Es ist ein heikles Thema: das medikamentöse „Ruhigstellen“ von Altenheimbewohnern, auch als „chemische“ FEM (freiheitsentziehende Maßnahme) bezeichnet. Etwa 800.000 Menschen leben derzeit in deutschen Altenheimen. Die Gabe zentralnervös wirksamer Substanzen gehört in vielen solcher Einrichtungen zum Alltag. Die Frage ist nur, ob diese leitliniengerecht zum Wohle des Patienten eingesetzt werden oder in erster Linie dazu dienen, die Pflege zu erleichtern.

Im Institut für Rechtsmedizin der LMU München ist eine Arbeitsgruppe aktuell dabei, Fälle verstorbener Altenheimbewohner aufzuarbeiten, die zwischen 2013 und 2015 obduziert wurden. Erste Studienergebnisse auf der Grundlage von 98 Obduktionen stellte Dr. Sabine Gleich auf dem Rechtsmedizin-Kongress vor.

Antipsychotika und Sedativa unter den Top 10

Der Institutsmitarbeiterin zufolge wurden pro Bewohner im Schnitt fünf Medikamente nachgewiesen. „Es gab jedoch auch Personen mit zwölf Medikamenten!“ Insgesamt erfüllte mehr als die Hälfte der Bewohner das Kriterium der Polypharmazie. Substanzklassen mit zentralnervöser Wirkung lagen unter den „Top 10“ der nachgewiesenen Medikamente, und zwar an dritter bis siebter Stelle (nach kardiologisch wirksamen Substanzen und Nicht-Opioid-Analgetika). Dabei führten Antipsychotika (47,4%), gefolgt von Antidepressiva (30,5%), Opioidanalgetika (28,4%), Hypnotika/Sedativa (22,1%) und Antikonvulsiva (17,9%). Die „Blockbuster“ waren unter den Antipsychotika Pipamperon, Risperidon und Quetiapin, unter den Opioidanalgetika vor allem Tilidin und Fentanyl und bei den Sedativa Lorazepam, Oxazepam und Zopiclon.

Mehrere Psychopharmaka gleichzeitig

Was auffiel, war die häufig gleichzeitige Einnahme mehrerer zentralnervös wirksamer Substanzen: „Damit haben wir ein hohes Nebenwirkungs- und Interaktionsrisiko“, so Gleich. Dabei scheinen „die Medikamentenkombinationen in mehreren Fällen nicht den Leitlinien von Fachgesellschaften zu entsprechen“. So wurden in mehreren Fällen gleich mehrere Opioidanalgetika eingesetzt, ebenso mehrere Hypnotika, darunter auch lang wirksame.

Von den Fällen, in denen Opioidanalgetika nachgewiesen werden konnten, fanden sich bei 30% gleichzeitig Antidepressiva, bei 48% Antipsychotika und bei 33% Hypnotika. Entsprechend häufige Komedikationen mit anderen psychoaktiven Substanzen ergaben sich auch für Hypnotika/Sedativa.

PRISCUS-Medikamente bei jedem Vierten nachgewiesen

Bei 25% der verstorbenen Altenheimbewohner gelang der Nachweis von Substanzen aus der sog. PRISCUS-Liste (diese enthält Medikamente, deren Einnahme bei älteren Menschen oder solchen mit bestimmten Vorerkrankungen als kritisch bewertet wird). Man habe, so Gleich, eine „doppelt so hohe Rate an Verordnungen von PRISCUS-Medikamenten wie bei einer im eigenen Haushalt lebenden Bevölkerung im Alter zwischen 65 und 79 Jahren“. Risikopatienten seien unter diesem Aspekt „vor allem Frauen mit Depressionen und chronischen Schmerzen“.

figure 1

Braucht sie die Tabletten wirklich?

© Sandor Kacso / stock.adobe.com (Symbolbild mit Fotomodell)

Die vorliegenden Medikamentennachweise beruhen auf Urinproben, die mittels Flüssigkeitschromatografie und daran gekoppelter Massenspektrometrie analysiert wurden. Weitere Analysen aus Blutproben und Haaren sollen folgen, ebenso eine Auswertung der ärztlichen Medikationspläne. Daraus erhoffen sich die Rechtsmediziner u. a. Hinweise darauf, ob die nachgewiesenen Medikamente ärztlich verordnet waren, inwieweit sie als FEM genutzt wurden und ob sie (mit) todesursächlich waren.