1 Einleitung

Die Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche und berührt auch den Sozialstaat. So zählen das Gesundheitswesen und die Arbeitswelt zu den Bereichen, in denen sich im Zuge der Digitalisierung eine grundlegende Transformation vollzieht. Angesichts der damit einhergehenden Quantifizierung ganzer Lebensbereiche, einer zunehmenden Individualisierung, Dynamisierung und Vernetzung sind insbesondere die Sozialversicherungen als „institutionelle[r] Kern“ (Buhr et al. 2016, S. 1) des Sozialstaats herausgefordert, die Chancen und Risiken der Digitalisierung stärker zu berücksichtigen. So wird das Self-Tracking – das permanente Übersetzen eigener körperlicher und seelischer Zustände in Daten mittels digitaler Technologien (Heyen 2020, S. 124; Mau 2017, S. 167) – mit Blick auf die solidarische Gesundheitsversorgung kontrovers diskutiert. Mal als Möglichkeit einer verbesserten personalisierten Gesundheitsversorgung begriffen, mal als Privatisierung sozialstaatlicher Aufgaben verstanden, steht das Versprechen einer Stärkung sozialstaatlicher Strukturen der Warnung vor der Erosion der sozialen Sicherungssysteme gegenüber. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die sogenannte Gig Economy. Hier werden einzelne Arbeitsaufträge über eine Onlineplattform an Soloselbständige vergeben. Diese können die Aufträge flexibel wählen und werden nach Abschluss dafür bezahlt. Zugleich laufen sie Gefahr, Teil eines „Digitalprekariat[s] ohne Schutz und Absicherung“ (Goffart 2020) zu werden, weil sie von den an die abhängige Lohnarbeit gebundenen Sozialversicherungen nicht abgesichert werden.

Digitale Innovationen fordern somit althergebrachte Strukturen heraus, indem sie neue Fragen aufwerfen oder alte neu stellen – man denke hier an die Debatten zu ‚analogen‘ Bonusprogrammen in Krankenversicherungen (Schmidt 2008) und die andauernde Diskussion über die prekäre soziale Absicherung Soloselbständiger v. a. im Alter (Schulze Buschoff et al. 2017). Schon 2006 hatte Frank Nullmeier diagnostiziert, dass die „Sozialversicherung [als] […] Solidaritätstechnologie, ausgerichtet auf die Bedürfnisse einer industriellen Gesellschaft […] [,] nicht mehr den veränderten Bedingungen [entspricht]“ (Nullmeier 2006, S. 178). Diese Diagnose trifft im Kontext der digitalen Konstellation (Berg et al. 2020) umso mehr zu (Nullmeier 2019). Damit ist nicht nur eine politische Institution herausgefordert. Auch Solidarität als wesentliche normative Grundlage und „inhaltliche Essenz“ (Butterwegge 2018, S. 32) des deutschen Sozialstaats steht auf dem Prüfstand. Mit dem Solidaritätsbegriff ist hier ein unscharfer Begriff aufgerufen, der angesichts seiner mannigfaltigen Verwendung zunehmend inhaltlich entleert zu werden droht. Entsprechend kontrovers werden die Folgen der Digitalisierung für die solidarischen Strukturen des Sozialstaats diskutiert. So befürchten die einen eine Entsolidarisierung, in der sozialstaatliche Aufgaben privatisiert werden und zuvor von Solidargemeinschaften getragene Lasten individualisiert werden. Andere betonen die Chancen für neue oder stärkere Solidaritäten und weisen auf die Möglichkeiten für neue solidarische Beiträge und die Erweiterung der solidarischen Praktiken durch digitale Technologien hin.

Diese Kontroverse um die Bedeutung der Digitalisierung für die solidarischen Grundlagen des Sozialstaats bildet den Ausgangspunkt dieses Artikels. Er geht der Frage nach, wie sich Solidarität als Strukturmerkmal und Praxis im deutschen Sozialstaat angesichts der Digitalisierung darstellt und wie sie weiterhin als „moralische Infrastruktur“ (Hinrichs 1995; Übers. Vf.) im Sozialstaat verstanden und zur Geltung gebracht werden kann. Dabei liegt der Fokus auf den Sozialversicherungen als „Prototyp der wohlfahrtsstaatlichen Solidarität“ (Möhle 2001, S. 158).

Dies verlangt in einem ersten Schritt nach einer Klärung des Zusammenhangs von Solidarität und Sozialstaat. Dazu zeige ich auf, wie sich die Sozialversicherungen formal als Arrangements institutionalisierter Solidarität begreifen lassen und wie Solidarität auch als Praxis im Sozialstaat Bedeutung zukommt. Eine solche formale Bestimmung läuft jedoch unter sich verändernden Rahmenbedingungen sowie sich wandelnden Macht- und Herrschaftsverhältnissen Gefahr, inhaltlich entleert zu werden, sodass Solidarität statt inhaltlicher Essenz nur noch formales Etikett ist. Deswegen führe ich eine machttheoretische Perspektive auf Solidarität ein, die es erlaubt, vier Minimalbedingungen für tatsächliche Solidarität zu formulieren. Diese können sodann als kritische Heuristik die Verschiebungen in der Solidarität in sozialstaatlichen Strukturen angesichts von Prozessen der Digitalisierung differenziert aufzeigen (Kap. 2). Diese Veränderungen und die Funktionalität der Heuristik stelle ich anhand der Phänomene Self-Tracking und Gig Economy dar, da sich hier paradigmatisch die Wirkung des digitalen Wandels auf die Solidarität in allen gesetzlichen Sozialversicherungen in Deutschland illustrieren lässt (Kap. 3). Diese Phänomene dienen in einem letzten Schritt als Beispiele, um zu zeigen, wie der digitale Wandel nicht nur eine Bedrohung für sozialstaatliche Strukturen darstellen kann. Vielmehr kann er so gestaltet werden, dass im wahrsten Sinne des Wortes neue, digitale „Solidaritätstechnologien“ (Nullmeier 2006, S. 178) entstehen (Kap. 4).

2 Solidarität als klärungsbedürftige Grundlage des Sozialstaats

Der Sozialstaat ist seit jeher mehr als nur eine politische Institution unter anderen. Vielmehr manifestiert sich in ihm und seinen Institutionen ein Konsens über bestimmte Werte und Normen (Möhle 2001; Krüger 2019). Hier kommt Solidarität eine doppelte Bedeutung zu: Einmal stellt sie in institutionalisierter Form ein Strukturmerkmal sozialstaatlicher Arrangements dar. Zudem wird sie als Praxis im gesellschaftlichen Aushandlungsprozess bedeutsam, in dem die sozialstaatlichen Ziele und deren Realisierung verhandelt werden. In beiden Fällen erweist sie sich jedoch als umstrittene Kategorie, die nach weiterer begrifflicher Bestimmung und differenzierteren Maßstäben für eine legitime Verwendung verlangt. Nach einer Einführung in die doppelte Bedeutung von Solidarität für den Sozialstaat (2.1) führe ich daher eine machttheoretische Perspektive auf Solidarität ein, die diese Maßstäbe bereitstellen kann (2.2).

2.1 Die doppelte Bedeutung von Solidarität für den Sozialstaat

Trotz der heterogenen Verwendung des Solidaritätsbegriffs lassen sich übergreifende Elemente identifizieren, die in den einschlägigen formalen Definitionen (z. B. Bayertz 1998, S. 14; Prainsack und Buyx 2016, S. 82) in unterschiedlicher Gewichtung auftauchen (Löschke 2015). Danach besteht der Kerngehalt von Solidarität in der Übernahme bzw. dem Leisten eines Beitrags innerhalb oder gegenüber einer Gruppe bzw. gegenüber einer Person, mit der man sich aufgrund einer Gemeinsamkeit oder relevanten persönlichen Beziehung identifiziert. Solidarität ist normativ abhängig, erhält also durch den Verweis auf ein weiteres normatives Prinzip wie Gerechtigkeit oder Freiheit ihre normative Verbindlichkeit (Löschke 2015, S. 72; Forst 2003, S. 49). Solidarität lässt sich auf mehreren Ebenen beobachten: einer individuellen, einer kollektiven und einer rechtlich-politischen (Prainsack und Buyx 2016, S. 83–88). Der (deutsche) Sozialstaat bzw. seine Institutionen stellen Beispiele für die Realisierung von Solidarität auf einer rechtlich-politischen Ebene dar (Prainsack 2018, S. 32; Prainsack und Buyx 2013, S. 76), die je nach konkreter Schwerpunktsetzung in unterschiedlicher Gewichtung auf Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit abheben (Krüger 2019, S. 34). In ihrer Entwicklung wird zugleich deutlich, dass „sich Solidaritätsansprüche in Rechtsansprüche verwandeln“ (Habermas 2013, S. 106) und institutionalisiert werden können.

In diesem Sinne ist die „Bildung einer Gemeinschaft, die sich gegen Risiken und Gefahren versichert und eine reziproke Beziehung zwischen Einzahlenden und Betroffenen schafft, […] der solidarische Kern des Wohlfahrtsstaates“ (Wallaschek 2020, S. 10). Dies zeigt sich prominent in den Sozialversicherungen als „primäre und dominante Sicherungsinstanzen“ (Lessenich 1999, S. 33) im Sozialstaat. Sie lassen sich als „Arrangement[s] institutionalisierter, generalisierter Solidarität“ (Lessenich 2013, S. 33) folgendermaßen ausdifferenzieren: Eine Sozialversicherung stellt einer bestimmten Zielgruppe, deren Mitglieder von „typischen Risiken moderner Gesellschaften“ (Lessenich 1999, S. 26) – wie einer geteilten Vulnerabilität in Bezug auf Krankheit – betroffen sind (Identifikation), Leistungen zur Verfügung, um einem sozialen Problem zu begegnen. Sie realisiert in diesem Sinne ein normatives Ziel wie den Erhalt der Gesundheit (darin manifestiert sich die normative Abhängigkeit des Begriffs). Dazu ist die Sozialversicherung auf einen Beitrag (zumindest finanzieller Natur) derer angewiesen, die potenziell von ihren Leistungen profitieren. Hier zeigt sich der reziproke Charakter dieser organisierten Solidarität, in dem die „Erwartung der Gegenseitigkeit mitgedacht“ (Kneuer und Masala 2014, S. 14) wird und der diese Sicherungssysteme von Institutionen der Fürsorge unterscheidet (Lessenich et al. 2020, S. 323).

Kritisch ist jedoch angemerkt worden, dass Solidarität – ganz der oben benannten Identifikation entsprechend – nur sinnvoll in Stellung zu bringen sei, wo sie freiwillig und aus dem Gefühl der Verbundenheit entstehe (Bayertz 1998, S. 37). „Die verordnete, anonyme Solidarität des Sozialstaats“ (Hampe 2014, S. 87) wird deswegen zuweilen als „Quasi-Solidarität“ (Bayertz 1998, S. 37) charakterisiert, die schon bei Bismarck nicht aus Solidaritätserwägungen, sondern zur Stabilisierung der damaligen Machtverhältnisse ins Leben gerufen worden sei (ebd.; Hampe 2014; Torp 2020). Gleichwohl lassen sich gerade für die gesetzlichen Sozialversicherungen „erhebliche, solidarische Umverteilungsaspekte“ (Hampe 2014, S. 91) feststellen, die – zumindest indirekt – durch die Wähler*innen legitimiert werden (ebd., S. 87). Zum Beispiel gilt für die Krankenversicherung, dass hier nicht nur die arbeitenden, vorrangig gesunden und jungen Versicherten, die weniger gesunden, arbeitslosen und alten Versicherten unterstützen (Schmidt 2008, S. 203). Angesichts der einkommensbezogenen Beiträge tragen auch die Besserverdienenden die Kosten für die Schlechterverdienenden mit; die kostenlose Familienversicherung kann als weiterer solidarischer Umverteilungsaspekt gelten (ebd., S. 203–204). Solidarität im Wohlfahrtsstaat beruht damit wesentlich „auf der Verteilung von Reichtum und Lebenschancen und einer Umverteilung von Gütern“ (Kneuer und Masala 2014, S. 14).

Neben dieser Bedeutung als Strukturmerkmal in sozialstaatlichen Arrangements wird Solidarität als konkrete Praxis im Sozialstaat relevant. Denn die Entwicklung der sozialstaatlichen Strukturen, die selbst Ergebnis eines historischen Aushandlungsprozesses sind, ist nicht abgeschlossen. Der Sozialstaat ist ständig im Wandel und alle sozialstaatlichen Reformen werden „von Diskursen begleitet, […] in denen bestehende Ordnungen sozialer Sicherung de- oder re-legitimiert, soziale Forderungen aufgestellt oder verworfen, mithin die normativen Grundlagen des Sozialstaates neu verhandelt werden“ (Köppe et al. 2007, S. 227). In diesen Auseinandersetzungen lebt mitunter Solidarität als „Kampfbegriff“ (Bayertz 1998) auf. So verweist Butterwegge darauf, dass allein die Existenz eines sozialen Problems üblicherweise nicht ausreiche, damit es zu einem entsprechenden sozialstaatlichen Handeln komme. Dazu „bedarf es vielmehr eines politischen Drucks, der nur entsteht, wenn sich die Betroffenen wehren und/oder einflussreiche Gruppen der Gesellschaft die Folgen des sozialen Problems fürchten“ (Butterwegge 2018, S. 41). Diese Praxis – eine bestimmte Gruppe handelt gemeinsam zur Beseitigung eines sozialen Missstands – lässt sich als weitere sozialstaatlich relevante Form von Solidarität verstehen, die in der Aushandlung der sozialstaatlichen Zielsetzungen Bedeutung erlangt.

Für beide Fälle gilt jedoch: Die einzelnen Elemente von Solidarität können sehr unterschiedlich gewichtet und interpretiert werden. Dies führt dazu, dass – wie aktuell in der Corona-Pandemie (Ellerich-Groppe et al. 2021) – sehr verschiedene Positionen mit dem Verweis auf heterogene Solidaritätsverständnisse gerechtfertigt werden (Lessenich et al. 2020). Während es beispielsweise die einen für solidarisch halten, in möglichst geringem Maße Mittel im Sozialstaat umzuverteilen und so die Freiheit der einzelnen sicherzustellen, verstehen andere eine weitaus umfangreichere solidarische Umverteilung als Manifestation eines besonders auf die Gleichheit der Bürger*innen bedachten Sozialstaats. Gerade weil Solidarität derart unterschiedlich in Stellung gebracht und inhaltlich gefüllt werden kann, sind differenzierte Maßstäbe für eine legitime Begriffsverwendung nötig. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Solidaritätsverhältnisse bestimmte Elemente formal aufweisen, sich in der konkreten Ausprägung dieser Elemente jedoch so weit von ihrem Kern entfernen, dass sie nur noch schwerlich als solidarisch gelten können. Wenn etwa eine Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) immer höhere Hürden für die Mitgliedschaft in der Solidargemeinschaft stellt oder in einem immer geringeren Umfang der Gesundheit der Versicherten zuträglich ist, mögen formal die einzelnen Elemente noch gegeben sein. Dennoch ließen sich Zweifel an der solidarischen Konstitution dieser Krankenversicherung anmelden. Auch vormals legitimerweise als solidarisch klassifizierte Verhältnisse können so aufgrund (schleichender) struktureller Veränderungen ihren solidarischen Charakter einbüßen, ohne sich formal zu ändern. Genauso ist stets die Legitimität von „Solidaritätsappelle[n]“ (Nullmeier 2006, S. 178) und Praktiken der Solidarität im politischen Diskurs zu prüfen. Ansonsten liefen solche – vermeintlichen – Solidaritäten Gefahr, auch illegitime Machtstrukturen zu kaschieren und zu rechtfertigen.

2.2 Eine machttheoretische Perspektive auf Solidarität

Als Maßstab für eine legitime Verwendung von Solidarität schlage ich deswegen eine machttheoretische Perspektive auf Solidarität vor, die es erlaubt, vier Minimalbedingungen für Solidarität zu formulieren. Diese bündeln existierende machttheoretische Überlegungen zu Solidarität, reflektieren für die einzelnen Elemente von Solidarität die zugrundeliegenden Machtstrukturen, -positionen und -interessen und können sie dadurch weiter ausdifferenzieren; sie machen sensibel für die Konstitution dieser Strukturen sowie Verschiebungen in diesen Arrangements. In der Folge können die Minimalbedingungen illegitime oder paradoxe Folgen dieser Veränderungen aufzeigen. Eine solche Perspektive stellt somit eine kritische Heuristik dar, um (vermeintliche) Solidaritätsverhältnisse zu analysieren sowie Diskurse zu Solidarität auf ihren Gehalt zu prüfen. So kann auch mit Blick auf sozialstaatliche Strukturen deutlich gemacht werden, bis wann trotz Veränderungen noch von einem Solidaritätsarrangement gesprochen werden kann, wann dieses Prinzip verloren geht oder wie es womöglich noch besser hervorgebracht werden kann.

Ein erster Aspekt einer machttheoretischen Perspektivierung von Solidarität liegt in den Voraussetzungen für das Entstehen einer Solidargemeinschaft. Entscheidend ist hier, auf welcher Grundlage sich Personen miteinander identifizieren bzw. eine Gemeinsamkeit feststellen, aufgrund derer sie sich miteinander solidarisch zeigen. Dass dieser Identifikationspunkt als entscheidende Voraussetzung für Solidarität erkannt wird oder erkannt werden kann, ist von individuellen und strukturellen Voraussetzungen abhängig. Auf individueller Ebene ist zunächst die Fähigkeit und – einen Schritt weitergedacht – auch die Bereitschaft notwendig, sich zu den eigenen sozialen Beziehungen zu verhalten und diese aktiv zu gestalten (Jaeggi 2001, S. 298). Diese individuelle Kapazität ist zugleich von strukturellen Bedingungen beeinflusst. Denn welche der sozialen Bezüge eines Individuums als solidaritätsrelevant erkannt werden (können), kann durch Machtstrukturen verschleiert sein. So geht Bourdieu davon aus, dass im Habitus die soziale Struktur inklusive etwaiger Macht- und Herrschaftsbeziehungen derart einverleibt ist, dass diese natürlich oder naturnotwendig scheint (Bourdieu 2018). Damit kann das Potenzial, sich mit jemandem zu identifizieren und diese Identifikation als solidaritätsrelevant zu erkennen, durch gesellschaftliche Machtstrukturen verstellt sein, weil diese nicht als veränderbar oder veränderungswürdig erscheinen. Für Solidarität ist somit eine Solidaritätsoffenheit notwendig; solidaritätsrelevante Beziehungen müssen erkennbar sein oder erkennbar gemacht werden. Dies umfasst einerseits den Aspekt, als Individuum eine Offenheit für die eigenen Identifikationspotenziale und Gemeinsamkeiten zu haben, auch wenn diese nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Das schließt auch eine Einsicht in die eigene Machtposition ein, „die uns von den weltgesellschaftlichen Verhältnissen gegeben ist, und in die daraus erwachsende, kollektiv geteilte Verantwortung“ (Lessenich 2019, S. 107). Dabei könnten sich – so Lessenich – die eigenen Privilegien zuweilen als Hindernisse erweisen. Andererseits geht es auch allgemein um die Mitwirkung an gesamtgesellschaftlichen Strukturen, die es einem selbst und anderen ermöglichen, Gemeinsamkeiten zu erkennen und Solidaritäten auszuprägen. Die Solidaritätsoffenheit hat damit eine subjektbezogene und eine strukturbezogene Komponente; beide zielen auf die Ermöglichung (nicht nur) eigener Solidaritäten und das Befördern von Solidaritätsgruppen insgesamt.

Berührt diese Bedingung der Solidaritätsoffenheit die Identifikation als Grundlage für das Entstehen einer Solidaritätsgruppe, wird mit der Bedingung der gestaltungsoffenen Inklusivität die Konstitution dieser Gruppe und ihre weitere Entwicklung thematisch. So sind Solidargemeinschaften – wie die der Sozialversicherungen – zunächst exklusiv bestimmt. Diese Abgrenzung des solidarischen Wir von den Anderen, ist nötig, damit Solidarität zur Geltung kommen und ihre Ziele erreichen kann (Rorty 1992, S. 308; Lessenich 2006). Zugleich liegt in dieser Konstitution des Wir im Kontrast zu anderen Gruppen das Risiko einer „perverse[n] Macht der Solidarität in jener Form, die Gegensätze zwischen verschiedenen Gruppen konstruiert“ (Sennett 2014, S. 372–373). Diese Macht meint insofern mehr als ‚bloß‘ Exklusivität, dass hier ergänzend die Gefahr solidaritätsbedingter Ausschlüsse und Abwertungen betont wird. Solidaritätsgruppen etablieren somit neue Machtstrukturen und nehmen Einfluss auf die gesellschaftlichen Machtstrukturen. Die Legitimität dieser neu geschaffenen bzw. veränderten Strukturen ist im Zusammenhang mit dem normativen Ziel der Solidaritätsgruppen immer zu hinterfragen. Allerdings lässt sich die strikte Grenzziehung zwischen dem Innen und Außen einer Solidaritätsgruppe sowie das Risiko solidaritätsbedingter Ausschlüsse bis zu einem gewissen Grad relativieren. Einerseits ist darauf hinzuweisen, dass eine Person immer in einem Netz von Abhängigkeiten zu verorten ist (Jaeggi 2001, S. 297) und dementsprechend in unterschiedlichen Solidaritäten begriffen sein kann (Derpmann 2013, S. 206). Diese können sich ergänzen und dadurch die Gefahr absoluter sozialer Ausgrenzung verringern (ebd.). Andererseits ist die Gestaltbarkeit der solidarischen Beziehungen und das damit einhergehende Inklusionspotenzial zu berücksichtigen (Jaeggi 2001, S. 299). Dies macht deutlich, „dass sich die Grenzen solidarischer Vergemeinschaftung durchaus verschieben bzw. dass diese verschoben werden können“ (Lessenich 2006, S. 182). Diese Frage der Inklusivität bzw. Exklusivität begegnet auch in der Diskussion, inwiefern weiteren Bevölkerungsgruppen die Teilhabe an der Solidargemeinschaft der Krankenversicherung ermöglicht werden soll. Inwieweit die „Tendenz zur Inklusion lediglich derer, die bereits in sie einbezogen sind, und […] zur Exklusion anderer, denen man gegebenenfalls (bestimmte) Solidaransprüche verweigern will oder muss“ (Deutscher Ethikrat 2017, S. 230), legitim ist, muss im Zusammenspiel mit den anderen Elementen von Solidarität im konkreten Fall bewertet werden. Dass aber die Gruppe und auch sozialstaatliche Institutionen als „exklusiv-inklusive[] Arrangement[s]“ (Lessenich 2006, S. 182) aktiv gestaltet werden müssen und damit immer das Potenzial zur Inklusion weiterer Personen besteht, gilt es zu berücksichtigen.

Wenn es um die Leistungen und die Finanzierung von Sozialversicherungen bzw. allgemein um den Beitrag der solidarisch Handelnden geht, ist damit die Beziehung der solidarisch Handelnden untereinander angesprochen. Es geht darum, in welchem Verhältnis Beitrag und Leistung stehen und in welchem Maß hier Verschiebungen legitim sind. Mit Blick auf Solidaritätsbeziehungen lässt sich die von Mauss etablierte Gabentauschbeziehung als Schlüsselelement identifizieren (ter Meulen 2017, S. 64; Prainsack 2018, S. 36–37). Mauss hatte in seiner ethnografischen Studie dargestellt, wie mit einer Gabe nicht nur die Verpflichtung verbunden wird, ein Geschenk zu erwidern, sondern ebenso die Verpflichtung, Geschenke zu machen, und die, Geschenke anzunehmen (Mauss 2019, S. 36). Damit entstehen aus der Gabe umfassende Verpflichtungen, Verbindlichkeiten und Beziehungsgefüge. Bourdieu sieht hier sowohl das Potenzial, „dauerhafte Verhältnisse auf Gegenseitigkeit“ (Bourdieu 2018, S. 206) zu schaffen, wie auch das Risiko, „Herrschaftsbeziehungen zu errichten“ (ebd.). Zwar lässt sich die Mauss’sche Gabentauschtheorie nicht eins zu eins auf die anonymeren, institutionalisierten und verrechtlichen Solidaritätsarrangements des Sozialstaats übertragen. Gleichwohl lassen sich für den Charakter der Beziehung der solidarisch Handelnden untereinander zwei Aspekte festhalten. So wird einerseits eine gegenseitige Verbindlichkeit bzw. Reziprozität deutlich, die als Moment sozialstaatlicher Solidarität gelten kann (Lessenich et al. 2020, S. 323). Andererseits ist gerade mit Blick auf Verschiebungen in den sozialstaatlichen Strukturen an Bourdieus Anmerkung zu erinnern. Wenn es zu einem zunehmend asymmetrischen Herrschaftsverhältnis kommt, in dem Leistungen und Beiträge in ein solches Ungleichgewicht geraten, dass die entstehenden Abhängigkeiten das normativ wertvolle Ziel der Solidarität konterkarieren, kann kaum mehr von Solidarität gesprochen werden.

In diesem normativen Ziel zeigt sich schließlich die normative Abhängigkeit von Solidarität. Danach zieht Solidarität ihre normative Verbindlichkeit aus dem Rekurs auf ein anderes Prinzip (Löschke 2015, S. 72) – im Fall des Sozialstaats etwa Gerechtigkeit oder Freiheit. Alle Macht, die der Sozialstaat bzw. eine seiner Institutionen ausübt, muss im Sinne dieser Prinzipien ausgeübt werden, damit von Solidarität gesprochen werden kann. Solidarität im Sozialstaat lässt sich so als Machtentfaltung im Sinne der normativen Ziele des Sozialstaats begreifen. Dabei ist eine Schwierigkeit, dass die normativen Ziele und die konkreten Schritte dorthin extrem umstritten und einem ständigen Aushandlungsprozess unterworfen sind. Dennoch wird mit dieser Bedingung die Möglichkeit ausgeschlossen, dass eine vermeintlich solidarische Handlung oder Institution beispielsweise ausschließlich individuellen politischen bzw. ökonomischen Machtinteressen oder allein der (Re‑) Produktion von Macht- oder Herrschaftsbeziehungen dient, ohne auch einem moralisch gerechtfertigten Ziel zu folgen. In diesem Sinne geäußerten Appellen an Solidarität fehlt eine wesentliche, gar die entscheidende Grundlage für Solidarität. Eine auf moralisch verwerflichen Einstellungen beruhende Solidargemeinschaft darf keine moralische Bedeutsamkeit beanspruchen (Derpmann 2013, S. 208). Nicht nur in Krisenzeiten ist deswegen kritisch zu prüfen, ob die Solidarität, zu der aufgerufen wird, oder die als solidarisch klassifizierte Struktur eine normative Rechtfertigung beanspruchen kann.

Die machttheoretische Perspektive von Solidarität verweist damit auf vier Minimalbedingungen – Solidaritätsoffenheit, gestaltungsoffene Inklusivität, angemessenes Beitrags-Leistungs-Verhältnis und normative Abhängigkeit –, mit denen sich der Status und die Verschiebungen in der Solidarität in sozialstaatlichen Strukturen angesichts von Prozessen der Digitalisierung detailliert analysieren lassen. Die letztgenannte Bedingung ist insofern entscheidend, als dass die drei anderen Bedingungen im Endeffekt auf sie verweisen. So stellen Solidaritätsoffenheit, gestaltungsoffene Inklusivität und angemessenes Beitrags-Leistungs-Verhältnis sicher, dass die Solidaritätsgemeinschaft tatsächlich im Sinne der normativen Abhängigkeit wertvolle Ziele verfolgt – und z. B. nicht eine auf Gerechtigkeit zielende Solidaritätsgemeinschaft im Endeffekt durch eine hohe Exklusivität (Bedingung gestaltungsoffene Inklusivität) oder ungerechte Forderungen an ihre Mitglieder (Bedingung angemessenes Beitrags-Leistungs-Verhältnis) ihr normatives Ziel konterkariert, weil sie mehr Ungerechtigkeit als Gerechtigkeit schafft.

3 Entsolidarisierung oder neue Solidarität? Der Sozialstaat in der Digitalisierung

Die entwickelte kritische Heuristik kann nun aufzeigen, wie sich die Solidarität im Sozialstaat angesichts von Digitalisierungsprozessen darstellt. Um dies exemplarisch für die Sozialversicherungen als Solidaritätsarrangements und solidarische Praktiken im Sozialstaat zu illustrieren, werden die Phänomene des Self-Trackings (3.1) und der Gig Economy (3.2) genutzt. Dabei wird deutlich, dass Prozesse der Digitalisierung einerseits die bestehenden Solidaritäten herausfordern können, ihnen andererseits das Potenzial zu ergänzenden Solidaritätstechnologien im Sozialstaat innewohnt.

3.1 Chance und Herausforderung für die solidarische Gesundheitsversorgung: Self-Tracking

Die transformativen Potenziale der Digitalisierung befördern eine zunehmende „Quantifizierung des Sozialen“ (Mau 2017), also die Entwicklung, mit Zahlen bzw. Daten das Soziale immer weiter zu vermessen und auch komplexe Sachverhalte nach Zahlen zu ordnen. Neue digitale Technologien und Anwendungen erweisen sich als Treiber eines schon vorher entstandenen Trends zur Vermessung und Verdatung (Duttweiler und Passoth 2016, S. 17–18). Ein eindrückliches Beispiel für dieses „Leben nach Zahlen“ (Duttweiler et al. 2016) ist das sogenannte Self-Tracking, in dem sich die gesamtgesellschaftliche Neigung zum Gebrauch von Zahlen widerspiegelt und reproduziert wird (Fröhlich und Kofahl 2019, S. 141). Unter Self-Tracking versteht man das kontinuierliche Übersetzen der eigenen körperlichen und seelischen Zustände in Daten mittels digitaler Technologien (Mau 2017, S. 167). Sämtliche Aktivitäten, Verhaltensweisen und Zustände des alltäglichen Lebens können z. B. mit Fitness-Trackern oder Wearables erfasst und ausgewertet werden (Heyen 2020, S. 124; Duttweiler und Passoth 2016, S. 10), etwa zur Kontrolle und Optimierung physiologischer Parameter wie Blutdruck oder Blutzuckerspiegel (zu unterschiedlichen Self-Tracking-Praktiken vgl. Lupton 2016; Sharon und Zandbergen 2017).

Die Gesundheitsversorgung erweist sich dabei als prototypisches Anwendungsfeld für das Self-Tracking (Selke 2016b). Neben der niedrigschwelligen und umfassenden Generierung von neuen Forschungsdaten werden insbesondere in der personalisierten Gesundheitsversorgung sowie der Präventionsmedizin und einem gesteigerten Gesundheitsbewusstsein große Potenziale des Self-Trackings für eine verbesserte, partizipative Gesundheitsversorgung gesehen (z. B. Funer 2021; Sharon 2017). Auch die Krankenversicherungen haben die Möglichkeiten des Self-Trackings für ihre Zwecke entdeckt. So werden schon jetzt von einigen Versicherern Bonusprogramme für diejenigen angeboten, die bereit sind, ihre Self-Tracking-Daten zu teilen (Henkel et al. 2018). Wurden bereits ‚analoge‘ Bonusprogramme (z. B. Bonuspunkte für die Mitgliedschaft in Sportvereinen) mit Blick auf die solidarische Gesundheitsversorgung kontrovers diskutiert (Schmidt 2008), erhält diese Diskussion durch die gesteigerte Möglichkeit der systematischen Erfassung und detaillierten Auswertung immer größerer Datenmengen im Self-Tracking neue Schlagkraft. Dies gilt auch für die Verwendung des Self-Trackings im Rahmen von individualisierten Versicherungstarifen, die in den aktuellen Entwicklungen angelegt ist (Mau 2017, S. 248). In diesen Modellen, die bereits in Lebensversicherungen genutzt werden, werden Self-Tracking-Daten aktiv und dynamisch für die Gestaltung der konkreten Versicherungsprämien genutzt (McFall 2019; Mau 2017, S. 117–118; Maschewski und Nosthoff 2021). Davon versprechen sich die Versicherer eine noch umfassendere Kostenreduktion bzw. die Minimierung des eigenen Geschäftsrisikos (Nosthoff und Maschewski 2019, S. 94). Mit dieser Risikoselektion und Individualisierung droht jedoch das auf solidarische Umverteilung fußende System der GKV unterlaufen zu werden. Es zeigt sich hier die Gefahr eines „paradoxalen Umschlag[s]“ (Honneth und Sutterlüty 2011, S. 74): Die emanzipativen, partizipativen (Erkenntnis‑)Potenziale und Versprechungen der Tracking-Technologien drohen in eine soziale Kontrolle und Überwachung zu kippen, in der originär ökonomische und kommerzielle Interessen der unterschiedlichen Beteiligten von der Technologie geweckt oder verstärkt werden (Nosthoff und Maschewski 2019; Rode 2019); hier zeigt sich die „autoritäre Dimension digitaler Selbstvermessung“ (Krüger 2021). Ein entsprechend ambivalentes Bild ergibt sich mit Blick auf den Status der Solidarität in der GKV, wenn die vier Minimalbedingungen zurate gezogen werden:

Mit Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Beiträgen und Leistungen fordert die machttheoretische Perspektive eine angemessene Verbindlichkeit, die jedoch nicht in ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis kippen darf. In der umfassenden Datenerhebung durch Self-Tracking wird zum einen das Potenzial für neue solidarische Beiträge wie Datenspenden für medizinische Forschung gesehen (Sanders 2017, S. 44–45; Deutscher Ethikrat 2017, S. 237–238), deren Ergebnisse dann den Ausgangspunkt für eine bessere Behandlung bilden können. Zudem gilt die solidarische Reduktion von Kosten für Behandlungen durch personalisierte Medizin als Chance (Prainsack und Van Hoyweghen 2020). Der dadurch erreichte effektivere Mitteleinsatz könnte sich durch umfangreichere Leistungen an anderer Stelle im Endeffekt für alle Mitglieder der Solidargemeinschaft lohnen. Zum anderen besteht wie angedeutet die Möglichkeit, die Self-Tracking-Daten für verhaltensbasierte Tarife zu verwenden. Diese Tarife sollen die Nutzer*innen zu einem bestimmten gesundheitsfördernden Verhalten motivieren, das dann einer Kostenreduktion dient (Arentz und Rehm 2016; Mau 2017, S. 248). Gerade für die GKV werden die Auswirkungen solcher verhaltensbasierter Versicherungsmodelle jedoch als gravierend bewertet, da sie dem Solidaritätsgedanken – verstanden im Sinne ausschließlich einkommensbezogener und nicht unter der Berücksichtigung individueller Risiken erhobener Beiträge – grundlegend widersprächen (Deutscher Ethikrat 2017, S. 234).

Sowohl das Heranziehen von Self-Tracking-Daten im Rahmen von Bonusprogrammen wie auch verhaltensbasierte Versicherungstarife werfen die grundlegende Frage auf, wie viel Eigenverantwortung von Einzelnen in solidarischen Gefügen eingefordert werden darf (Martani et al. 2019). Ein extremer Fokus auf einen bestimmten – durch Self-Tracking-Daten nachgewiesenen – Lebensstil als solidarischer Beitrag kann hier falsche Vorstellungen von gesundheitlicher Eigenverantwortung befeuern (Hummel und Braun 2020). Schließlich sind Lebensstile immer von sozialen Bedingungen abhängig, auf die das Subjekt selbst nur begrenzten Einfluss hat (Martani et al. 2019). Deswegen besteht hier die Gefahr einer Responsibilisierung, also einer übermäßigen Übertragung von Eigenverantwortung an Individuen. Die in diesem Zusammenhang entstehenden Verbindlichkeiten sind daher hinsichtlich möglicher Asymmetrien oder Herrschaftsverhältnisse innerhalb der Solidargemeinschaften zu prüfen. Dem Ideal der Freiwilligkeit kommt hier eine besondere Bedeutung zu (Hummel und Braun 2020), um ein angemessenes Verhältnis zwischen Beitrag und Leistung, Eigenverantwortung und Solidarität sicherzustellen.

Auch die Inklusivität der Gruppe ist zu berücksichtigen. So besteht die Gefahr einer Benachteiligung einzelner Gruppenmitglieder und im Extremfall die Gefahr eines Ausschlusses aus der Solidargemeinschaft, wenn keine Self-Tracking-Daten übermittelt werden (können). So droht einerseits die Benachteiligung derjenigen, die sich etwa aus Datenschutzgründen trotz guter Risikoprofile gegen eine Übermittlung entscheiden (Martani et al. 2019). Andererseits fallen diejenigen, die beispielsweise aufgrund mangelnder Technikkompetenz nicht teilnehmen können, aus dem Raster. Bei dem Aspekt der Inklusivität geht es somit nicht nur um den kompletten Ein- oder Ausschluss aus der Solidaritätsgruppe, sondern auch um gleichberechtigte Teilhabemöglichkeiten. Ansonsten kann die Personalisierung und Individualisierung von Versicherungspolicen zu einer gesteigerten Exklusivität der Versicherungsgemeinschaft führen. Zudem wird davor gewarnt, dass bei einer exzessiven risikostratifizierenden Gestaltung von Tarifen mittels Self-Tracking-Daten in der privaten Krankenversicherung (PKV) die GKV zum „Auffangbecken der ‚schlechten‘ Risiken aus der PKV“ (Deutscher Ethikrat 2017, S. 232; vgl. Mau 2017, S. 248–249) würde und sich im Endeffekt nicht mehr tragen könnte.

Dieser Aspekt berührt sodann die Bedingung der Solidaritätsoffenheit: Stellt für die Krankenversicherung die geteilte Vulnerabilität im Hinblick auf Krankheit einen wichtigen Identifikationspunkt dar, besteht die Gefahr, dass dieser durch die Verwendung von Self-Tracking-Daten in den Hintergrund rückt. So lassen sich auf dieser Basis differenzierte Risikoprofile mit hoher Prädiktivität für einzelne Personen erstellen. Dadurch besteht nicht nur die Gefahr, dass manche aufgrund ihres schlechten Risikoprofils kaum oder gar nicht mehr versicherbar scheinen (Nosthoff und Maschewski 2019, S. 95). Vielmehr kann die geteilte Vulnerabilität als Ausgangspunkt für die solidarische Krankenversicherung in den Hintergrund rücken und „einer Art fragmentierender Logik exklusiver Solidaritäten“ (Deutscher Ethikrat 2017, S. 232; vgl. auch Prainsack und Van Hoyweghen 2020, S. 139–140) weichen. Allerdings wird auch die gemeinschaftsstiftende Möglichkeit von Self-Tracking hervorgehoben (Sharon 2017, S. 112), z. B. geteilte persönliche Schwächen und Interessen sichtbar zu machen. Auch die Vulnerabilität als datafiziertes Subjekt allgemein kann potenziell solidaritätsstiftende Gemeinsamkeit sein (Prainsack und Van Hoyweghen 2020).

Entscheidend bei all diesen Überlegungen ist das normative Ziel der Krankenversicherung: der Erhalt der Gesundheit der Mitglieder der Solidargemeinschaft. Es ist immer zu prüfen, ob das Self-Tracking zu diesem normativen Ziel beiträgt und im Endeffekt allen Mitgliedern zugutekommen kann. Während der ökonomische Einsatz der knappen verfügbaren Mittel der Versicherer einerseits wichtiges Prinzip zur Wahrung der Gesundheit aller ist, dürfen andererseits die ökonomischen und kommerziellen Interessen der Versicherer und sonstiger Beteiligter gegenüber dem Wert der Gesundheit nicht überhand gewinnen. Diese Frage stellt sich umso drängender angesichts des Hinzutretens neuer Akteur*innen, wie den technischen Dienstleister*innen des Self-Trackings. So begreifen die großen Technologiekonzerne wie Apple und Google Gesundheit und deren Zukunft vorrangig als ökonomisches Potenzial und „lohnenswerte Geschäftsidee“ (Nosthoff und Maschewski 2019, S. 76–77) und haben ihre Geschäftsmodelle in den Bereich der Big Health ausgeweitet (vgl. hierzu den Beitrag von Maschewski und Nosthoff (2021) in diesem Heft). Der Wert der Gesundheit selbst rückt hier gegenüber dem quantifizierten, kommerziellen Wert der Gesundheit in den Hintergrund. Wenn nun Krankenversicherungen auf Technologien dieser Anbieter zurückgreifen, kommt es extrem auf die konkreten Datenschutzregelungen an, damit solche Kooperationen langfristig nicht den solidarischen Prinzipien zuwiderlaufen und die moralisch qualifizierten Ziele der Solidaritätsgruppe korrumpieren. Je nach Implementation können diese Akteur*innen somit nicht nur die institutionelle, sondern auch die moralische Infrastruktur verändern.

Eine den Minimalbedingungen entsprechende Implementation von Self-Tracking muss diesen paradoxen Konsequenzen des Self-Trackings begegnen und zeichnet sich damit durch zwei Aspekte aus: Es müssen einerseits die emanzipativen Potenziale und die originär der Gesundheit zuträglichen Aspekte berücksichtigt werden, ohne andererseits der von diesen Technologien befeuerten, absoluten Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung mit zunehmender (Selbst‑)Überwachung und Kontrolle anheimzufallen. Ein ähnliches Spannungsfeld zwischen Freiheit und Kontrolle sowie Empowerment und neu etablierten Herrschaftsstrukturen ergibt sich auch mit Blick auf Transformationen in der Arbeitswelt.

3.2 Veränderungen der Arbeitswelt: Gig Economy

Die digitale Transformation der Arbeitswelt zeigt sich eindrücklich in der Gig Economy. Wenngleich deren Bedeutung in Deutschland aktuell noch vergleichsweise gering einzuschätzen ist, bildet sie auch hier einen Trend, der zunehmend Relevanz entfalten wird (Schäfer und Schwarzkopf 2019). Dabei handelt es sich um einen Teil-Bereich der Plattform-Ökonomie. Liegt der Kern der Plattform-Ökonomie allgemein darin, mit technologischen Mitteln wie Apps und Algorithmen Angebot und Nachfrage in einem bestimmten Bereich bestmöglich aufeinander abzustimmen, geht es in der Gig Economy um die marktwirtschaftlich optimale Vermittlung von Arbeits- und Dienstleistungsaufträgen (Plöger und Keuneke 2021; Greef und Schroeder 2017, S. 15).

Kurzfristige, kleinere Aufträge werden also über eine Internetplattform an Arbeitende – die Gig-Worker – vergeben; prominente Beispiele sind Uber oder deliveroo. Grundsätzlich können die Aufträge ortsungebunden (beispielsweise Übersetzungs-Aufträge) oder ortsgebunden (etwa Liefer-Aufträge) zu erbringen sein. Die Plattform hat dabei die Funktion, Auftraggeber*innen mit Auftragnehmer*innen zusammenzubringen (Todolí-Signes 2017, S. 194–195). Damit sind, wie z. B. beim Fahrdienst Uber, teilweise sehr klare Vorgaben der Plattform für die Auftragserbringung verbunden (ebd.). Dennoch sind diejenigen, die die Arbeit übernehmen, keine Angestellten der Plattform oder der Auftraggeber*innen, sondern werden offiziell als selbständige oder freiberufliche Vertragspartner*innen aufgefasst (ebd., S. 195; Crouch 2019, S. 12; Prassl und Risak 2016, S. 619). Gerade wenn aber – wie im deutschen Sozialstaat – (abhängige) Lohnarbeit und soziale Sicherung eng miteinander verzahnt sind (Möhle 2001, S. 17; Torp 2020, S. 338), sind solche Konstellationen von besonderer Bedeutung für die sozialen Sicherungssysteme. So werden aufgrund des fehlenden Anstellungsverhältnisses Gig-Worker weder von der Pflichtversicherung für Arbeitnehmer*innen noch von der Sozialversicherungspflicht für bestimmte Selbständige erfasst (Pürling 2016, S. 413). Das hat Auswirkungen auf die Solidarität in den Sozialversicherungen. Im Gegensatz zum Self-Tracking, bei dem die GKV im Mittelpunkt stand, geraten hier nun zusätzlich Gesetzliche Arbeitslosen‑, Unfall- und Rentenversicherung in den Blick.

Blickt man auf das Verhältnis von Beitrag und Leistung, ist festzuhalten, dass der Wandel von abhängigen zu selbständigen Beschäftigungen im aktuellen Sozialversicherungssystem zu einem erheblichen Beitragsrückgang führt und damit ein wesentlicher Teil seiner Finanzierungsgrundlage entfällt (Pürling 2016, S. 413; Kruip 2020, S. 10). Dabei geht es im paritätisch organisierten deutschen System nicht nur um die Arbeitnehmer*innenbeiträge, sondern auch um die der Arbeitgeber*innen. Diese Finanzierungslücken können im Zweifel entweder eine Leistungskürzung oder eine Beitragserhöhung für die Leistungsberechtigten bedeuten. Gleichzeitig kann der schrumpfende Adressat*innenkreis als Entlastung der Versicherungsgemeinschaft begriffen werden, weil einige der aus vorherigen Tätigkeiten anspruchsberechtigten Personen aufgrund ihrer Arbeit in der Gig Economy nicht auf Leistungen angewiesen sind. So bietet die Gig Economy einen niedrigschwelligen Zugang zu Arbeit (Cherry 2016), der häufig nur eine geringe Qualifikation voraussetzt und sich außerdem gut als kurzfristige Überbrückung von Arbeitslosigkeit eignet (Schäfer und Schwarzkopf 2019, S. 11). Bei international tätigen Plattformen lassen sich zudem etwaige Diskriminierungen auf dem heimischen Arbeitsmarkt umgehen (Graham et al. 2017, S. 146–147).

Die Gig Economy ermöglicht somit den Beschäftigten eine hohe Flexibilität, Selbständigkeit und Unabhängigkeit, die z. B. eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeuten kann (Prassl und Risak 2016, S. 626). Mit dieser Flexibilität geht jedoch rasch eine einseitige Zuschreibung von Risiken und Verantwortlichkeiten an die Auftragnehmer*innen einher (Eichhorst und Rinne 2017, S. 7). Es gilt: Die Menschen können nicht nur die Organisation ihrer Arbeit (mit)gestalten, sie müssen es auch. Die Plattform, die als neue Akteurin das Arbeitsverhältnis erweitert, spielt hierbei eine wichtige Rolle. So bleibt ihre konkrete Bedeutung für das Beschäftigungsverhältnis und die soziale Sicherung schwammig, abgesehen davon, dass „die typische Plattform durch eine systematische Informations- und Machtasymmetrie charakterisiert ist“ (Schmidt 2017, S. 10; Übers. Vf.). Obwohl sie ökonomische Interessen verfolgt und durch die Vermittlung der Aufträge Gewinne erzielt, leistet sie keinen Beitrag zur sozialen Absicherung derjenigen, denen sie Arbeit vermittelt und deren Auftragserbringung sie zuweilen stark reguliert. Die solidarische Absicherung droht hier durch eine einseitige Übertragung von Verantwortung ersetzt zu werden.

Dies stellt auch für bestehende Solidaritätsgruppen ein Problem dar: Die Individualisierung der Arbeitsverhältnisse löst die Arbeitnehmer*innen aus dem Kollektiv einer Belegschaft und macht sie zu individuellen Auftragnehmer*innen. Die an wesentlichen Stellen an eine abhängige Beschäftigung gekoppelten Sozialversicherungen werden dadurch für diese Personen exklusiv; Gig-Worker sind aufgrund ihres Beschäftigungsstatus von den Rechten und Pflichten der Sozialversicherungen weitestgehend ausgeschlossen (Kruip 2020, S. 10). Damit ist das deutsche gesetzliche Sozialversicherungssystem hier deutlich exklusiver als z. B. in den Niederlanden, wo alle Bürger*innen grundversichert sind (Schulze Buschoff et al. 2017). Gerade vor dem Hintergrund der fortschreitenden Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen ist diese Exklusivität kritisch zu hinterfragen.

Die Frage nach der Identifikation als solidarische Versicherungsgemeinschaft scheint sich damit zunächst nicht zu stellen. Zugleich sind die durch die Sozialversicherungen versicherten Risiken für Gig-Worker ebenfalls gegeben. Sie können – mit der entsprechenden Offenheit für Solidarität – trotz oder gerade aufgrund der Heterogenität von Erfahrungsräumen und Lebenswelten ein Identifikationspotenzial darstellen, um alternative sozialstaatliche Strukturen anzuregen. Davon könnten dann weitere Personen wie Selbständige allgemein profitieren, deren problematische Absicherung durch die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Gig Economy wieder thematisiert werden kann (Meireis 2017, S. 233).

Die vorgenannten Entwicklungen betreffen auch das normative Ziel der sozialstaatlichen Strukturen: Gig-Worker erhalten keinen unmittelbaren Zugang zu den Sozialversicherungen, was in Abhängigkeit von grundständiger sozialer Sicherung resultieren und so die Belastung des Sozialstaats an anderer Stelle bedeuten kann (Eichhorst und Rinne 2017, S. 3). Allerdings droht ein Sozialversicherungssystem, das angesichts veränderter Beschäftigungsverhältnisse eine wachsende Zahl von Personen nicht mehr integrieren kann, sein normatives Ziel zu verfehlen. Vielmehr könnte die Exklusivität langfristig das Entstehen eines Zwei-Klassen-Arbeitsmarkts und einer Zwei-Klassen-Absicherung befördern, die für die normativen Ziele des Sozialstaats insgesamt problematisch scheint.

Auch in der Gig Economy begegnet damit ein ambivalentes Freiheitsversprechen, in dessen konkreter Umsetzung sich vorrangig eine Übertragung der sich aus dem Freiheitsvollzug ergebenden Verantwortung und weniger der Gestaltungsmöglichkeiten zeigt. Die Individualisierung und Dynamisierung der Beschäftigungsverhältnisse droht damit nicht in ein Empowerment, sondern in die Machtlosigkeit von vereinzelten Gig-Workern zu münden, denen die bestehenden Sozialversicherungsverhältnisse keine Absicherung oder Unterstützung bieten können. Eine solche Konstellation würde den Minimalbedingungen der Solidarität jedoch kaum gerecht.

4 Digitaler Wandel im Sozialstaat – digitale Solidarität?

Die Analyse des Self-Trackings und der Gig Economy unterstreicht, dass digitale Technologien und Prozesse der Digitalisierung nicht per se gut oder schlecht noch neutral, sondern zuvorderst gestaltungsoffen sind (Kranzberg 1986, S. 545; Berg 2018). Utopische Versprechungen sind deswegen genauso einseitig wie pauschale Warnungen vor dem Wandel „von der Solidargemeinschaft zur Elitengemeinschaft“ (Selke 2016a, S. 965). Gerade hinsichtlich der Solidarität im Sozialstaat erweist sich der digitale Wandel als gestaltungsbedürftig, damit z. B. kommerzielle Interessen von Technologiekonzernen und Plattformbetreiber*innen nicht die Solidaritäten im Sozialstaat unterminieren. Vielmehr gilt es die Potenziale von Datafizierung, Vernetzung und Dynamisierung im Sinne der normativen Ziele des Sozialstaats zu nutzen.

Im letzten Schritt soll skizziert werden, wie der digitale Wandel gestaltet werden kann, sodass er Ausgangspunkt für neue Solidaritätstechnologien im Sozialstaat sein kann. Dabei können digitale Realisierungen von Solidarität fruchtbar sein, in denen Solidarität mit digitalen Mitteln ermöglicht und befördert wird. Felix Stalder (2013) identifiziert vier Grundformen digitaler Solidarität: Commons, Versammlungen, schwache Netzwerke und Schwärme. Anhand zweier dieser Formen sollen nun Gestaltungsoptionen im digitalen Wandel exemplarisch aufgezeigt werden: Einmal wird anhand der Verwaltung von Self-Tracking-Daten in einem Commons skizziert, wie Solidarität in der digitalen Konstellation für den Sozialstaat als Strukturmerkmal bedeutsam sein kann (4.1). Sodann wird am Beispiel der Gig Economy das Potenzial schwacher Netzwerke für solidarische Praktiken in der Aushandlung der sozialstaatlichen Ziele illustriert (4.2).

4.1 Digitale Solidarität als Strukturmerkmal im sich wandelnden Sozialstaat

Von einer sozialstaatlichen Institution als Solidaritätsarrangement ist dann sinnvoll zu sprechen, wenn sie den herausgearbeiteten Minimalbedingungen ausreichend gerecht wird. Der digitale Wandel im Sozialstaat muss somit derart gestaltet werden, dass auch die – zunehmend digitalisierten – Arrangements den Minimalbedingungen (noch umfassender) entsprechen. Für Tracking-Technologien im Gesundheitswesen bedeutet dies, die originär gesundheitsfördernden Potenziale zu berücksichtigen, ohne einer datengetriebenen Kommerzialisierung von Gesundheit anheimzufallen. Idealerweise wäre ein gestaltungsoffenes, inklusives Arrangement zu schaffen, in dem durch eine selbstbestimmte Verwendung von Tracking-Technologien, Kosten gesenkt werden (angemessenes Beitrags-Leistungs-Verhältnis) und dadurch freiwerdende Ressourcen produktiv zum Wohl und zur Gesundheit aller eingesetzt werden (normative Abhängigkeit).

Für eine solch digital-solidarische Generierung und Verwaltung von Self-Tracking-Daten im Gesundheitswesen bietet sich ein Commons an. In einem Commons wird eine Ressource bzw. bestimmte Güter (common pool resources) von Mitgliedern einer Gemeinschaft (community bzw. den Commoners) im Rahmen selbstbestimmter Praktiken, Normen und Institutionen (dem Commoning) bereitgestellt, genutzt und verwaltet (Stalder 2016, S. 246; De Angelis 2017, S. 10). Diese verschiedenen Aspekte werden in den einzelnen Commons unterschiedlich ausgestaltet. Dennoch lassen sich Elinor Ostrom zufolge acht „Bauprinzipien“ identifizieren, die alle Commons in unterschiedlicher Ausgestaltung kennzeichnen (Ostrom 1999, 2011). Dazu zählen etwa klar definierte Grenzen zwischen den Nutzer*innen und der Ressource selbst, die Übereinstimmung mit den lokalen Gegebenheiten, gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse, abgestufte Sanktionen sowie Konfliktlösungsmechanismen (ebd.). Der Zugang zu Commons ist somit an bestimmte Bedingungen geknüpft, im Commons selbst herrschen jedoch inklusive Mechanismen zur Entscheidungsfindung vor (Stalder 2013, S. 21); die Prozesse des Commoning sind üblicherweise horizontal organisiert (de Rosnay und Stalder 2020, S. 1). Während Commons allgemein eine lange, vielfältige Tradition haben, zeichnen sich digitale Commons dadurch aus, dass hier die Ressourcen Daten, Informationen und Wissen sind, die online geschaffen oder verwaltet werden (ebd.). Wikipedia stellt dafür ein prominentes Beispiel dar (Lee und Staples 2018, S. 503). Commons lassen sich durchaus als solidarische Organisationsform der Güterverwaltung verstehen: Die Mitglieder einer begrenzten, aber generell offenen Gruppe, leisten auf Grundlage gemeinsam geteilter Werte und Überzeugungen jeweils einen Beitrag, um ein (normativ wertvolles) Ziel zu verfolgen.

Für eine Verwendung von Tracking-Daten im Rahmen der GKV lässt sich dies folgendermaßen konzipieren: Um die Daten von Tracking-Technologien zur bestmöglichen gesundheitlichen Versorgung aller zu produzieren und zu verwalten (Ziel; normative Abhängigkeit), schließen sich diejenigen freiwillig zusammen, die dieses Projekt gestalten wollen. Die Identifikationspunkte und Interessen können vielfältig sein und etwa das gemeinsame Risiko einer Krankheit sein. Alle Beteiligten leisten ferner einen Beitrag. Dieser umfasst nicht zwangsläufig ein Beisteuern von eigenen Tracking-Daten. Auch Beiträge zur weiteren Entwicklung der Ressource im Sinne von technischem Know-How in der Software-Entwicklung zur bestmöglichen und datenschutzkonformen Organisation der sensiblen Daten oder eine finanzielle Unterstützung sind wichtig zur Gestaltung des Commons (Stalder 2016, S. 266). Dadurch wird das in der GKV vorherrschende Solidaritätsprinzip – jede*r trägt bei, was er*sie kann – auch hier sichergestellt und eine hohe Inklusivität des Commons ermöglicht. Die Mitglieder des Commons verständigen sich gemeinsam über konkrete Verwendungszwecke und Organisationsformen und regulieren den Zugang zu den Daten. Damit bestimmen bzw. kontrollieren nicht Technologiekonzerne oder Versicherungen die Zwecke und Verwendung der Daten, sondern die Nutzer*innen selbst behalten in diesem transparenten, selbstbestimmten Umgang und der partizipativen Organisation die Kontrolle. Allein die Kontrolle über dieses umfassende Datenpaket stellt ein enormes Machtpotenzial gegenüber der GKV dar und erlaubt es den Commoners, Forderungen zu stellen und entgegen kommerzieller Verführungen eine umfassende Realisierung der Minimalbedingungen anzumahnen. Durch die Datenverwendung erreichte Mitteleinsparungen könnten so beispielsweise an die unmittelbare Entlastung der Mitglieder der Solidargemeinschaft oder an die Inklusion bisher ausgeschlossener Personengruppen gekoppelt werden.

Ferner spielen neben Fragen der Datenverwendung auch technische Aspekte der Datenerhebung und -organisation eine Rolle. Das schließt die Gestaltung der Tracking-Technologien selbst ein. Denn Entwicklung und Design der Tracking-Geräte präfigurieren und beeinflussen trotz grundsätzlicher Entscheidungsfreiheit die Nutzungsweisen (Rode 2019, S. 172–173). Aktuell werden diese Geräte vorrangig unter dem Versprechen der Emanzipation und des Empowerments vermarktet, befördern jedoch im „design of self care“ eine individuelle Selbstverantwortung (Schüll 2016) und eine datenbasierte Selbstbevormundung (Nosthoff und Maschewski 2019, S. 31). Auf lange Sicht ist deswegen für die commons-gesteuerte Datenerhebung und -organisation die Entwicklung von Geräten im ‚design of solidary we-care‘ erstrebenswert, die in ihrer Gestaltung die gemeinschaftliche, solidarische Nutzung nahelegen.

Commons existieren nicht isoliert, sondern sind Teil größerer sozialer Systeme, die mit der Praxis der Commons konfligieren können (Stalder 2016, S. 251). Konkret ist angesichts der unterschiedlichen Funktionslogiken die Verzahnung des Commons mit bestehenden sozialstaatlichen Strukturen eine Herausforderung. Hier ist sowohl eine Einhegung des Commons, also eine Begrenzung seiner Wirkungsmöglichkeiten, wie auch eine Vereinnahmung als simple Problemlöseinstanz zu vermeiden (De Angelis 2014). Beispiele aus der Softwareentwicklung zeigen allerdings, dass eine Verschränkung auch kommerzieller Institutionen mit Commons möglich und sogar hilfreich ist (Stalder 2016, S. 257). Um eine Begrenzung zu vermeiden, ist ein flächendeckendes Grundmaß digitaler Infrastruktur notwendig, damit solidarische Innovationen nicht ungewollte Exklusivität befördern. Weiterhin ist jenseits der sowieso digitalaffinen, jüngeren Bevölkerungsteile die Mitwirkungsmöglichkeit an digitalen Commons zu schaffen und zu befördern, um die Inklusivität dieser digitalen Realisierung von Solidarität sicherzustellen.

4.2 Digitale Praktiken der Solidarität im sich wandelnden Sozialstaat

In der Gestaltung des digitalen Wandels im Sozialstaat geht es nicht nur darum, die sozialstaatlichen Arrangements um digitale Institutionalisierungen von Solidarität zu ergänzen. Auch erlangen digitale Formen von Solidarität als konkrete Praxis Bedeutung, wenn es etwa in der Gig Economy darum geht, ein besseres Passungsverhältnis zwischen (beschäftigungsbedingten) Risiken und (sozialstaatlicher) Absicherung einzufordern. Eine Solidarisierung mit digitalen Mitteln ermöglicht es Gruppen und Einzelpersonen in diesem Aushandlungsprozess, mehr Macht zu entfalten und wirkmächtig auf Verbesserungsbedarfe, erhaltenswerte Strukturen und blinde Flecken hinzuweisen. Dabei können verschiedene Solidaritätsgruppen unterschiedliche berechtigte, durch die Minimalbedingungen gedeckte Ansprüche formulieren. Einmal mehr erweist sich Solidarität als „graduelle und vielschichtige Angelegenheit“ (Prisching 2003, S. 190; Hervorh. im Orig.).

Die Bedeutung digitaler Vernetzung bei der Initiierung solidarischer Praktiken lässt sich anhand der Herausforderungen der Gig Economy aufzeigen. Die Flexibilität und Individualisierung der Arbeit in der Gig Economy verbindet sich üblicherweise mit einem Freiheitsversprechen, das jedoch durch ein Einschränken der Gestaltungsmöglichkeiten und eine einseitige Responsibilisierung konterkariert wird. Zugleich ist aufgrund der – häufig gezielten – Vereinzelung der Gig-Worker durch die Plattformen die Möglichkeit der Identifikation und des Entstehens einer kollektiven Identität eingeschränkt. Diese ist jedoch Grundlage, damit Solidarität entstehen kann. Es gilt somit sowohl auf der subjektiven Ebene wie auf der strukturellen Ebene Solidaritätsoffenheit zu fördern, die dann den Ausgangspunkt für neue – digital und analog organisierte – Solidarität bietet. So erlangen die Gig-Worker einerseits eine machtvollere Position gegenüber den Plattformen und können beispielsweise deren Mitwirken an der sozialen Absicherung oder eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einfordern. Andererseits liegt darin die Basis, um ausgehend von der gemeinsamen Betroffenheit von prekärer Absicherung im sozialpolitischen Diskurs Wirkmacht im Sinne der normativen Ziele des Sozialstaats zu entfalten.

Digitale Kommunikation und Vernetzung bieten hier eine Möglichkeit, um Nähe zwischen physisch weit voneinander entfernten Gig-Workern herzustellen (Graham et al. 2017) und eine „plattform-basierte kollektive Identität“ (Morgan und Pulignano 2020, S. 30; Übers. Vf.) zu schaffen. Dabei kommt sogenannten schwachen Netzwerken eine besondere Rolle zu. Damit gemeint sind „Gruppen mit einem zwar umfangreichen, aber lockeren und daher beschränkten sozialen Austausch“ (Stalder 2013, S. 19). Wie wichtig diese Netzwerke für das Entstehen und die Schaffung von Solidaritätskulturen sind, zeigen Heiland und Schaupp (2020) in ihrer Studie zur Situation von Kurierfahrer*innen in Deutschland: Entgegen der technischen und sozialen Atomisierungstendenzen der Plattformen sind von den Kurierfahrer*innen selbst organisierte informelle Chatgruppen eine Möglichkeit, „die Vereinzelung der Plattformarbeit zu überwinden“ (ebd., S. 60). Neben allgemeinem Austausch werden gegenseitige Hilfeleistungen wie der Tausch von Schichten und Fahrradreparaturen, aber auch gemeinsame Freizeitgestaltungen über diese Gruppen organisiert (ebd., S. 61). Zugleich stellen sie die Grundlage für Proteste zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und für das Entstehen auch institutionalisierter Interessenvertretungen dar (ebd., S. 62). Heiland und Schaupp verweisen hier beispielhaft auf den Fall eines Beschäftigten, dessen Account von der Plattform wegen einer unliebsamen Meinungsäußerung deaktiviert worden war. Ausgehend von den informellen Chatgruppen wurden eine Unterschriftensammlung und ein gemeinsamer Brief an das Management initiiert; als Reaktion wurde der Account wieder freigeschaltet (ebd.).

Auch für die von Amazon betriebene Gig-Working-Plattform Mechanical Turk existieren beispielsweise auf Facebook und reddit Foren, auf denen sich die Gig-Worker austauschen, Tipps geben und (solidarische) Unterstützung anbieten. Trotz der heterogenen Gruppenzusammensetzung ist hier aufgrund der gemeinsamen Arbeitswelt ein Zugehörigkeitsgefühl bzw. eine emotionale Identifikation zu beobachten (Lee und Staples 2018, S. 506–507). Als Ziel dieser Gruppen kann gelten, „die Arbeitsbedingungen für Clickwork im konkreten Arbeitskontext, zum Teil aber auch strukturell zu verbessern“ (ebd.).

Gerade in stark vereinzelten Beschäftigungszusammenhängen liegen damit in der digitalen Kommunikation erste wichtige Anknüpfungspunkte, um eine Offenheit für die gemeinsame Situation und eine Grundlage für die Identifikation als Solidaritätsgruppe zu schaffen. Gleichwohl gilt: Die Face-to-face-Kommunikation stellt eine wichtige Ergänzung in der Herausbildung von Kulturen der Solidarität dar (Heiland und Schaupp 2020, S. 60–61). Auch Tassinari und Maccarone (2020) identifizieren mit Blick auf Proteste unter Kurierfahrer*innen in Italien und Großbritannien digitale Kommunikation wie WhatsApp-Gruppen, aber eben auch analoge Räume des Austauschs wie gemeinsame Wartezonen als Ausgangspunkt für kollektive Identität und gemeinsames Handeln. Genauso waren die resultierenden Protestformen nicht nur digital (etwa im Sinne eines kollektiven Ausloggens aus der App), sondern ebenso von analogen Kundgebungen geprägt (ebd.). Während digitalen Netzwerke für das Anbahnen von Solidaritätsoffenheit, alltägliche Hilfeleistungen und kleinere, kurzfristige Protestformen damit eine Bedeutung zukommt, ziehen größere Streiks und dauerhafte, stabile Proteste ihre (gesamtgesellschaftliche) Wirkmächtigkeit offenbar auch aus der analogen Realisierung und Institutionalisierung der digital angebahnten Solidarität. Für diese Stabilisierung kommt dann wiederum die Zusammenarbeit mit etablierten Akteur*innen im sozialstaatlichen Diskurs infrage: Sowohl in Deutschland (Heiland und Schaupp 2020, S. 63) wie auch in Großbritannien (Tassinari und Maccarone 2020, S. 42–43) führten erste Erfolge durch – digital initiierte – Proteste schon zu Kooperationen mit (Basis‑)Gewerkschaften.

Damit solidarische Praxen digital angestoßen werden können, müssen einerseits die entsprechende digitale Infrastruktur und die individuelle Kompetenz zur digitalen Kommunikation und Vernetzung gegeben sein, damit diese nicht ein exklusiver Raum werden. Andererseits gilt es, die oft kommerziellen Interessen der jeweiligen Betreiber*innen der Kommunikationstechnologien stets im Blick zu behalten, damit diese nicht die Solidarisierung oder die Reichweite bestimmter Aufrufe negativ beeinflussen (Stalder 2013, S. 32; Lee und Staples 2018, S. 506). Schon jetzt greifen soziale Bewegungen deswegen in ihrer Organisation häufig auf freie Software und Open-Source-Alternativen zurück (Baringhorst 2019, S. 154). Sofern aber diese Voraussetzungen vorliegen, können – dies illustrieren oben genannte Beispiele – schon jetzt digitale Kommunikation und Technologien eine wichtige Rolle für solidarische Praxen im Sozialstaat spielen. Denn wenngleich sie analoge Protestformen nicht vollständig ersetzen können, können sie diese dennoch bedeutend ergänzen, erweitern und so Solidarität befördern (Healy et al. 2017, S. 6).

5 Fazit: Der Sozialstaat in der Digitalisierung – mehr als solidarisch

Solidarität als „moralische Infrastruktur“ des Sozialstaats und seiner Sozialversicherungen steht angesichts der Digitalisierung auf dem Prüfstand. Der digitale Wandel, wie er sich in Phänomenen wie Gig Economy und Self-Tracking zeigt, fordert die bestehenden Solidaritätstechnologien heraus. Entgegen der nun von manchen befürchteten Entsolidarisierung und Kommerzialisierung sozialstaatlicher Institutionen, ist jedoch eine Gestaltung dieses Wandels möglich, die nicht nur ein Fortbestehen, sondern sogar eine Erweiterung der sozialstaatlichen Institutionen verspricht. Mit digitalen Mitteln können so im wahrsten Sinne des Wortes die von Nullmeier geforderten neuen Solidaritätstechnologien entstehen. Commons als solidarische Organisationsform von Self-Tracking-Daten wie auch das Befördern von Identifikation und Solidaritätsoffenheit mittels digitaler Kommunikation und Vernetzung sind hier nur zwei diskussionswürdige Ansätze.

Damit diese und weitere Ansätze aber tatsächlich Solidarität erhalten und befördern können, kommt es auf die konkrete Ausgestaltung des Wandels an. Insbesondere ist sicherzustellen, dass alle an den neuen Solidaritätstechnologien teilhaben können und es nicht – aus strukturellen oder individuellen Gründen – zu einer digitalen Spaltung kommt. Es wird zudem eine besondere Herausforderung sein, die neuen mit den bereits bestehenden (womöglich reformierten) Solidaritätstechnologien sinnvoll zu verzahnen.

Die vorgeschlagenen Minimalbedingungen für Solidarität können für diese und weitere Solidaritätstechnologien einen ersten Maßstab bereitstellen. Dabei sind die Bedingungen Solidaritätsoffenheit, gestaltungsoffene Inklusivität, angemessenes Beitrags-Leistungs-Verhältnis und normative Abhängigkeit nicht abschließend und müssen in ihrer Anwendung fortlaufend geprüft und verbessert werden. Gleichwohl können sie dazu beitragen, dass Solidarität als Strukturmerkmal und als Praxis im sich wandelnden Sozialstaat zur Geltung gebracht werden kann. So kann sich ihre positive Macht entfalten, ohne auf der Kehrseite defizitäre sozialstaatliche Strukturen zu rechtfertigen und illegitime Macht- und Herrschaftsstrukturen zu (re‑)produzieren.

Solidarität kommt somit in den sozialstaatlichen Strukturen auch in der Digitalisierung eine herausragende Bedeutung zu. Allerdings kann sie nicht alleinige normative Grundlage des Sozialstaats sein. Denn zum einen ist der Sozialstaat mehr als die hier vorrangig betrachteten Sozialversicherungen. Zum anderen verweist bereits die normative Abhängigkeit von Solidarität auf weitere Normen wie Gerechtigkeit und Freiheit, die für die normativen Grundlagen relevant sind. So hebt Torp (2020, S. 338) etwa die Bedeutung „institutionell verfestigte[r] Gerechtigkeitsprinzipien“ für den Sozialstaat hervor. Wie sich die Bedeutung dieses und weiterer Prinzipien im Zusammenspiel mit Solidarität für die normativen Grundlagen des Sozialstaats in der digitalen Transformation konkret darstellt, muss Gegenstand weiterer Theoriebildung sein. Die in diesem Beitrag vorgenommene Verknüpfung von Normativität und Machtkritik kann dafür eine lohnende Perspektive darstellen. So wäre ganz konkret beispielsweise die Etablierung neuer, digitaler Partizipationsverfahren anzudenken, die eine nicht nur solidarischere, sondern auch gerechtere Gestaltung sozialstaatlicher Strukturen befördern könnten. In diesen weiterführenden Überlegungen gilt es zudem zwischen den verschiedenen sozialstaatlichen Institutionen zu differenzieren. Schon jetzt aber zeigt sich: Der Sozialstaat kann im Zuge des digitalen Wandels nicht nur solidarischer werden; er muss auch mehr als nur solidarisch sein.