. Drei Grundkriterien für Imperien werden kombiniert: Sie sollen (a) Großreiche sein, also über eine beträchtliche transregionale Flächenausdehnung verfügen, (b) in sich multiethnische und multikulturelle Diversität aufweisen und (c) nach außen Strahlkraft entwickeln, demnach in ein umfassenderes Mächtegefüge hineinwirken (S. 18–24). Vor allem das dritte Kriterium ist selten so kräftig unterstrichen worden. Der Text will letzten Endes jenseits des Gegensatzes zwischen Kulturgeschichte (New Imperial History) und einem besonders von Herfried Münkler ausgehenden (geo-)politischen Ansatz ein drittes Konzept entwickeln, liefert schließlich aber nur ein ungeordnetes Sammelsurium von Aspekten. Die Alternative wird nicht deutlich genug.

Das ist anders bei der Einleitung, die John M. MacKenzie, der verdienstvolle Pionier der vergleichenden Imperienforschung in Großbritannien, einer von ihm leitend herausgegebenen Enzyklopädie der Imperien vorangestellt hat.Footnote 33 Da dieses kostspielige Riesenwerk die Anschaffungsetats der meisten deutschen Bibliotheken überfordert, ist es nicht leicht zugänglich, zumal eine digitale Fassung nicht existiert. MacKenzies Einleitung, das Resümee eines Lebenswerks, dürfte daher bisher nicht die Aufmerksamkeit gefunden haben, die sie verdient. Welche Quintessenz zieht er aus den mehr als 200 Imperien, die in der Enzyklopädie behandelt werden?

Man muss loben, dass der Text sehr facettenreich ist und keine neuere Forschungsrichtung ignoriert. Er bezieht sich auf Burbank und Cooper und sollte neben deren Schlusskapitel gelesen werden. Wo andere so knapp wie möglich definieren (Michael Doyle) oder auf Definitionen ganz verzichten (wir werden sehen, dass die „Oxford History“ sich solcher Abstinenz anschließt), bietet MacKenzie die längste Definition der Literatur.Footnote 34 Sie ist deswegen so ‚kalorienreich‘, weil sie allen erdenklichen Typen von Imperien gerecht werden möchte. MacKenzie räumt ein, dass es in Asien möglicherweise Imperientypen gab, die auch mit seiner Definition schwer erfasst werden können. Auf einer hohen Abstraktionsebene lässt sich aber sagen (und das ist gleichzeitig die Pointe von MacKenzies zentraler These), dass Imperien – entgegen einer vielfach gängigen Ansicht – unter allen historischen Umständen einen Drang zu Wachstum, Expansion und überhaupt Mobilität zeigen. Sie sind „complex organisms for whom stasis is impossible“.Footnote 35

Mobilität ist in dieser Einleitung der zentrale Begriff. Das ist neu sowohl gegenüber der kulturgeschichtlichen Sichtweise (zu deren Pionieren MacKenzie einst gehörte) als auch gegenüber der engen Fixierung auf Machtpolitik à la Münkler. Leider werden die vielen Beispiele, auch aus dem Bereich von informal empire, den MacKenzie besser einbezieht als die vergleichbaren Einleitungen, nicht zu einer ordentlichen Theorie verdichtet. Auch der zweite originelle Punkt wird eher angedeutet als ausgearbeitet: die Umwelt. Anders als kulturgeschichtliche und geopolitische Ansätze findet MacKenzie die Wirtschaft keineswegs uninteressant, sondern wiederholt den eigentlich wenig kontroversen marxistischen Gedanken, dass Imperien ihren eigenen Herrschaftsapparat dadurch finanzieren, dass sie ein Mehrprodukt abschöpfen und zu diesem Zweck ihre Ressourcenbasis einigermaßen rational pflegen müssen; Raubbau war vielfach historische Realität, entspricht aber nicht vollständig der Logik eines imperialen Extraktivismus. Die ökologische Seite dieser Ressourcenbasis wird bei MacKenzie viel stärker herausgestellt als in der übrigen hier diskutierten Literatur. Doch der Schritt – der gewiss keine Kleinigkeit wäre – zur Integration von Ökonomie und Ökologie wird nicht getan. So bleibt trotz seiner originellen Vorstöße in Richtung Mobilität und Ökologie auch John MacKenzie die Grundlegung einer universalen Imperiengeschichte schuldig. Eine solche Grundlegung hat sich Peter Fibiger Bang in der von ihm herausgegebenen „Oxford History“ zum Ziel gesetzt.

4 „The Oxford World History of Empire“

Peter Fibiger Bang ist ein dänischer Althistoriker, ein überaus erfolgreicher Organisator und Herausgeber auf dem Gebiet der vergleichenden Imperiengeschichte.Footnote 36 Wie sehr er die treibende Kraft hinter der „Oxford History“Footnote 37 gewesen sein muss, erkennt man daran, dass er die 45 Imperienporträts im zweiten Band durch kurze Epochenskizzen am Beginn jeder der acht chronologischen Abteilungen einführt. Vor allem hat er die einleitenden Texte im ersten Band allein geschrieben: acht Seiten „Prolegomena“ und eine gigantische Einleitung von 87 Seiten (79 ohne Bibliografie). Sein Mitherausgeber Walter Scheidel, ebenfalls ein Spezialist für das Imperium Romanum, zeichnet diese Texte nicht mit. Der dritte Herausgeber, Sir Christopher Bayly, verstarb bereits 2015.

Bangs „Prolegomena“ sind ein erstaunlich diffuses und anspruchsloses Dokument. Die Menschheit habe „the postcolonial moment“ überwunden, „imperialism has resurfaced as a global force“ (S. xix). „Resurfaced“ ist so zu verstehen, dass nach kurzer Unterbrechung der imperiale Normalzustand der Weltgeschichte wiederhergestellt sei – als habe es nie Befreiungsbewegungen und ihre Kämpfe gegeben. Dieser Gedanke wird den ganzen ersten Band tragen.

Bang empfiehlt den Vergleich und stellt ihn apodiktisch in einen Gegensatz zu „connected history“. Aber was ist mit Vergleich gemeint, und wo liegen seine Vorzüge und Schwierigkeiten? Bang lässt sich auf die methodologische Literatur nicht ein, stellt das nicht näher präzisierte Schlagwort „comparative contextualisation“ in den Raum (S. xxiii) und wendet sich polemisch, aber ohne Argumente, gegen die Nutzung des Vergleichs in kausalen Analysen (S. xxiv): Hier bestehe die Gefahr, kleine Unterschiede überproportional zu betonen. Aber wozu sonst soll denn der Vergleich genutzt werden, wenn nicht für Kausalerklärungen? Indem er die Methodologie des idealtypischen Vergleichs seit Max Weber vom Tisch wischt, lehnt Bang die gesamte Historische Soziologie ab und degradiert den Vergleich zu einer Vorstufe für historische Panoramen. Statt um Ursachenanalyse gehe es um illustrative „commonalities“ und deskriptive Analogien.Footnote 38 Sie dienten der Identifizierung von „wider patterns“ (S. xxiv) und „[the] bigger picture“ (S. xxv). Solche großen Bilder, in denen Ähnlichkeiten wichtiger sind als Unterschiede, bräuchten keine methodische Anleitung, denn „[…] no theories are on offer that encompass the imperial experience across the entire span of world history […].“ (S. xxv). Diese Aussage ist freilich methodologisch fragwürdig: Die Reichweite und Brauchbarkeit einer Theorie bemisst sich nicht am Umfang der in sie möglicherweise einfließenden Empirie.

Die Einleitung selbst schafft etwas mehr Klarheit. Imperiengeschichte sei im Grunde mit Weltgeschichte deckungsgleich und im Kern eine Geschichte von Macht, vor allem militärischer Macht: „an age-old story, endlessly repeated, ever mutating“ (S. 1) – eine Trivialität. Man müsse diese Geschichte breit und tief erzählen, um Europas Stellung in der Weltgeschichte zu relativieren. Ständig wird wiederholt, die Gegenwart sei ein neues Zeitalter der Imperien. Solange es ein Machtgefälle („power gradiant“) zwischen Staaten gibt, und das sei heute „arguably steeper than ever before“, gebe es empire. Dessen Geschichte werde folglich unabsehbar weitergehen (S. 4). Sie ist bei Bang vom Anfang bis zum offenen Ende eine eintönige Geschichte. Es gibt nur eine Grunderfahrung des Imperialen, die sich immer wieder unterschiedlich neu ausprägt. Imperiengeschichte sei eine lange Reihe von Kontinuitäten, fast ohne scharfe Brüche, eine ewige Metamorphose des Imperialen, das heißt einer im Grunde unveränderlichen Substanz. Sie bestehe aus „long-lasting similarities and mutations produced by changing circumstances of time and locality“ (S. 10). Damit ist der schlichte Gedanke verbunden, imperiale Macht beruhe zwar auf militärischer Überlegenheit und bringe „myths of omnipotence“ hervor, werde aber begleitet von „weakness, limitations, and a need to compromise“ (S. 9).

Im Anschluss an diese Ausführungen folgt die zu erwartende Sichtung bisheriger Imperiums-Definitionen (S. 12–20). Zunächst wendet sich Bang ungewöhnlich scharf gegen Begriffsgeschichte, der er vorwirft, sie gelange zu keinen generalisierenden Erkenntnissen (S. 12) – was sie gar nicht beabsichtigt. Alle Definitionsvorschläge (der früheste von Machiavelli), die in der engeren Wahl bleiben, sind staatszentriert. Von imperialen Netzwerken ist niemals die Rede, auch nicht von Mobilität, wie sie bei John M. MacKenzie 2016 im Mittelpunkt stand. Statt eines eigenen Vorschlags – MacKenzie hatte darum gerungen und seine genau ausgetüftelte Mammut-Definition hervorgebracht – entscheidet Bang den Wettstreit der Definitionen unvermittelt zugunsten von Michael Doyles Lösung von 1986: „Empire is a relationship, formal or informal, in which one state controls the effective political sovereignty of another political society“.Footnote 39 Nun ist das keine schlechte Definition, aber sie geht ganz von den modernen Überseereichen aus, für die Bang sich sonst nicht vorrangig interessiert. Das Konzept der Souveränität ist anachronistisch für frühere Epochen, was den Althistoriker Bang jedoch nicht zu stören scheint. Er zaubert Doyles Definition, die er noch nicht einmal modifizieren möchte, wie ein Kaninchen aus dem Hut. Ein enttäuschendes Begriffsfundament für ein beispiellos ambitioniertes Projekt.

Interessanter wird es anschließend, wenn Bang Theorien von empire sichtet und dabei ausgerechnet bei der Imperialismustheorie von John Atkinson Hobson – zweifellos ein großer Klassiker – aus dem Jahre 1902 fündig wird. Davon ausgehend identifiziert Bang vier große Themen:

  1. 1.

    „Capitalism“, ein riesiger Komplex, der auf die bewährte, am besten auf die Frühmoderne anwendbare Theorie der „protection costs“ von Frederic C. Lane reduziert wird (S. 27);

  2. 2.

    „aristocratic privilege“, in Anlehnung an Michael Manns Machttheorie als eine Art von historischer Konstante gesehen: aristokratische Herrscherklassen hätten sich im Laufe der Geschichte immer fester etabliert (S. 34); dies wird leider ohne Bezug auf Konzepte von „höfischer Gesellschaft“ (Norbert Elias, Jeroen Duindam) diskutiert;

  3. 3.

    „identity and culture“: ein Imperium als „a total cultural system“ (S. 34), eine These, die von Mahatma Gandhi (was fraglich ist und unbelegt bleibt) und Frantz Fanon stammen soll und nicht näher ausgeführt wird;

  4. 4.

    „international competition and geopolitics“: der Aspekt, der Bang offensichtlich am meisten am Herzen liegt, wobei er von eklektisch ausgebreiteten Lesefrüchten (die üblichen Verdächtigen: von Halford Mackinder über Carl Schmitt bis zu Paul Kennedy) zu keiner Systematisierung, geschweige denn Theorie vordringt.

All dies bleibt im Stadium der Materialsammlung stecken. Ein klares Konzept imperialer Systeme, das dem Projekt ein solides Fundament gegeben hätte, entwickelt Bang nicht. Dies erweist sich als Nachteil, wenn er nun eine Erzählung der globalen Imperialgeschichte versucht. Dabei muss er sich mit Burbank/Coopers „Empires in World History“ messen. Bang sieht zumindest zwei langfristige Tendenzen: (a) „a slowly accumulating trend“ der Machtanhäufung (S. 53)Footnote 40; (b) die Regel, dass sich „monopolistic supremacy“, wenn sie einmal erreicht ist (wo liegt die Schwelle?), gewissermaßen selbst stabilisiert und perpetuiert (S. 56): Bangs Haupterklärung für die Langlebigkeit mancher Imperien. Aber ein Monopol wovon? Macht, Ressourcen, ideologischer Deutungshoheit? Wir erfahren es nicht.

Was macht Bang mit der Neuzeit? Offenbar kennt er die Literatur nicht besonders gut. Er argumentiert im Grunde für die gesamte Neuzeit sehr oberflächlich in Kategorien des ‚Erfolgs‘ von Imperien. Die Spanier hätten angeblich „a novel pattern of empire“ erfunden (S. 69) – doch was war daran neu und in Kategorien evolutionären Erfolges durchsetzungsfähig? Man erfährt es nicht. Stichworte wie Geoffrey Parkers unter Frühneuzeitlern viel diskutierte „military revolution“ fallen, leider ohne argumentativ genutzt zu werden. Erst um 1750, „the world history of empire took a global turn“ (S. 70). Wie kam das? Offenbar hatte es mit Industrialisierung nichts zu tun, begann vorher. John Darwin hat sich über die Gründe 2007 Gedanken gemacht, Peter Bang 2021 nicht. Dekolonisation spielt bei ihm welthistorisch keine Rolle. Sie passt nicht ins Bild, wenn Imperien ohnehin der historische Normalfall sind.

Erst abschließend wird in größter Kürze der „silent and suffering majority“ (S. 77) gedacht. Das wirft ganz neue Fragen von Perspektivierung, Moral und politischem Urteil auf, die nicht weiterverfolgt werden.Footnote 41 Die Position, die hier bezogen wird, ist bemerkenswert in ihrer anti-postkolonialen Radikalität. Die heutige Imperien-Diskussion in der Öffentlichkeit dreht sich zuweilen einseitig oder gar ausschließlich um die Opfer.Footnote 42 Bei Bang überwiegt umgekehrt in einer anachronistischen Weise eine Sicht von den Thronen und Feldherrenhügeln aus. Die ‚großen Bilder‘ sind Bilder von oben. So auch die geostrategischen Zukunftsperspektiven: Russland und Indien seien neben den USA und China „the great and coming powers“ (S. 78). Mit Europa hingegen gehe es bergab, es sei denn, es fände zu einer neuen Form von „imperial unity“ (S. 79). Imperienhistoriker scheinen in besonderem Maße dem Nimbus ihres Gegenstandes zu verfallen. Ein historiografischer Imperatorengestus kommt besonders gern als Geopolitik daher.

Wenn es eine Quintessenz von Peter Bangs ehrgeizigem Griff nach einer eigenen Imperientheorie gibt, dann ist es seine Antwort auf die Frage, warum „universal empires“ so langlebig waren – eine etwas tautologische Frage, denn ein kurzlebiges Imperium, etwa das Napoleonische, wird gar nicht erst als „universal“ gezählt. Diese Antwort ist ebenfalls nicht tautologiefrei: Die Stabilität der Universalreiche „came as the culmination of a process of state-formation that saw these Empires presiding over the extensive growth of state-like societies across Afro-Eurasia and the Americas“ (S. 77). Übersetzt ungefähr: Universalreiche waren ein Produkt einer Staatsbildung, die sich selbst wiederum aus Staatsbildungsprozessen niederer Ordnung ergab (oder was soll „presiding over“ sonst bedeuten?). Kann eine solche Zuspitzung auf die staatliche Vertikale als eine Imperientheorie jenseits von Burbank/Cooper, Darwin oder auch MacKenzie zufriedenstellen? Und wenn Imperiengeschichte letztlich nichts anderes sein soll als die Geschichte staatlich verfasster Macht, sollten zusätzliche Inspirationsquellen herangezogen werden.Footnote 43

Ich habe zu zeigen versucht, dass Peter Bangs prominent platzierte Einleitung – im Umfang eines kurzen Buches – den benchmarks der bisherigen Imperientheorie nur sehr partiell genügt. Was hat es mit den übrigen 15 Kapiteln von Band 1 der „Oxford World History of Empire“ auf sich? Jane Burbank und Fred Cooper sind mit einem wie immer scharfsinnigen Text über „The Politics of Difference“ vertreten. Walter Scheidel stellt Statistiken und Schätzungen, die bereits bekannt waren, handlich zusammen. Die Soziologen Christopher Chase-Dunn und Dmytro Khutkyy suchen die ganz großen Muster der Weltgeschichte vom Mesolithikum bis zur Zukunft. Ian Morris, ebenfalls ein Althistoriker und Freund der longue durée, liefert an versteckter Stelle (S. 156) eine komplexe und lange, aber für Zwecke der historischen Analyse gut brauchbare Begriffsbestimmung von „Imperium“. Aus Amira K. Bennisons vielen Beispielen lernt man eigentlich nur, dass Religion auf mannigfache Weise für Imperien wichtig war, es fehlt der Wille zur Systematisierung.Footnote 44 Einige Autorinnen und Autoren kommen unter aufregenden allgemeinen Überschriften schnell auf ihre Spezialgebiete und Steckenpferde zu sprechen, etwa Kim A. Wagner, der zum Thema „Resistance, Rebellion, and the Subaltern“ kaum über vertrautes südasiatisches Material hinausgeht. In anderen Kapiteln – etwa den beiden zur Umweltgeschichte (von Alf Hornborg und James Beattie/Eugene Anderson) – hasten die Verfasser durch eine Vielzahl von Reichen und Epochen, ohne sich analytische Verschnaufpausen zu gönnen. Es ist gar nicht so einfach, sich weder zu viel noch zu wenig vorzunehmen. Neue und weiterführende Überlegungen zum Thema „imperiale Literaturen“, die nicht ganz mit den viel häufiger diskutierten „colonial literatures“ identisch sind, finden sich bei Javed Majeed, einem der originelleren Texte des Bandes.

Ein Muster für ein konzeptionell gut durchdachtes komparatives Kapitel, wie man es sich in diesem Werk als Regelfall gewünscht hätte, stammt von John Haldon. Unter dem Titel „The Political Economy of Empire“ – einem Thema, mit dem sich Peter Fibiger Bang in seiner Einleitung hätte stärker beschäftigen sollen – bietet der Byzantinist aus Princeton eine konsistente und empirisch breit untermauerte theoretische Betrachtung zur Bildung von „imperial capital“ in unterschiedlichen Typen von imperialen Systemen. Haldon gelingt es auch wie niemandem sonst in diesem Band, die unterschiedlichen Perspektiven empire und imperialism miteinander zu verbinden. Trotz seiner mediävistischen Fachausrichtung betrachtet er die Neuzeit mit der gleichen Aufmerksamkeit wie die älteren Epochen. Solche Lichtblicke hätte man sich an Bord des neuen Flaggschiffs der Imperienforschung häufiger gewünscht.

5 „Imperiology“

Gleichzeitig mit der „Oxford History“ erschien ein viel schmalerer und zeitlich enger begrenzter, aber im systematischen Anspruch kaum weniger ehrgeiziger Band, der aus zehn Kapiteln durchweg höchst prominenter Autorinnen und Autoren besteht. Herausgegeben haben ihn der Sinologe und China-Historiker Yuri Pines, die Zentralasien-Spezialistin Michal Biran und der Althistoriker Jörg Rüpke.Footnote 45 Auch hier ist die Einleitung, verfasst von Pines als Hauptautor, der Ort, an dem allgemeine Positionsbestimmungen zur Imperienforschung formuliert werden.Footnote 46 Das Ziel ist nicht weniger als so etwas wie „comparative imperiology“ (S. 2, 5). Diese bezieht sich empirisch auf die Zeit vor 1800 – nur Jane Burbanks Beitrag über das Zarenreich blickt auf das 19. Jahrhundert voraus –, ist aber offensichtlich als generalisierungsfähig gedacht.

Warum braucht man eine solche Imperiologie? „Empires“, erklärt Pines, „are fascinating in their own right“ (S. 4). Das lässt sich freilich über die meisten Themen sagen, für die Forschende ihre Lebenszeit aufwenden. Zweites Argument: Imperien hätten wegen „the predatory imperialism of the 19th and 20th centuries“ zu Unrecht einen schlechten Ruf und müssten rehabilitiert werden. Darüber lässt sich reden; Burbank/Cooper sahen es 2010 ähnlich, doch anders als bei ihnen wird bei Pines davor gewarnt, von „contemporary concerns“ auszugehen, da dies zu „a selective reading of the past“ führe (S. 4). Was wäre ein „unselective reading“? Imperien zu antiquarisieren ist gegenwärtig keine besonders gute Idee, und seit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 steht „predatory imperialism“ wieder auf der weltgeschichtlichen Tagesordnung.

Die obligatorische Suche nach einem Imperiumsbegriff unter der unmissverständlichen Überschrift „What is an empire?“ (S. 5–8) führt – wie auch schon bei Peter Fibiger Bang – zu keinem prägnanten Ergebnis, weder zu einer lakonischen Definition im Stile Michael Doyles noch zu einer Catch-all-Formulierung wie bei John MacKenzie. Es werden bloß vereinzelte Merkmale angeboten. Eines sticht hervor: „The most essential imperial feature“ sei „a pretension to maintain superiority over its [the empire’s] neighbors“ (S. 7). Also nur gefühlte Überlegenheit, und dies allein nach außen, denn über die innere Struktur eines Imperiums wird damit nichts gesagt? Seltsam ist, dass der ganze Band von einem präzisen Fokus auf „space“ her entworfen ist, die Einleitung jedoch ihren Imperiumsbegriff – sofern sie überhaupt einen hat – nicht prononciert räumlich entwickelt, sondern sich einem verwirrenden Eklektizismus überlässt. Die meisten fallbezogenen Kapitel des Buches halten dann die Aufmerksamkeit auf Raum disziplinierter durch.

Im Anschluss an die erfolglose Suche nach einer Definition wird in der Einleitung eines der Merkmale relativ breit ausgearbeitet: der Universalismus von „world empires“ (denn nur um diese Premiumklasse von Imperien geht es in diesem Buch). Dieser Universalismus war schon vielen früheren Theoretikern aufgefallen, nicht zuletzt den imperialen Machthabern und Ideologen selbst. Hier wird er nun in sechs Aspekte ausdifferenziert: Rhetorik, Religion, Ökologie, Militärpolitik, Kosten-Nutzen-Rationalität, direkte und indirekte Herrschaft. Es ist nicht einfach zu verstehen, was die letzten vier Punkte auf dieser Liste mit „Universalismus“ zu tun haben könnten, zumal das Universal-Expansive oft eher relativiert wird: Religion sei oft gar kein „prime mover“ gewesen (S. 22); die meisten Imperien hätten keine ökologischen Grenzen überschritten, sondern es vorgezogen, „to stay within the familiar biome“ (S. 25); das aggressiv auftrumpfende Imperium sei eher eine Ausnahme geblieben (Rom, Dschingis Khan, die frühen Mogule unter Babur: S. 27); direktes Durchregieren finde sich selten, nie wieder so extrem wie in der chinesischen Qin-Dynastie (221–207 v. Chr.) des tyrannischen Ersten Kaisers (S. 34) – für den Yuri Pines die vielleicht größte lebende Autorität ist.

Unbeschadet der hohen Qualität der meisten Kapitel des Bandes, zeichnen sich in der Einleitung die Konturen einer neuen „Imperiologie“ noch nicht ab. Es spricht für die Gewissenhaftigkeit der Herausgeber, aber gegen ihren konzeptionellen Wagemut, wenn sie uns am Ende mit Trivialitäten allein lassen: Imperien würden wachsen, aber nicht ewig. Überdehnung könne gefährlich werden, müsse es nicht. Es gebe „[a] huge divergence in imperial spatial trajectories“ (S. 39) – wer hätte etwas anderes erwartet? Überall sehe man eine Spannung zwischen Ideal und Realität (S. 39 f.). Von solchen Allgemeinheiten bis zu einer Imperiologie ist es noch ein weiter Weg. Die älteren benchmarks sollten dabei weiterhin als Orientierung dienen.

6 Besprochene Literatur

  • Bang, Peter Fibiger/Bayly, C. A./Scheidel, Walter (Hrsg.): The Oxford World History of Empire, 2 Bde., 564 Seiten/1.292 Seiten, Oxford UP, Oxford u. a. 2021.

  • Pines, Yuri/Biran, Michal/Rüpke, Jörg (Hrsg.): The Limits of Universal Rule. Eurasian Empires Compared, 397 Seiten, Cambridge UP, Cambridge 2021.