1 Politischer Westen vs. politischer Süden?

Russlands Krieg gegen die Ukraine brachte nicht nur unermessliches Leid in die Ukraine, sondern auch erhebliche Konsequenzen für die Weltpolitik. Zum einen schlossen sich die Staaten Westeuropas, Nordamerikas und Ostasiens noch enger zusammen. Sie verhängten Sanktionen in bisher unbekanntem Ausmaß gegen Russland und leisteten Finanzhilfe sowie Waffenlieferungen für die Ukraine. Die 2019 vom französischen Präsidenten Macron als „brain dead“ titulierte NATO gewann an Sinnhaftigkeit, Strategie und mit Schweden und Finnland neue Mitglieder. Die Administration von Präsident Biden zeigte mit großem politischem, militärischem und finanziellem Einsatz eine unter den Vorgängern Obama und Trump abwesende Entschlossenheit zur internationalen Führung. Die deutsche Regierung von Kanzler Scholz sah sich genötigt, die Zeitenwende durch Russlands Überfall anzuerkennen und Waffenlieferungen zu versprechen, die sie bislang aber nur zögerlich umsetzte. Insgesamt festigten die drastischen Sanktionen und die Waffenlieferungen das Bündnis von Ländern, die sich den Prinzipen der territorialen Integrität, Marktwirtschaft, Demokratie und der friedlichen Konfliktbeilegung verbunden sehen. Dieser politische Westen reicht von Nordamerika über Europa bis hin zu Japan, Südkorea, Taiwan, Neuseeland und Australien.

Russland ist aber bei weitem kein international isolierter Paria-Staat. Die meisten Staaten Afrikas, Südasiens, Lateinamerikas und des Nahen Ostens folgen nicht den Sanktionen gegen Russland und der Unterstützung der Ukraine durch das westliche Lager. Stattdessen enthielten sich viele dieser Staaten des politischen Südens bei der Verurteilung der russischen Aggression in der Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN), pflegen weiterhin enge wirtschaftliche, politische und militärische Beziehungen zu Russland und grenzen sich von westlichen Ordnungsvorstellungen ab (The Economist 2022a; Aust und Geiges 2022). Einer Resolution zur Verurteilung des russischen Überfalls durch die VN stimmten im März 2022 141 Staaten zu (35 Enthaltungen, 5 Nein, 12 abwesend). Nach acht Monaten russischen Vernichtungskrieges stimmten im Oktober einer VN-Verurteilung des Krieges nur zwei Mitglieder mehr zu: 143 (35 Enthaltungen, 5 Nein, 10 abwesend). Die Kriegsverbrechen Russlands haben die Lagerbildung nicht verändert.

Von besonderer Bedeutung für die alternative Weltordnung des politischen Südens ist die Politik der in der BRICS-Gruppe zusammengeschlossenen Schwellenländer gegenüber ihrem Partner Russland – dem „R“ der BRICS. Brasilien verurteilte zwar den Krieg in den VN, betont aber seinen engen wirtschaftlichen Austausch mit Russland. China enthielt sich in den VN und unterstrich seine unverbrüchliche Freundschaft sowie seine engen ökonomischen Beziehungen mit Russland. Indien enthielt sich ebenfalls und bezieht nach wie vor einen großen Teil seiner Rüstungsgüter sowie zunehmend auch Erdöl aus Russland. Südafrika enthielt sich in der VN und kritisierte die westlichen Sanktionen gegen Russland. Auf die BRICS entfallen 41 % der Weltbevölkerung (UN 2020) sowie 25 % des Welt-Einkommens (GNI), 17 % der weltweiten Importe und über 18 % der Exporte (World Bank 2022a). China ist das bei weitem wichtigste Land der BRICS-Gruppe. Diese emerging powers und viele Entwicklungsländer lehnen Sanktionen gegen Russland ab und positionieren sich in unterschiedlichem Ausmaß gegen westliche Ansprüche. Von vielen wird eine alternative Weltordnung favorisiert, die durch Multipolarität sowie nationale Souveränität geprägt ist und eine Dominanz westlicher Werte und Interessen ablehnt. Zahlreiche Grenzgänger zwischen den Lagern wie die Türkei versuchen die Vorteile beider Seiten zu erlangen bzw. beide Lager gegeneinander auszuspielen. Viele Staaten des Südens sind zudem Autokratien und lehnen die Forderungen des Westens nach Demokratisierung ab. Dies gilt aber bei weitem nicht für alle Staaten des politischen Südens. Die großen Schwellenländer Brasilien und Indien, aber auch einige middle-sized emerging powers wie Mexiko können als demokratische Systeme gelten.

2 Merkmale alternativer Weltordnungen

Unterschiedliche ordnungspolitische Ansätze für wirtschaftliche und sicherheitspolitische Beziehungen zwischen Staaten gibt es seit langem. Das Besondere an der gegenwärtigen Entwicklung ist die schärfere Konturierung zweier tendenziell gegensätzlicher Konzeptionen als Folge unterschiedlicher Positionierungen zum russischen Ukraine-Krieg. Dabei geht es nicht nur um die Interpretation von internationaler Politik, sondern vor allem um unterschiedliche Prinzipien für die Gestaltung internationaler Beziehungen.

Die westliche Staatengemeinschaft stellt regelgebundenes und in multilaterale Institutionen eingebettetes Verhalten in den Mittelpunkt ihrer Weltordnungsvorstellungen. Staaten sollen sich an die Regelwerke internationaler Organisationen (etwa VN, Welthandelsorganisation WTO, Weltbank, Internationaler Währungsfonds IWF) halten und Prinzipen mit universellem Geltungsanspruch (etwa friedliche Konfliktbeilegung, Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechte) beachten. Diese Prinzipien und ihre institutionelle Verregelung werden als Liberal International Order (LIO) bezeichnet. Die Schwellenländer der BRICS und viele andere Länder des politischen Südens betonen dagegen nationale Autonomie und Souveränität bei der Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen, die Nicht-Einmischung in die internen Angelegenheiten anderer Staaten, gelenkte Wirtschaft sowie die Vielfalt statt Universalität von Werten (Etzioni 2018; Schirm 2019). Bei den Menschenrechten werden von manchen Staaten des Südens beispielsweise weniger die Meinungsfreiheit als vielmehr die Freiheit von Armut in den Vordergrund gestellt. Sie werfen dem Westen sowohl vor, die LIO zu dominieren als auch sich selbst nicht an deren Regeln zu halten. In der Tat waren und sind es westliche Staaten, die die Regeln der LIO geschaffen haben und ihre internationalen Organisationen dominieren (Jacob 2022). Beispielsweise wird wichtigen Schwellenländern wie Brasilien und Indien die permanente Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der VN bis heute nicht ermöglicht, besitzen die USA nach wie vor Veto-taugliche Stimmrechte im IWF und verlangt die Europäische Union (EU) die Einhaltung nicht nur von Marktwirtschaft, sondern auch ihrer gesellschaftlichen Werte-Vorstellungen (Good Governance) von Handelspartnern in Freihandelsabkommen.

Dieses Verhalten des Westens wird seit langem in vielen Gesellschaften des Südens als Bevormundung empfunden und verstärkt ihr Streben nach Autonomie. In der Folge entstanden eigene internationale Organisationen, die den Mitgliedern sowohl internationale Mitwirkung ermöglichen als auch nationale Autonomie hinsichtlich ihrer gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen belassen. In jüngerer Zeit entstanden beispielsweise die BRICS-Gruppe als Alternative zur G7 mit regelmäßigen Gipfeltreffen der Regierungschefs und Fachministerien, die New Development Bank (NDB), das Contingent Reserve Arrangement (CRA) sowie die Asian Infrastructure and Investment Bank (AIIB) (Heldt 2022; Schirm 2019, 2020). Die Weltbank-Rivalin NDB vergab sogar Kredite an Russland, die westliche Sanktionen nach der Krim-Annexion unterliefen. Auch außen- und sicherheitspolitisch grenzten sich viele Staaten von westlicher Politik ab und gründeten die Shanghai Cooperation Organization (SCO) und die Union de las Naciones Suramericanas (UNASUR). Bereits 2014 enthielt sich ein Großteil des politischen Südens der Kritik an der völkerrechtswidrigen russischen Annexion der Krim und verweigerte sich den von Westen beschlossenen Sanktionen. In anderen Fällen wird dem Westen und vor allem den NATO-Staaten vorgeworfen, unter dem Vorwand des humanitären Schutzes (Responsibility to Protect) in Wirklichkeit einen Machtwechsel (Regime Change) mit Interventionen etwa in Libyen, Afghanistan, Irak und Serbien zu verfolgt zu haben (Economist 2022b). Besonders gravierend ist der im Süden verbreitete Vorwurf der Doppelmoral an den Westen, wenn er etwa Libyen aus vorgeblich humanitären Gründen in den Bürgerkrieg bombardiert, auf der anderen Seite aber das autoritäre Saudi-Arabien hofiert und mit Waffen beliefert, die dann im Krieg im Jemen eingesetzt werden. Deutschland gehört zu den wichtigsten Waffenlieferanten Saudi-Arabiens. Diese double standards vieler westlicher Staaten haben seine internationale Glaubwürdigkeit stark verringert. Doppelmoral zeigen aber auch Indien, China, Südafrika und viele Entwicklungsländer, wenn sie einerseits die Nicht-Einmischung in interne Angelegenheiten als internationales Prinzip fordern, aber die militärische Intervention Russlands in der Ukraine nicht verurteilen. Mit der Pflege guter Beziehungen zu Russland trotz des Überfalls unterstützt der politische Süden den Aggressor.

Die alternativen Weltordnungen schließen sich aber in der Praxis nur teilweise gegenseitig aus. Erfolgreiche Schwellenländer und auch die meisten Entwicklungsländer partizipieren an der LIO durch Handel und Investitionen aus dem Westen, die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen (etwa WTO, IWF und Weltbank) und Entwicklungshilfe. Sicherheitspolitisch ist die Verbindung allerdings weniger ausgeprägt. Hier wirken die westliche Kolonialherrschaft und die Interventionen vor allem der USA in Staaten des Südens im politischen Gedächtnis nach und sorgen für ein nachhaltiges Autonomie-Bedürfnis (Plagemann 2022, S. 4). Dennoch: Die meisten Staaten des Südens pflegen enge Beziehungen zum Westen, auch wenn viele sich einer Gefolgschaft mit westlicher Politik gegen Russland entziehen und in den letzten Jahren eine alternative Weltordnung zur LIO aufgebaut haben. Letzteres allerdings ohne die LIO zu verlassen.

Der Fokus dieses Essays liegt auf der alternativen Weltordnung des politischen Südens. Wichtig ist aber auch, dass westliche Staaten eine selektive Abkehr von der LIO unternahmen. Die negativen Auswirkungen weltwirtschaftlicher Globalisierung in Form von Arbeitsplatzverlusten, ungleicher Einkommensverteilung und perzipierter Ungerechtigkeit stärkten die Skepsis gegenüber Freihandel und freien Finanzmärkten. Die Wahl von Trump und der Brexit sind nur die extremen Beispiele für eine weitreichende Tendenz zu nationen-zentrierter Außenwirtschaftspolitik in Nordamerika und Westeuropa (Schirm 9,10,a, b). Globalisierungsskepsis ist etwa in Frankreich, Italien, Polen, Griechenland und auch nach Trump in den USA verbreitet. Nation-centered economic policies gewannen an Unterstützung, multilaterale ökonomische Integration verlor an Zustimmung.

3 Vielfalt gesellschaftlicher Ideen und Interessen

Ein Blick in die domestic politics, in die gesellschaftlich-innenpolitische Konstellation der zentralen Länder des politischen Südens scheint notwendig, um ihre ambivalente Politik zu verstehen. Denn internationale Politik ist wesentlich ein Reflex konkurrierender gesellschaftlicher Einflüsse, da Regierungen auf materielle Interessen und ideelle Erwartungshaltungen responsiv reagieren (Schirm 2013, S. 689–693, 2022a, S. 244–247). Schließlich wollen Regierungen an der Macht bleiben und benötigen dazu die Unterstützung der Wählerinnen und Wähler sowie von Interessengruppen. Dies gilt besonders für demokratische Systeme, aber in anderer Form auch für autoritäre Regime, deren politisches Überleben von ihrer Fähigkeit abhängt, Unterstützung durch breitenwirksamen wirtschaftlichen Erfolg zu sichern. Deshalb ist es wichtig, über die simplifizierende Betrachtung internationaler Beziehungen als Interaktion zwischen Staaten hinaus zu gehen und nach den gesellschaftlichen Ursachen für die Präferenzen der handelnden Akteure (Regierungen) zu fragen. Hierbei ergibt sich ein komplexeres Bild der internationalen Antagonismen aufgrund der Pluralität wertorientierter Ideen und materieller Interessen nicht nur in westlichen Demokratien, sondern auch in Schwellen- und Entwicklungsländern. Exemplarisch seien zentrale interne Einflussfaktoren auf die Politik in führenden Staaten der alternativen Weltordnung kurz skizziert: Brasilien, Indien und China.

In Brasilien dominiert das Agrobusiness den Exportsektor und wurde 2022 als derart wichtig für den Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen angesehen, dass beide Kandidaten – Lula und Bolsonaro – seine Anliegen vertraten. Die brasilianische Landwirtschaft ist der weltweit größte Exporteur von Soja und China ist der größte Abnehmer brasilianischer Exporte. Hinzu kommt eine starke Abhängigkeit der brasilianischen Landwirtschaft von Düngemitteln (Phosphat) aus Russland. Dies kann erklären, warum sowohl Bolsonaro als auch Lula nach der Invasion der Ukraine betonten, enge wirtschaftliche Beziehungen zu Russland fortsetzen zu wollen. Insgesamt spiegelt die Außenhandelsbilanz Brasiliens die sowohl-als-auch Positionen seiner Regierungen zwischen LIO und politischem Süden: Hinter dem größten Handelspartner China (32 % der Exporte und 22 % der Importe) rangierten 2020 die EU (13 % und 19 %) und die USA (10 % und 18 %) (World Bank 2022b). Starke Lobbyinteressen sprechen also für die Beibehaltung enger Verflechtungen mit dem Westen und der LIO, auch wenn die ökonomischen Beziehungen zum Süden zugenommen haben. Die ideellen Erwartungshaltungen der Bevölkerung zeigen ebenfalls ambivalente Züge. Einerseits hält die Mehrheit den Außenhandel für positiv, befürwortet aber gleichzeitig stärkere Protektion für die eigene Wirtschaft gegenüber externem Wettbewerb (Bertelsmann Stiftung 2020). Die von Präsident Bolsonaro erklärte „Neutralität“ gegenüber Russlands Krieg in der Ukraine entspricht anscheinend der überwiegenden Einstellung der Bevölkerung (Economist 2022a, S. 52). Auf der anderen Seite betrachtet die große Mehrheit Globalisierung positiv, China aber skeptisch. Somit zeigen ökonomische Interessen und Wählereinstellungen, dass die gesellschaftlichen Erwartungen an ihre Regierung sowohl eine enge Bindung an den Westen als auch eine starke Verortung im Süden nahelegen. Konsequenterweise manifestiert sich diese Ambivalenz in der Politik linker wie rechter Regierungen in den letzten zwei Jahrzehnten – etwa mit der Stärkung der BRICS einerseits und dem Streben nach Aufnahme in die westlich dominierte OECD andererseits (Stuenkel 2022).

Der Außenhandel Indiens ist stark von seinem wettbewerbsfähigen Dienstleistungssektor geprägt, mit großen Exporten auch in westliche Länder. Während China 2020 der größte Lieferant Indiens war (16 % der Importe, USA und EU zusammen 16 %), gingen fast 32 % der indischen Exporte in die USA und die EU, nach China dagegen nur 7 % (World Bank 2022b). Der BRICS-Handel ist für Indien wichtig, umfasst aber nicht die Größenordnung des Handels mit dem Westen. Bei den Energielieferungen soll der russische Anteil infolge der Sanktionen des Westens steigen. Insgesamt sind die Interessen von ökonomischen Lobbygruppen also auch hier gespalten und legen weiterhin enge Beziehungen mit dem Westen ebenso nah wie mit Russland, China und anderen Ländern des politischen Südens. Die Bindung an Russland wird darüber hinaus gefestigt durch die traditionell wichtigen Rüstungsimporte von dort (Plagemann 2022), denen aber der neue sicherheitspolitische Dialog mit dem Westen in der QUAD-Gruppe mit Australien, Indien, Japan und den USA entgegensteht. Die ideellen Erwartungshaltungen der indischen Bevölkerung sind ebenfalls ambivalent: sowohl weltwirtschaftliche Integration als auch Schutz der eigenen Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz werden befürwortet (Bertelsmann Stiftung 2020). Hinsichtlich antagonistischer internationaler Lager laviert Indien zwischen Kooperation und Autonomie gegenüber dem Westen sowie zwischen Zusammenarbeit und Rivalität gegenüber China. Letztere hat beispielweise zur Folge, dass die gewünschte Schwächung des US-Dollars als Zahlungsmittel nicht möglich scheint, weil sie mit einer Stärkung des chinesischen Renminbis einhergehen würde, die Indien unter allen Umständen vermeiden will (Jacob 2022). Auch Rivalitäten im politischen Süden verhindern somit einen weitergehenden West-Süd-Antagonismus. Je stärker China als Konsequenz einer Schwächung Russlands wird, desto wichtiger ist für die außenpolitische Elite Indiens die Allianz mit den USA zur Ausbalancierung Chinas. Andererseits rührt Premierminister Modi die Trommel nationaler Autonomie gegenüber dem Westen und betont die guten Beziehungen zu Russland nach der Ukraine-Invasion. Dies scheint den Erwartungen eines wichtigen Teils der Bevölkerung zu entsprechen, die zu 58 % den Ukraine-Krieg für „not of our business“ hält – zum Vergleich: in Brasilien gaben nur 35 % diese Antwort (IPSOS 2022). In Indien machen 28 % der Befragten den Westen für Russlands Überfall auf die Ukraine verantwortlich (Russland 27 %), in Brasilien überwiegt mit 51 % dagegen die Ansicht, Russland sei verantwortlich (YouGov 2022).

Ein ambivalentes Bild bietet auch China. Der globale „Rivale“ der USA (Biden) ist gleichzeitig ihr größter Gläubiger und verdankt seinen rasanten ökonomischen Aufstieg vor allem Exporten, die in den letzten 20 Jahren Großteils in den US-Markt flossen. Allerdings schwenkte Präsident Xi Jinping von der Strategie des export-led-growth auf einen nationen-zentrierten Kurs ein, der die Exportorientierung auf den Westen verringern soll. Mit Erfolg: beispielsweise löste 2020 die ASEAN-Gruppe die EU als wichtigsten Handelspartner ab. Ein Zusammenbruch der Handelsbeziehungen mit dem Westen – in den 2020 immerhin noch ein Drittel der chinesischen Exporte gingen (World Bank 2022b) – und ein Ausfall der US-Schulden würden Chinas Wirtschaft aber immer noch existentiell treffen. Die vom Export und den internationalen Finanzmärkten abhängigen Wirtschaftssektoren dürften der Regierung von einer Verschärfung der Konfrontation mit dem Westen mit Nachdruck abraten. Gleichzeitig dokumentierte China mit der Belt and Road Initiative, der AIIB und der SCO sein Bestreben, unabhängig von westlich dominierten Organisationen ein alternatives internationales System aufzubauen, das politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Aspekte vereint (Heldt 2022). Im autoritären China ist der Einfluss der Gesellschaft auf die Regierung schwer zu ermitteln, da die Partei die Gesellschaft stark kontrolliert. Aber auch hier scheinen traditionell ideelle Erwartungshaltungen für nationale Autonomie tief im kulturellen Erbe der Bevölkerung verankert zu sein. Hinsichtlich des Ukraine-Kriegs stimmen drei Viertel der Befragten der Unterstützung Russlands zu und sehen diese als im nationalen Interesse liegend (USCNPM 2022). Präsident Xi Jinping bekräftigte die Freundschaft mit Russland und kritisierte auf dem BRICS-Gipfel im Juni 2022, dass der Westen die Sanktionen gegen Russland missbrauche, um seine Hegemonie zu behalten (Aust und Geiges 2022). Putin erklärte auf dem Gipfel, er wolle den Sanktionen mit verstärkter Zusammenarbeit zwischen den BRICS-Staaten begegnen.

Diese kurzen Skizzen zeigen wichtige interne Grundlagen der außen(wirtschafts)politischen Ambivalenzen der BRICS-Staaten. International unterscheiden sich ihre spezifischen Interessen in vielerlei Hinsicht. Beispielsweise ist China ein erfolgreicher Exporteur von Industriegütern, aber Importeur von Energie und Landwirtschaft. Indische Dienstleistungen sind global wettbewerbsfähig, während seine Landwirtschaft und Industrie dies meist nicht sind. Brasilien verfügt über eine kompetitive Agrarindustrie und über erhebliche Energiereserven, aber über eine teils wenig wettbewerbsfähige Industrie. In ihren internationalen Beziehungen divergieren die BRICS daher oft. Beispielsweise folgten sie in den G20-Debatten über Außenhandel ihren jeweils intern dominanten Lobbyinteressen und vertraten gegensätzliche Positionen zur Regulierung von global imbalances (Schirm 2013).

Auch andere Staaten wie die middle-sized emerging powers Mexiko, Argentinien, Indonesien und die Türkei sympathisieren mit einer nicht-westlichen, alternativen Weltordnung. Argentinien und Indonesien sollen in die BRICS-Gruppe aufgenommen werden, Mexikos Präsident Obrador nannte die westlichen Sanktionen „unmoralisch“ (Aust und Geiges 2022) und der türkische Präsident Erdogan favorisiert eine Mitgliedschaft in der SCO, zu der auch Russland gehört. Die erdölexportierenden Länder der OPEC beschlossen im Oktober 2022 entgegen dem Wunsch der USA die Fördermenge zu reduzieren, was die Energiepreise weiter erhöhen dürfte. Damit haben sie sich aus der Sicht der USA mit Russland verbündet.

4 Fazit: Doppelmitgliedschaft, Konkurrenz und Kooperation

Russlands Überfall auf die Ukraine schärft die Konturen internationaler Antagonismen. Die unterschiedlichen Lager bestehen allerdings seit längerem und formierten sich in den letzten zwei Dekaden bereits deutlich. Dem politischen Westen mit seinen postulierten Werten der Demokratie, Marktwirtschaft, Menschenrechte und friedlichen Konfliktbeilegung steht zunehmend ein politischer Süden gegenüber, der nationale Autonomie, Nicht-Einmischung in interne Angelegenheiten und staatlich gesteuerte wirtschaftliche Entwicklung priorisiert. Der politische Süden verweigert sich der westlichen Militärhilfe für die Ukraine sowie den Sanktionen gegen Russland, pflegt nach wie vor enge Beziehungen mit Moskau und kritisiert westliche Weltordnungsansprüche als Bevormundung. Zentrale Akteure sind hierbei die Schwellenländer der BRICS, die in der letzten Dekade die Gründung neuer internationaler Organisationen als Alternativen zu den westlich dominierten Institutionen der LIO vorantrieben. Allerdings haben die Staaten des Südens die Institutionen der LIO nicht verlassen und führen meist ihre intensiven Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen weiter.

Im Ergebnis erlebt die internationale Politik eine stärkere Sichtbarkeit alternativer Weltordnungen. Die Alternativen schließen sich aber wirtschaftspolitisch nicht zwingend gegenseitig aus, sondern ergänzen sich aus der Sicht vieler Regierungen und führen daher zur Doppelmitgliedschaft als Regelfall. Diese spiegelt die vielfältigen materiellen Interessen und ideellen Erwartungshaltungen in den Gesellschaften des Südens, die sowohl stärkere Autonomie als auch starken ökonomischen Austausch mit dem Westen favorisieren. Während manche gesellschaftlichen Gruppen die Alternativen als konkurrierend empfinden, sind sie für andere komplementär. Dies eröffnet grundsätzlich die Möglichkeit einer künftig partiell wieder stärker gemeinsamen Weltordnung auf der Grundlage von Diversität und einer größeren Beteiligung von Schwellenländern (Rodrik und Walt 2022; Schirm 2019). Der Westen müsste allerdings eine multipolare Machtverteilung und die Vielfalt interner Ordnungsmodelle akzeptieren, um dafür eine stärkere globale Kooperation und Beachtung internationaler Regeln zu erreichen. Wahrscheinlich ist aber ein andauerndes Spannungsverhältnis zwischen Kooperation und Konkurrenz der Weltordnungen. Entscheidend für die jeweilige Anziehungskraft und Resilienz der alternativen Ordnungen sind langfristig die ökonomische Performanz der Modelle und kurzfristig der Ausgang des russischen Krieges in der Ukraine. Insofern ist der Erfolg der Unterstützung des Westens für die Ukraine auch ein Test für seine politischen, ökonomischen und militärischen Fähigkeiten zur Verteidigung und Durchsetzung seiner Vorstellungen von Weltordnung.