1 Hinführung

Kein historischer Zeitabschnitt kann als so intensiv erforscht gelten, wie die zwölf Jahre des ›Dritten Reiches‹ (vgl. Echternkamp 2018, S. VII). Zahllose Überblickswerke wie spezialisierte Einzelstudien zu den verschiedensten Facetten der Jahre 1933 bis 1945 geben ein kaum mehr überschaubares Bild der geschichts-, kultur-, sozial- aber auch sprachwissenschaftlichen Beschäftigung mit den geschichtlichen aber auch gesellschaftlich-kulturellen sowie mentalitätsbezogenen Zusammenhängen.

Bestimmte Aspekte scheinen sich aber dem analytischen Blick der verschiedenen (inter-)disziplinären Zugänge weiterhin zu versperren. Einer dieser Fragenkomplexe, der trotz aller Ausdeutung zu einem immer wieder neuen Ansetzen mahnt, ist die Frage nach den Hintergründen des Handelns nationalsozialistischer Täter: »Seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches […] sind immer wieder zwei grundsätzliche Fragen gestellt worden: 1. Wer waren die Menschen […]? und 2. Wie konnten sie so brutale Maßnahmen in einem so gewaltigen Umfang Tag um Tag durchführen?« (Boehnert 2000, S. 254).

So scheinen sich die Verbrechen nationalsozialistischer Akteure einer semantischen Fixierung zu entziehen (vgl. Von Glasenapp 2006, S. 151). Zugleich ist der Blick der Forschenden u. U. deutlicher getrübt: So verweist z. B. Ian Kershaw darauf, dass der traditionelle methodische Zugriff von HistorikerInnen – sich dem Forschungsgegenstand einfühlsam-verstehend und ohne moralisches Urteil anzunähern (vgl. 1999, S. 35) – »im Fall des Nationalsozialismus und Hitlers eindeutig unmöglich [ist]« (1999, S. 35). Insbesondere bei Erforschungen der Täterhandlungen in den verschiedenen Konzentrationslagern als »Orte des Terrors« (Echternkamp 2018, S. 186) sowie Erklärungsversuchen des Holocausts »stößt der Historiker bald an die Grenzen seines Vermögens« (Kershaw 1999, S. 148).

Ein weiteres forschungsethisches Problem stellt sich noch zusätzlich: Durch die Fokussierung auf die Handlungen von NS-Akteuren, sowohl der Führung als auch subalterner Befehlstäter, stehen diese Tätergruppen erneut im Vordergrund, während die schon im ›Dritten Reich‹ marginalisierten oder zum Verstummen gebrachten Akteure z. B. des Widerstands oder der Verfolgten auch im Nachgang und damit nachhaltig übergangen werden. Dieser Problematik kann sich dieser Beitrag ebenfalls nicht entziehen, geht es doch um die Aufarbeitung und funktionale Reflexion des kommunikationsstrategischen Handelns eines zentralen nationalsozialistischen Täters im Kontext des Holocausts: Dem Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß, der für den Tod von über einer Millionen Menschen verantwortlich ist (vgl. Rimmele 1998, S. 229).

Anhand seiner »vom September 1946 bis zum Januar 1947« (Broszat 1963, S. 9) entstandenen Aufzeichnungen soll im Rahmen des Aufrufens eines ausdifferenzierten KonzeptesFootnote 1 von Innerlichkeit,Footnote 2 dessen kommunikationsstrategischer Einsatz sowie kommunikationsstrategische Funktion untersucht werden, um so aus linguistischer Perspektive einen Beitrag zur Erforschung des Täter-Handelns und vor allem der Täter-Inszenierung zu leisten.Footnote 3

Dabei wird Innerlichkeit als ein durch Höß aufgerufenes Konzept verstanden,Footnote 4 das in einem kommunikationsstrategischen Sinne der Entfaltung ›seiner‹ Geschichte, ebenso wie der versuchsweisen Steuerung einer wie auch immer gearteten rezipientenseitigen Interpretation seiner Aufzeichnungen und damit einhergehend seiner Handlungen und Haltungen dienen soll. Anhand der Analyse dieser thesenhaft aufgestellten Aspekte soll das oft wenig reflektiere kommunikationsstrategische Handeln nationalsozialistischer Täter (vgl. Kämper und Schuster 2018, S. 2) in den Vordergrund rücken.

Somit will der Beitrag verschiedenen sowohl geschichts- als auch sprachwissenschaftlichen Forschungsherausforderungen begegnen: Er schließt einerseits produktiv an geschichtswissenschaftliche Mahnungen des kritischen Hinterfragens des Stellenwertes nachträglich angefertigter Ego-Dokumente an, die oft ohne Reflexion der von den Textproduzenten verwendeten Strategien ausgewertet werden (vgl. Boehnert 2000, S. 257–258).Footnote 5 Auch die bisherige Erforschung der Höß’schen Aufzeichnungen weist in dieser Hinsicht Leerstellen bzw. Unstimmigkeiten auf, wie z. B. die Ausführungen Gunnar Boehnerts, es fänden sich in diesen kaum Hinweise auf die Darstellung innerer gedanklicher oder seelischer Abläufe (vgl. 2000, S. 264). Gerade das (kommunikationsstrategisch inszenierte) Gegenteil, so die These dieser Ausführungen, ist der Fall – Höß benutzt ein Konzept von Innerlichkeit als Interpretationsfolie für seine Aufzeichnungen und damit auch seiner Person (in einem selbstinszenierenden Sinne).

Andererseits wird aus linguistischer Perspektive auf die Bedeutung des Herausarbeitens und der Ausdeutung nationalsozialistischer Konzepte und Strategien verwiesen. In dieser Hinsicht gilt als konsensual, dass der Sprachgebrauch zwischen 1933 und 1945 insgesamt er- bzw., was die lexikalische und die rhetorische Ebene betrifft, ausgeforscht ist (vgl. Schlosser 2013, S. 12; Kämper und Schuster 2018, S. 1; sowie Kämper 2018, S. 10).Footnote 6 Gleichzeitig bestehen bis heute Forschungslücken: »Die sprachliche Wirklichkeit wird in ihrer Komplexität insofern nicht annährend adäquat abgebildet, als bisher weder akteursspezifischer Sprachgebrauch noch kommunikativ-interaktive Praktiken auf Basis größerer Korpora untersucht wurden« (Kämper und Schuster 2018, S. 2). Dahingehend will die Analyse einen Beitrag leisten sowohl zum akteursspezifischen Sprachgebrauch (Rudolf Höß’) als auch zu den kommunikativen Strategien (durch die Reflexion des Einsatzes eines Konzeptes von Innerlichkeit in einem kommunikationsstrategischen Sinne der Selbstinszenierung und Rezeptionsteuerung) der NS-Akteure.

Methodisch ist der Beitrag dem Forschungszweig der linguistischen Hermeneutik (im Sinne Bernd Ulrich Bieres (u. a. 2008), Andreas Gardts (u. a. 2007), Fritz Herrmanns (u. a. 2009) und Werner Hollys (u. a. 2007)) zugeordnet. Er schließt zudem an die Forderung Heidrun Kämpers an, die »Darstellung und Beschreibung zentraler Texte der deutschen Sprache […] [als] eine der wichtigen Aufgaben der Sprachwissenschaft« (2007, S. 302) zu sehen.

Aus (text-)hermeneutischer Perspektive wird davon ausgegangen, dass »Texte […] keine ›objektiven Bedeutungen‹ [haben], die vom Leser erschlossen werden könnten, weil Bedeutung erst vom Leser in der Rezeption geschaffen wird« (Gardt 2007, S. 265). Das bedeutet, dass Verständnis des Sinns und Inhalts ebenso wie der darin verwendeten kommunikativen Strategien sowie Konzepte in einem hermeneutischen close-reading-Verfahren erst herausgearbeitet werden müssen. Zu diesem Zweck können keine festen Analyseschritte angegeben bzw. aus anderen Analysen abgeleitet werden.Footnote 7 Stattdessen muss der Text in seinem individuellen Text-Sein wahrgenommen werden und »nicht nur als Repräsentant[…] einer Textsorte, eines Texttyps usw.« (Gardt 2007, S. 278, Hervorhebung im Original).

Zur theoretischen Vorbereitung wird in einem ersten Schritt skizzierend auf zentrale Forschungsbewegungen der geschichts- und sozialwissenschaftlichen Erforschung des Täterhandelns im ›Dritten Reich‹ eingegangen. Insbesondere die Konzeptualisierung Hannah Arendts von der Banalität des Bösen soll dabei im Vordergrund stehen. Einerseits, weil diese Formel vielfach auf Rudolf Höß übertragen wurde,Footnote 8 andererseits, da Arendts Konzept von Banalität ein Fehlen von Innerlichkeit (vgl. Margalit und Motzkin 2000, S. 203) zugrunde liegt (siehe Abschnitt 2), das vor dem Hintergrund der hier behandelten Zusammenhänge unmittelbar relevant erscheint. Weiterhin soll knapp auf das Konzept Innerlichkeit selbst eingegangen werden. Schließlich werden Hinweise auf die Biographie des Textproduzenten sowie die Beurteilung seiner Aufzeichnungen gegeben, bevor es zur texthermeneutischen Ausdeutung kommt.

2 Paradigmen, Kontinuitäten und Anschlüsse an die geschichts- und sozialwissenschaftliche Täterforschung zum ›Dritten Reich‹

Relativ rasch nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur konzentrierte sich nicht nur die geschichts- sondern auch u. a. sozialwissenschaftliche Forschung auf die Frage der Hintergründe, psychologischen Profile und Dispositionen, die das Handeln der Täter erklärbar machen sollten. So unternahm z. B. Theodor W. Adorno während seines amerikanischen Exils sowie seiner Tätigkeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung den Versuch, mit sozialpsychologischen Methoden (Fragebögen und Interviewverfahren) (vgl. Müller-Doohm 2011, S. 448–449) in mehreren Studien (vor allem Studies in the Authoritarian Personality (2003b [1950]) und (mit Abstrichen aufgrund eines etwas verschobenen Forschungsfokus) Schuld und Abwehr (2003a [1955]) die Persönlichkeitsstrukturen aufzudecken, die ein Individuum »particulary susceptible to antidemocratic propaganda« (Adorno 2003b [1950], S. 149) machen.

Abseits dieser Studien, die den autoritären oder (proto-)faschistischen Charakter zu ergründen suchten, konzentrierten sich Forschungen schnell auf die Täter selbst: »Nicht nur Hitler, sondern auch die Hauptorganisatoren und -manager des Holocaust sind ausführlich untersucht worden. Den ersten Versuch, den sozialpsychologischen Charakter der KZ-Wächter zu erfassen, unternahm Eugen Kogon im Jahre 1947« (Boehnert 2000, S. 255). Lange Zeit blieb die Forschung dabei auf Einzeltäter beschränkt, ohne übergeordnete diskursive Rahmungen zu berücksichtigen (vgl. Echternkamp 2018, S. 191). Diese Neuausrichtung vollzog sich erst in den letzten Jahren.

Insgesamt gelten drei Erklärungsansätze der nationalsozialistischen Täterforschung als konsensual:

  1. a)

    Zunächst ist der Aspekt der Normalisierung hervorzuheben. Schnell wurde deutlich, dass die Täter meist ohne größere psychische Probleme (vgl. Welzer 1997b, S. 93) handelten und in ihren nachträglichen Aussagen »keine Schwierigkeiten [hatten], ihre eigene Person, damals wie heute, als ungebrochen und kontinuierlich wahrzunehmen« (Welzer 2005, S. 13). Dies hängt vor allem mit der Normalisierung bestimmter Handlungen wie Haltungen während der NS-Diktatur zusammen: »Die nationalsozialistische Moral erhebt die Auslöschung von Menschen in den Status einer moralischen Verpflichtung« (Welzer 2005, S. 67) und ermöglicht so ein Handeln, das unter anderen Umständen als moralisch falsch abgelehnt wurde.

  2. b)

    Ein zweiter, damit aber zusammenhängender Aspekt ist die durch die NS-Ideologie entstehende Teil-Ganzes-Kollektivierung, die es dem Einzelnen ermöglicht, individuelle Verantwortlichkeit abzulehnen, um so befreit, als Teil einer größeren Ordnung, zu handeln (vgl. Welzer 2005, S. 267–268; oder Theweleit 2015, S. 214–215).

  3. c)

    Schließlich ist die Situationsgebundenheit zu nennen, die auch die Interpretationen ihrer Handlungen durch die Täter erklärbarer werden lassen: Denn »diese verändern sich innerhalb sich verändernder Situation[en], so dass die Abstimmung zwischen Situation und Verhalten erhalten bleibt, während das Ganze in der retrospektiven Aufsicht so aussieht, als würde nur die Person sich widersprüchlich verhalten« (Welzer 2005, S. 151; Hervorhebungen im Original). Dergestalt sind es die Normalisierungen der sich verändernden Situationen, die moralische Entgrenzungen möglich machen: »Menschen existieren in einem sozialen Universum, und deshalb sollte man tatsächlich alles für möglich halten« (Welzer 2005, S. 259; Hervorhebung im Original).

Eine der wirkungsmächtigsten Konzeptualisierungen des nationalsozialistischen Täters ist die Beschreibung Adolf Eichmanns durch Hannah Arendt, die im Rahmen der Charakterisierung seiner Handlungen und Haltungen von der »Banalität des Bösen« (Arendt 1986 [1964], S. 371; Hervorhebung im Original) spricht. Sowohl ihr methodischer Zugriff als auch Arendts Verständnis von Banalität berühren zentrale Zusammenhänge dieses Beitrages und sollen daher zumindest in Grundzügen dargestellt werden:

Arendts in eine Form von Essay gebrachter Prozessbericht stellt »ein bedeutendes Dokument jüdischer Selbstreflexion über Auschwitz« (Diner 2000, S. 133) dar und ist zugleich einer der kontroversesten Texte über die Vernichtung der europäischen Juden (vgl. Diner 2000, S. 120). Insbesondere das Konzept der Banalität des Bösen war für viele (insb. Überlebende) unannehmbar (vgl. Smith 2000, S. 8) und wird bis heute als »schwieriger Gedanke« (Villa 2000, S. 135) beurteilt, »der groben Fehlinterpretationen Tür und Tor öffnet« (Villa 2000, S. 135). Das hat auch Arendt selbst so wahrnehmen müssen, die in einem Rundfunkgespräch mit Joachim Fest (09.11.1964) ihre Konzeptualisierung nachträglich zu erklären sowie zu schärfen suchte: Neben der für sie unbestreitbaren Tatsache von Eichmanns Banalität (vgl. Arendt und Fest 2013 [1964], S. 43) besteht für sie das Missverständnis in der Wahrnehmung dieser: »Man hat geglaubt, was banal ist, ist auch alltäglich. Nun, ich glaubte … Ich habe es so nicht gemeint. Ich habe keineswegs gemeint: Der Eichmann sitzt in uns, jeder von uns hat den Eichmann und weiß der Deibel was. Nichts dergleichen!« (Arendt und Fest 2013 [1964], S. 42–43). Stattdessen erklärt sie im weiteren Gesprächsverlauf, dass sie Banalität im Sinne eines fehlenden Verständnisses sowie fehlenden Willens zur Empathie versteht.Footnote 9 Für Arendt wurde Eichmann so zu einem neuen und bisher nicht vorstellbaren Tätertypus, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er weder über ein Motiv verfügte, noch die Folgen seines Handelns abschätzte (vgl. Villa 2000, S. 246–247). Es war Eichmanns »Gedankenlosigkeit« (Villa 2000, S. 247) bzw. »gedankenlose ›Normalität‹« (Villa 2000, S. 249) die ihn für Arendt haben banal werden lassen.

In diesem Zusammenhang spielt für sie auch das Konzept der Innerlichkeit bzw. inneren Stimme eine zentrale Rolle. Denn die politische Philosophin spricht Eichmann – im Rahmen der Beurteilung seiner AuthentizitätFootnote 10 – nicht nur einen eigenen Standpunkt, sondern auch eine eigene Stimme ab (vgl. Margalit und Motzkin 2000, S. 203). Das Fehlen dieser inneren Stimme ist ein Schlüssel zum Verständnis von Arendts Verdikt hinsichtlich Eichmanns fehlender Empathie: Eine innere Stimme bzw. ein innerer Dialog (im Sinne von Innerlichkeit; siehe Punkt 3 des Beitrages) ist »eine Vorbedingung für das Zustandekommen von Empathie. Sie vermißte an den Nazis diese Fähigkeit zur Empathie und sie schrieb dieses Defizit nicht einem Mangel an richtigen Instinkten zu, sondern dem Fehlen eines inneren Dialogs« (Margalit und Motzkin 2000, S. 209). Aufgrund dieses Fehlens wird Eichmann inauthentisch (vgl. Margalit und Motzkin 2000, S. 215) und Arendt spricht ihm so die Fähigkeit zum reflektierten Selbst-Denken ab: »Indem Hannah Arendt Inauthentizität als Fehlen des inneren Dialogs bestimmt, den sie zur Voraussetzung des Denkens macht, läßt sich Inauthentizität bei ihr von einer Unfähigkeit zu denken potenziell nicht mehr unterscheiden. Eichmann war inauthentisch, also konnte er nicht denken« (Margalit und Motzkin 2000, S. 214); eine ebenfalls kontroverse Interpretation von Eichmanns Wesen, die vor allem die Frage nach den Intentionen seiner Selbstinszenierung durchaus nahelegt.

Tatsächlich sind inzwischen sowohl in der Täter- als auch Eichmann-Forschung Stimmen laut geworden, die Arendts interpretative Konzeptualisierung Eichmanns in Frage stellen und auf den von Arendt nicht durchschauten Inszenierungsimpetus verweisen: Nach Klaus Theweleit fällt sie »auf Eichmanns Maske herein. Sie sieht einen mediokren Beamten, der sich auf seine Gehorsamspflicht beruft« (2015, S. 225; Hervorhebung im Original). Sie sieht einen solchen Mann, weil Eichmann seine kommunikativen Strategien in diesem Sinne ausrichtete. Daher gehört es für Bettina Stangneth, die in ihrer Analyse Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders dessen Leben sowie seine (Verteidigungs‑)Strategie vor Gericht einer kritischen Re-Lektüre unterzieht, zu einer der folgenreichsten Einsichten, »dass ein Mensch gar nicht zu den Intelligentesten gehören muss, um sogar Menschen mit herausragender Intelligenz dazu zu verleiten, sich selber mit den eigenen Waffen zu schlagen: dem Wunsch, die Erwartungen bestätigt zu sehen« (2014, S. 23).

Dahingehend müssen die Interviews oder Zeugenaussagen, ebenso wie die während oder nach dem Handeln angefertigten Ego-Dokumente der nationalsozialistischen Täter hinsichtlich ihrer verwendeten kommunikativen Strategien und Ziele kritisch reflektiert werden. In diesem Sinne sollen die Aufzeichnungen Rudolf Höß’ texthermeneutisch ausgedeutet werden. Der längere Exkurs zu Arendts Konzeptualisierung von Eichmann dient dabei als Kontrastfolie, um Arendts Interpretation von Eichmanns fehlender Innerlichkeit mit Höß’ Selbstinszenierung vergleichen zu können.

3 Das Konzept von Innerlichkeit: Zu seinen historischen Aus- und Umprägungen

Das Konzept Innerlichkeit lässt sich – auch historisch – in verschiedene Unterformen ausdifferenzieren und wurde durch verschiedene Geistesströmungen unterschiedlich ausgeprägt. Im DWDSFootnote 11 findet es sich in der Bedeutung »das innerliche Wesen, das reiche Seelenleben« betreffend relativ unbestimmt charakterisiert wieder. Diese Unbestimmtheit zeigt sich auch mit Blick auf das Wörterbuch der Brüder Grimm (Online-Version),Footnote 12 in dem eine Definition fehlt und statt dessen Zitate (u. a. Dahlmanns oder Goethes) diese Funktion übernehmen sollen. Bezieht man die Gebräuchlichkeit des Ausdrucks in die skizzierende Darstellung mit ein,Footnote 13 so zeigt sich ein Höhepunkt der Gebrauchsfrequenz um 1839, die kontinuierlich nachlässt, aber in den 1920ern und ab 1942 bis 1949 eine Renaissance erfährt. Der Ausdruck »erscheint offenbar zuerst 1779 bei Klopstock zur Bezeichnung eines poetischen Darstellungsverfahrens« (Von Heydebrand 1976, S. 386) und ist damit (in einem ungefähren Sinne) der Frühromantik zuzurechnen (vgl. Kohlschmidt 1955, S. 152). Er wird von Goethe aufgegriffen, der ihn im Sinne »von ›innere Natur‹ des Menschen oder der Nation« (Von Heydebrand 1976, S. 386) verwendet. Schließlich rekurriert auch Hegel kanonisierend auf Innerlichkeit als u. a. »Sphäre des reflektierten geistigen Seins« (Von Heydebrand 1976, S. 387, Hervorhebung im Original) bzw. als ein Verhalten, das die innere Sphäre von der Äußerlichkeit der Welt abgrenzt (vgl. Von Heydebrand 1976, S. 387).

Dabei ist schon früh zwischen Innerlichkeit und innerer Sinn unterschieden worden. Beide Aspekte stehen aber in einem expliziten Verhältnis zueinander bzw. kann der innere Sinn als Teil von Innerlichkeit verstanden werden (vgl. Kohlschmidt 1955, S. 130): Innerlichkeit ist in dieser Hinsicht das übergeordnete Konzept des Nach-Innen-gewendet-Seins des Individuums im Gegensatz zur Exteriorität der Äußerlichkeit (vgl. Regenborgen und Meyer 2013, S. 317 oder Engmann 2017, S. 2). In diesem Sinne kann Innerlichkeit einen »Rückzug in die Innerlichkeit« (Burkhard 2008, S. 269), aber auch die »Ablehnung äußerer Autoritäten« (Burkhard 2008, S. 269) bedeuten. Als Haltung der Innerlichkeit bezieht sich das Konzept des inneren Sinns ergänzend auf die Fähigkeit des Ichs, eigene innere Vorgänge wahrzunehmen (vgl. Regenbogen und Meyer 2013, S. 317). Damit lässt sich innerer Sinn beschreiben als »Wissen von dem, was im Bewußtsein vorgeht« (Clauberg und Dubislav 1923, S. 234).

Als Konzept erfährt Innerlichkeit schon früh eine Nationalisierung bzw. »wird offenbar schon in der ausgehenden Romantik […] als eine deutsche Eigenart entdeckt und behauptet« (Von Heydebrand 1976, S. 387). Auch wenn es nicht zu den bekannten umgedeuteten oder (neu-)geprägten Konzeptelementen nationalsozialistischer Ideologie gehört, ist dennoch die Frage zu stellen, inwiefern letztere auf die Ausprägung des Konzeptes u. U. Einfluss genommen hat. Zu diesem Zweck wurde das 1940 erschienene Werk Deutsche Innerlichkeit des Kunsthistorikers Ulrich Christoffels ausgewertet, um eine zeitgenössische Konzeptualisierung von Innerlichkeit der Analyse zugrunde legen zu können:

Christoffel sieht in Innerlichkeit den Kern geistig-kulturellen aber auch völkisch-nationalen Schaffens: »Aus der letzten Einsamkeit des Inneren entspringt die Entfaltung und Gestaltung des Lebens« (1940, S. 111). Dieses »innere Leben« (1940, S. 109) als »das Wesentliche des Daseins« (1940, S. 109)Footnote 14 wird zwar ebenfalls im Sinne des Nach-Innen-Sehens gebraucht, erhält aber schon im Vorwort eine nach außen gehende Konnotation in dem Sinne, dass sich der deutsche Volksgeist gerade in der innerlichen Empfindung zeige.Footnote 15Innerlichkeit wird so wieder sowohl an das Individuum als auch die Nation bzw. das Volk gebunden und zu einem nicht nur subjektiven, sondern auch kollektiven Konzept der (nun nicht mehr nur) Selbst-Erkenntnis (im Sinne von Kant und Hegel), sondern des Selbst-Empfindens.

Ziel dieser skizzierenden Darstellung des geistes- bzw. kulturgeschichtlichen Konzeptes von Innerlichkeit lag einerseits darin, dieses charakterisieren zu können und andererseits – ähnlich der Beschreibung von Arendts Begriff der Banalität des Bösen – einen Ausgangspunkt zu schaffen, von dem aus die Verwendung von Innerlichkeit durch Rudolf Höß nachvollzogen werden kann. Wenn dieser von innerlichen Prozessen spricht oder von einer Selbstversenkung in die eigene Innerlichkeit (siehe Punkt 5), sollen diese Beschreibungen mit Rekurs auf die dahinterliegenden und diskursiv geprägten Konzepte einer Innenwelt bzw. von Innerlichkeit ausgedeutet werden. Bevor es dazu kommt, werden in einem letzten Schritt Höß als Textproduzent und seine Aufzeichnungen als Text-Dokument vorgestellt.

4 Zur Person des Rudolf Höß und den von ihm verfassten Aufzeichnungen

In der (Täter‑)Forschung zum Nationalsozialismus ist unbestritten, dass Rudolf Höß »als einer der größten Massenmörder des ›Dritten Reiches‹« (Koop 2014, S. 7) zu gelten hat. Der Kaufmannssohn wurde am 25.11.1901 in Baden-Baden geboren und am 16.4.1947 in Auschwitz hingerichtet (vgl. Rimmele 1998, S. 228). Seine Biographie kann als charakteristisch für viele nationalsozialistische Täter gelten: Er gehörte nach dem Ersten Weltkrieg »zu den Tausenden von entwurzelten und verrohten Kriegsteilnehmern, die nicht mehr in das zivile Leben zurückfanden« (Boehnert 2000, S. 259). Daher schloss er sich einem der vielen Freikorps an. Gleichzeitig trat er 1922 in die NSDAP ein (vgl. Boehnert 2000, S. 259). 1924 wurde er aufgrund seiner Beteiligung an der brutalen Ermordung des Lehrers Walter Kadow zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. »Erwiesen ist, dass es sich beim Mord an Kadow um einen besonders grausamen und brutalen Totschlag handelte« (Koop 2014, S. 29). Allerdings verbüßte Höß für den »Parchimer Fememord« (Rimmele 1998, S. 228) nur vier Jahre und wurde 1928, auch auf Bestrebungen Wilhelm Fricks, begnadigt (vgl. Rimmele 1998, S. 228; und Koop 2014, S. 45). Im September 1933 erfolgte sein Eintritt in die SS (vgl. Rimmele 1998, S. 228), der »als wichtiger Wendepunkt in seinem Leben angesehen werden [muss]« (Boehnert 2000, S. 260). Trotz seiner Beziehung zu Martin Bormann verlief Höß’ Karriere in der SS eher schleppend (vgl. Koop 2014, S. 57). Zwischen 1934 und 1938 war er Blockführer im KZ Dachau und wurde dann ins KZ Sachsenhausen versetzt, bei gleichzeitiger Beförderung zum SS-Hauptsturmführer. Von Mai 1940 bis November 1943 war er Kommandant des KZs Auschwitz, von Mai bis Juli 1944 Standortältester in Auschwitz (vgl. Rimmele 1998, S. 228). In der Zwischenzeit (November 1943 – April 1944) wurde er in der Amtsgruppe D im SS-Wirtschafts- und Verwaltungsamt (WVHA) in Berlin eingesetzt und im Mai 1944 Chef des Amtes DI im WVHA. Vom November 1944 bis Mai 1945 war Höß im KZ Ravensbrück eingesetzt. Danach setzte er sich nach Flensburg ab und tauchte mit falscher Identität auf einem Bauernhof unter. Am 11 März 1946 wurde er vom britischen War Crimes Investigation Team aufgespürt und verhaftet. Ab diesem Zeitpunkt befand er sich bis zu einer Auslieferung an die polnischen Behörden am 25. Mai 1946 in britischer Gefangenschaft. Seine autobiographischen Aufzeichnungen fertigte er in polnischer Gefangenschaft an.

Höß »nahm als Leiter von Auschwitz nie selbst an Selektionen oder Massenhinrichtungen teil, u. a., weil er sich im Umgang mit den Häftlingen für zu weich hielt« (Rimmele 1998, S. 228). Übereinstimmend wird er in der Forschungsliteratur als gehorsam, anpassungsfähig sowie (nahezu fanatisch) ordnungsliebend charakterisiert (vgl. Boehnert 2000, S. 260; oder Koop 2014, S. 10–11). Er beschrieb sich selbst, auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als strikten Antisemiten (vgl. Koop 2014, S. 72) und »Nationalsozialist[en] im Sinne einer Lebensauffassung« (Höß 1963 [1947], S. 229). In seinem Essay Sozialingenieur der Vernichtung: Rudolf Höß charakterisiert Harald Welzer Höß als »Prototyp[en] eines social engineers […], der auf der Basis eines wissenschaftlichen Erkenntnis- und Handlungsmodells operiert und gerade darum, nicht aufgrund etwa sadistischer oder schizoider Dispositionen, ein außerordentlich erfolgreicher Lagerkommandant werden konnte« (1997b, S. 97). In diesem Sinne weist er die in der Forschung bestehende Konzeptualisierung Höß’ als innerlich leer zurück (vgl. 1997b, S. 102). Stattdessen sah er ihn als aktiven, zielgeleiteten Akteur, »der industrielle und bürokratische Funktionsabläufe mit wissenschaftlich fundierter und geschmeidig angepaßter Menschenbehandlung zu kombinieren suchte« (1997b, S. 102) und dabei u. a. im KZ Auschwitz das geeignete »Laboratorium des Sozialen« (1997b, S. 100) betrachtete.

Die autobiographischen Aufzeichnungen Höß’, als eine Form des Psychogramms (vgl. Welzer 1997b, S. 97), wurden von der geschichts- und sozialwissenschaftlichen Forschung ebenfalls schon erfasst, wenn auch vornehmlich unter quellenkritischen Aspekten. Dementsprechend finden sich vor allem Bestrebungen, den Faktizitätswert des Textes zu bestimmen. In seiner Biographie des Auschwitz-Kommandanten kommt z. B. Volker Koop zu dem Schluss, dass Höß vielfach Unstimmigkeiten und faktische Fehler in seine Aufzeichnungen eingebaut hat, u. a. im Rahmen einer Selbstaufwertungsstrategie: »Geradezu atemberaubend ist es, wie Höß Unwahrheiten zu Papier bringt und Wahrheiten verdrängt« (Koop 2014, S. 211). Das hohe Mitteilungsbedürfnis, das Höß während seiner Gefangenschaft entwickelte (vgl. Koop 2014, S. 123) und das ihn zum Verfassen seiner Aufzeichnungen brachte, ist in diesem Sinne als strategisch wahrzunehmen und muss vor diesem Hintergrund reflektiert werden. Der Stilisierungsgrad wie -gestus von Höß findet sich explizit in seinen Ausführungen und zeigt sich z. B. anhand der Inszenierung von Authentizität.Footnote 16 Im Zusammenhang dieser Inszenierungsstrategie sollen nun die Rekurse Höß’ auf ein Konzept von Innerlichkeit inszenierungsstrategisch ausgedeutet werden, um so einen Zugriff auf die Selbstinszenierungen der nationalsozialistischen Täter zu ermöglichen.

5 Auswertung bzw. Interpretation der Höß’schen Aufzeichnungen

Dass Höß das Konzept Innerlichkeit als dominierende Gliederung seiner Aufzeichnungen versteht bzw. einen solchen Zugriff vermittelt, wird gleich zu Beginn seines Textes deutlich, indem er hervorhebt, dass der thematisch-inhaltliche Aufbau anhand dieses Konzeptes organisiert ist:

  1. (1)

    »Im Folgenden will ich versuchen, über mein innerstes Leben zu schreiben. Ich will versuchen, aus der Erinnerung wirklichkeitsgetreu alle wesentlichen Vorgänge, alle Höhen und Tiefen meines psychischen Lebens und Erlebens wiederzugeben« (Höß 1963 [1947], S. 31).

Schon im ersten Satz wird mit der Nominalphrase innerstes Leben nicht nur ein Konzept von Innerlichkeit als leitende Bezugsgröße gesetzt, das im nächsten Satz noch spezifiziert wird und durch den Hinweis auf alle Höhen und Tiefen meines psychischen Lebens und Erlebens einer klassischen Definition von Innerlichkeit sehr nahekommt (vgl. Burkhard 2008, S. 269), sondern zugleich Höß’ Bewusstsein für die eigene innere Verfassung fokussiert. Mit letzterem Aspekt rekurriert er auf das Subkonzept des inneren Sinns als Bewusst-Werden bzw. -Sein der eigenen inneren Vorgänge (vgl. Clauberg und Dubislav 1923, S. 233) und inszeniert sich als zur innerlichen Reflexion sowie (Selbst‑)Erkenntnis fähiger Akteur.

Somit werden spezifische Rahmungen der sich anschließenden Ausführungen vorgenommen, die sowohl das Verständnis von Höß als Textproduzent sowie Interpret des eigenen Lebens als auch die weiteren Beschreibungen lenken sollen:Footnote 17 Indem Höß auf die Beschreibung seines innersten Lebens verweist sowie auf alle wesentlichen Vorgänge seines psychischen (sprich innerlichen) Lebens, ruft er auch die raum- wie grenzmetaphorische Kraft des Innerlichkeits-Konzeptes aufFootnote 18 und erklärt sich zugleich zum einzigen Interpreten seiner Handlungen, da nur er – diese Kompetenz leitet er aus seinem methodischen ›Ethos‹ ab, alle wesentlichen Vorgänge wirklichkeitsgetreu wiederzugeben – Zugang zur eigenen Innerlichkeit hat. Dass er sowohl von der Existenz einer solchen ausgeht und sich die Fähigkeit zuspricht, sein Inneres auszudeuten, führt eine Inszenierungsstrategie der Authentizität im Arendt’schen Sinne ein, als »Fähigkeit des Menschen, einen inneren Dialog über seine Handlungen zu führen« (Margalit und Motzkin 2000, S. 208). So deutet sich schon eine Inszenierungstaktik an, die Elemente der eigenen Authentizität und selbstreflexiven Moralität anhand des zur Gliederung seines Textes eingesetzten Konzeptes von Innerlichkeit in den Vordergrund rückt und im weiteren Verlauf als von Rezipierenden zu verwendende Interpretationsfolie zum Einsatz kommt.

Dabei kommt das Konzept im Rahmen der Aufzeichnungen ausdifferenziert zum Einsatz. Induktiv erschlossen ergeben sich fünf Zuschreibungskategorien bzw. -elemente (siehe die horizontale Spalte der Tabelle), anhand derer Innerlichkeit verwendet und inhaltlich gefüllt wird. Bezogen auf die Textgliederung (in 10 Einzelabschnitte;Footnote 19 siehe die vertikale Spalte der Tabelle) ergibt sich die in Tab. 1 angelegte Übersicht, welche Zuschreibungselemente von Innerlichkeit in welchen Abschnitten verwendet werden.

Tab. 1 Übersicht der Ausdifferenzierung eines Konzepts von Innerlichkeit in den verschiedenen Textabschnitten der Aufzeichnungen Rudolf Höß’

Ohne die einzelnen Zuschreibungs- bzw. Ausdifferenzierungselemente an dieser Stelle konkret zu erläutern (dies soll anhand von Belegen die Basis des nächsten Analyseschrittes sein), werden schon bestimmte Zusammenhänge erkennbar: So fällt auf, dass bis zum dritten Abschnitt lediglich ein Zuschreibungselement, Innerlichkeit als innewohnendes Recht oder Gesetz zum Einsatz kommt – im zweiten Kapitel fehlt sogar dieses. Dies legt den vorsichtigen Schluss nahe, dass Höß im einleitenden Drittel Innerlichkeit monofunktional gebraucht. Im Sinne eines klassischen EntwicklungsnarrativsFootnote 20 kommt es erst nach einem einschneidenden Ereignis zur Entfaltung der Sichtweisen und des Erlebens der ›Hauptfigur‹. Dies spiegelt sich in der ab Kapitel vier einsetzenden Ausdifferenzierung des Konzeptes wider. In diesem Sinne kann als zweite Beobachtung festgehalten werden, dass in den Kapiteln 6 und 8 die stärkste Ausdifferenzierung (mit jeweils 4 von 5 möglichen Zuschreibungselementen) erkennbar wird. So wird ersichtlich, dass Höß die einzelnen Elemente des Innerlichkeits-Konzeptes mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen verwendet: Nach dem anfangs vorherrschenden Element des innewohnenden Rechts oder Gesetzes kommen im weiteren Verlauf vor allem Aspekte der Selbstversenkung, des inneren Seelenzustandes und der Selbstreflexion zum Einsatz, wobei sein Gefängnisaufenthalt als Schlüsselmoment für die Auffächerung des Konzeptes verwendet wird. Schließlich kommt ab dem Zeitpunkt seines nationalsozialistischen Tätertums in den Konzentrationslagern Dachau, Sachsenhausen und Auschwitz ein weiteres Element hinzu, das auf die Nicht-Zugänglichkeit innerer Vorgänge verweist und dadurch ein nach innen reichendes Abgrenzungsmoment stark macht. Die Ausgestaltung und funktionale Verwendung der einzelnen Elemente soll nun genauer herausgearbeitet werden:

5.1 Innerlichkeit als innewohnendes Recht/Gesetz

In zwei der ersten drei Textabschnitte findet lediglich ein Rekurs auf Innerlichkeit als innewohnendes Recht und Gesetz statt. Dieses Konzept wird an entscheidenden Stellen der jeweiligen Abschnitte eingesetzt und dient der Inszenierung des Textproduzenten als seit seiner Kindheit mit einem innerlichen moralischen Kompass ausgestatteten Akteur; durchaus auch im Sinne von Innerlichkeit als Ablehnung äußerer Autoritäten (vgl. Burkhard 2008, S. 269):

  1. (2)

    »Am anderen Morgen wurde ich von meinem Vater wegen besagtem Vorfall zur Rede gestellt und bestraft, weil ich ihm dies nicht gleich gemeldet hatte. Ich war völlig niedergeschmettert, nicht wegen der Strafe, sondern wegen des unerhörten Vertrauensbruches meines Beichtvaters. Es wurde doch immer gelehrt, daß selbst die schwersten Verbrechen, die dem Beichtvater in der heiligen Beichte anvertraut würden, nicht angezeigt werden dürften. Und nun hatte der Priester, zu dem ich solch starkes Vertrauen hatte und der mein ständiger Beichtvater war, der mein ganzes kleines Sündenleben in- und auswendig kannte, das Beichtgeheimnis gebrochen um solch einer Nichtigkeit! […]. Mein Vertrauen zum geheiligten Priesterstand war zerbrochen, und Zweifel begannen sich in mir zu regen« (Höß 1963 [1947], S. 37–38).

  2. (3)

    »Ich war damals – und bin auch heute noch – fest davon überzeugt, daß dieser Verräter den Tod verdient hatte. Da aller Wahrscheinlichkeit nach kein deutsches Gericht ihn verurteilt haben würde, richteten wir ihn, nach einem ungeschriebenen Gesetz, das wir uns, aus der Not der Zeit geboren, selbst gegeben hatten« (Höß 1963 [1947], S. 52; Hervorhebungen im Original).

Beide Belege sind in hohem Maße aussagekräftig hinsichtlich des dahinterliegenden Inszenierungswillens: Nach einer vorherigen Bestimmung seines Charakters als pflichtbewusst und gehorsam (vgl. Höß 1963 [1947], S. 35)Footnote 21 leitet die ›Priester‹- bzw. ›Beichtgeheimnis-Episode‹ nicht nur eine Erschütterung von Höß’ Autoritätsbewusstsein ein (so ›verrät‹ ihn die neben seinen Eltern wichtigste erwachsene Autoritätsperson), sondern wird auch dazu verwendet, erste Hinweise auf die vorhandenen und Höß’ Handeln lenkenden inneren Bewusstseinsvorgänge und Emotionen zu geben, indem der Textproduzent darauf verweist, dass sich Zweifel in mir zu regen begannen. Noch wird das Konzept von Innerlichkeit nicht als solches expliziert, wesentliche Charakteristika werden aber eingeführt und damit der weitere Textgang vorgezeichnet: Die erwachte Innerlichkeit Höß’, die ihn zu Zweifeln an Autoritäten veranlasst, ist der erste rezeptionssteuernde Hinweis, der den Textproduzenten als selbstbestimmt und selbstreflektiert, agentiv handelnd erscheinen und zusätzlich ein im Inneren vorhandenes Konzept von Moralität sowie Recht- und Unrecht-Bewusstsein erkennen lassen soll.Footnote 22

Auf dieses wird auch in Belegstelle (3) Bezug genommen. Im Kotext dieser beschreibt Höß seine Beteiligung am »Fememord« und lässt – erzähltechnisch hervorgehoben – die Episode mit diesem fazitartigen Abschnitt enden. Abseits der Tatsache, dass Höß an dieser Stelle scheinbar kein Problem damit hat, sein damaliges Handeln mit heutigen Haltungen (im Sinne des Zeitpunkts der Niederschrift) in Einklang zu bringen (vgl. dazu Welzer 2005, S. 13), zeigt sich erneut der Bezug auf Innerlichkeit; dieses Mal – aber korrelierend mit der Konzeptualisierung von Belegstelle (2) – in Form des Aufrufens eines ungeschriebenen Gesetzes in uns. Mit diesem, sein damaliges Handeln leitenden und nun erklärenden Konzept verweist Höß ein weiteres Mal auf innere Bewusstseinsvorgänge, die ihn zum Mord an dem scheinbaren Verräter nicht unbedingt veranlasst haben, aber diesen rechtfertigbar machten. Diese Form der Innerlichkeit spricht er auch seinen Mittätern zu. Wichtig ist dabei die von ihm selbst vorgenommene Einschränkung, dass dieses ungeschriebene Gesetz aus der Not der Zeit geboren war. Dies offenbart die partikularen MoralvorstellungenFootnote 23 (vgl. zur partikularen Moral(konzeptualisierung) während des Nationalsozialismus u. a. Gloy 2018, S. 70–72), die Höß’ Konzept innerlicher Moralität offensichtlich zugrunde liegen und auch im weiteren Verlauf noch eine (sowohl argumentationslogische aber auch interpretative) Rolle spielen werden. Zugleich machen beide Belege deutlich, dass Höß an für den Erzählverlauf entscheidenden Stellen auf innere Bewusstseinsvorgänge verweist, die seine Handlungen und Haltungen erklärbarer machen sollen und rezeptionssteuernd hinsichtlich Text wie Textproduzent eingesetzt werden. Dieser Impetus zeigt sich auch an den weiteren Zuschreibungselementen (siehe weiter unten).

5.2 Innerlichkeit als Selbstversenkung

Ab dem Textabschnitt seiner Inhaftierung differenziert sich Höß’ Konzept von Innerlichkeit erheblich aus, so dass die Beschreibung der Inhaftierung als weiteres Schlüsselmoment betrachtet werden kann. Zunächst findet sich ein Konzept der innerlichen Selbstversenkung, das Höß in diesem sowie weiteren Abschnitten aufruft, um die Fähigkeit zur ›Verinnerlichung‹ darzustellen:

  1. (4)

    »Schon in den ersten Tagen meiner Strafverbüßung wurde ich mir endlich über meine Lage eindeutig klar. Ich kam zur Besinnung […]. Und ich stellte mich ganz auf 10 Jahre ein. Ich kam zur Selbstbesinnung […]. Nun hatte ich Muße genug, über mein bisheriges Leben nachzudenken, meine Fehler und Schwächen zu erkennen und mich auf ein späteres, inhaltsreicheres Leben vorzubereiten« (Höß 1963 [1947], S. 65; Hervorhebung im Original).

  2. (5)

    »Ich zog mich immer mehr in mich selbst zurück. Ich spann mich ein, wurde unnahbar, verhärtete zusehends« (Höß 1963 [1947], S. 145).

Erneut weisen beide Belegstellen zwar einen inhaltlichen Zusammenhang auf (innere Besinnung sowie innerer Rückzug), haben allerdings unterschiedliche Schwerpunktsetzungen: In Belegstelle (4) rekurriert Höß auf Innerlichkeit im Sinne der Selbstbesinnung, um über sein bisheriges Leben nachzudenken und sich für ein späteres, inhaltsreiches Leben vorzubereiten (durchaus im Sinne der Selbstoptimierung). Diese Form der Innerlichkeit entspricht den Beschreibungen Christoffels, der das Versinken in das eigene Innere zum Zweck des späteren Nach-außen-Gehens beschreibt (vgl. 1940, S. 111–121). Expliziter als zuvor hebt Höß die eigene Handlungsfähigkeit der Selbstbesinnung bzw. Selbstversenkung hervor, zu der er sich nicht nur in der Lage sieht, sondern die er auch spezifisch in einem agentiven Sinne abrufen kann. Anders als im ersten Zuschreibungselement werden so nicht die innerlichen Vorgänge selbst, sondern die Methoden, diese zu erreichen, aufgerufen und vervollständigen das selbstinszenierte Bild Höß’ als authentisch-selbstbestimmtem Akteur.

In Belegstelle (5) hingegen dient die Selbstbesinnung einem anderen Zweck (und wird daher auch nicht im Sinne von Besinnung, sondern im Sinne von Rückzug verwendet): des u. U. selbstschützenden Rückzugs in die eigene Innerlichkeit. Höß ruft diese Form während des Textabschnittes über seine Zeit als Kommandant im KZ Auschwitz auf und fügt seiner Inszenierungsstrategie durch den Rekurs auf ein selbstschützendes Zurückziehen ein weiteres Element sowohl für das Erklärbar-Machen seiner Handlungen als auch für die rezeptionssteuernde Emotionalisierung seiner Person hinzu.

Trotz der unterschiedlichen Funktionalität der Selbstbesinnung zeigen beide Belegstellen eine neu auftretende strategische Facette von Höß’ Innerlichkeits-Konzept auf und geben Hinweise auf ihren funktionalen Gebrauch zur Charakterisierung seiner Handlungen wie Haltungen bei einer gleichzeitigen Inszenierung als selbstbestimmter, -reflektierter und damit authentischer Akteur.

5.3 Innerlichkeit als innerer Seelenzustand

Mit dem Konzept der Selbstversenkung taucht ein weiteres Moment von Innerlichkeit (ab dem Textabschnitt der Inhaftierung) auf, das mit einem Vorkommen in vier Textabschnitten der zweit-dominanteste Aspekt von Innerlichkeit ist: Innerlichkeit im Sinne von inneren Seelenzuständen:

  1. (6)

    »Meine innere Erregung wuchs von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde« (Höß 1963 [1947], S. 68).

  2. (7)

    »Heute bereue ich tief das Verlassen des bis dahin gegangenen Weges. Mein Leben, das meiner Familie, wäre anders verlaufen, obzwar wir jetzt genauso ohne Heimat, ohne Hof dastünden. Aber Jahre innerlich befriedigender Arbeit hätten dazwischengelegen« (Höß 1963 [1947], S. 79).

  3. (8)

    »Meine inneren Bedrängnisse über mein Verharren am KL, trotz meiner Ungeeignetheit dazu, traten in den Hintergrund« (Höß 1963 [1947], S. 103).

  4. (9)

    »Ich mußte mich sehr zusammenreißen, um nicht einmal in der Erregung über eben Erlebtes meine inneren Zweifel und Bedrückungen erkennen zu lassen« (Höß 1963 [1947], S. 198).

Anders als die zuvor besprochenen Aspekte werden die Angaben der inneren Seelenzustände nicht immer an erzähltechnisch bedeutsamen Stellen eingesetzt. Stattdessen finden sie sich relativ verstreut im Text wieder, oft als Nebensatz oder -gedanke, ohne den weiteren Erzählfluss danach auszurichten. In dieser Hinsicht erscheinen sie aber gerade durch ihr eingestreutes Auftreten funktional, führen sie doch zu einer erheblichen Ausdifferenzierung der Darstellung des innerlichen Zustands Höß’:

Höß spricht von inneren Erregungen, Bedrängnissen, Zweifeln und Bedrückungen und inszeniert sich als im vergangenen Moment sowie der späteren Niederschrift in der Lage, die eigenen Seelenzustände und -vorgänge erkennen und beschreiben zu können. Dass sich vornehmlich negative innere Zustände finden, hängt mit dem über das Konzept Innerlichkeit aufgerufenen Moment der inszenierten (und partikularen, da selbstbezogenen) Moralität (vgl. dazu auch Welzer 2005, S. 31–35) des Textproduzenten zusammen, dessen Fähigkeit, auch an Autoritäten zu zweifeln (siehe das erste Zuschreibungselement), ihn auch während seiner Zeit in den verschiedenen Konzentrationslagern nicht verlässt und so zweifeln lässt oder bedrückt. In diesem Sinne legt Höß Wert darauf, »als ›menschlich‹ wahrgenommen [zu werden]« (Welzer 2005, S. 29–30). Dies wird inszenierungsstrategisch durch den ausdifferenzierten Rekurs auf Innerlichkeit versuchsweise hergestellt, indem Höß über diese auf die eigene Person und die eigenen, ihm durch Selbstbesinnung und -reflexion zugänglichen, inneren Zustände und Vorgänge verweist und er sich so als selbstreflexiv und letztlich authentisch darzustellen versucht.

5.4 Innerlichkeit als Selbstreflexion

In einem ähnlichen Sinne der Selbstbesinnung und auch zur Inventarisierung des eigenen ›Innerlichkeits-Haushaltes‹ findet sich als dominantestes Subkonzept das der Innerlichkeit als Selbstreflexion, in dessen Rahmen Höß vornehmlich die Fähigkeit, sich eigene Gedanken zu machen, hervorhebt und damit die angedeutete funktionale Inszenierungsstrategie im Sinne der Fokussierung auf Aspekte der Authentizität und Moralität vorantreibt:

  1. (10)

    »Es gibt doch Dinge zwischen Himmel und Erde, die man im Alltagstrott nicht erlebt, über die man sich aber im völligen Alleinsein doch ernsthafte Gedanken macht« (Höß 1963 [1947], S. 69).

  2. (11)

    »In besinnlicher Ruhe durchdachte ich das Tagesgeschehen und zog meine Schlüsse« (Höß 1963 [1947], S. 73).

  3. (12)

    »Durch die Vorbereitungen war ich so in Anspruch genommen, daß ich eigentlich erst nach der Exekution so recht zur Besinnung kam« (Höß 1963 [1947], S. 106–107).

  4. (13)

    »Dies gab mir doch zu denken« (Höß 1963 [1947], S. 216).

  5. (14)

    »Ich hatte also Zeit, über das Geschehene gründlich nachzudenken« (Höß 1963 [1947], S. 224).

An den Belegen zeigt sich zunächst, dass sich in diesem Zuschreibungselement der Selbstbesinnung ein Rekurs auf Innerlichkeit in einem raummetaphorischen Sinne findet (etwas, das sich ebenfalls in den Beschreibungen Christoffels nachweisen lässt; vgl. 1940, S. 64). Nachdem die generelle Fähigkeit zur und die Methodik der Selbstbesinnung durch Höß ebenso erfasst wurden, wie eine Form der ansatzweisen Inventarisierung seines Seelenzustandes, werden nun die Umstände genauer benannt. Es ist die besinnliche Ruhe, abseits des Alltagstrotts, das völlige Alleinsein, das benötigt wird, damit man Zeit findet, über das Tagesgeschehen gründlich nachzudenken. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass extreme äußere Anspannung (siehe Belegstelle (12)) eine solche Besinnung verhindert.

Durch diese Textstellen wird die dahinterliegende Argumentation Höß’ ersichtlich, steht dieser doch vor dem Dilemma, den erwarteten Moralvorstellungen (vgl. Habermas 1983, S. 60) hinsichtlich seiner menschenverachtenden Taten zu begegnen, ohne auf die Konzeptualisierung als selbstbestimmte und authentische Person verzichten zu wollen.Footnote 24

Durch das Aufrufen und Einsetzen des Konzeptes von Innerlichkeit zur Gliederung seiner Aufzeichnungen sowie Charakterisierung seiner Handlungen und Haltungen kann er sich zwar in diesem Sinne beschreiben, es bedarf aber eines weiteren abgrenzenden Momentes seiner Täter-Handlungen, die selbst unter den deutlich gewordenen partikularen Moralkonzeptionen, die Höß’ Denken zugrunde liegen, als amoralisch wahrgenommen werden. Zu diesem Zweck werden die Bedingungen der Selbstreflexion als Selbstbesinnung aufgerufen und so ein kontrastierendes Moment zwischen den Möglichkeiten des Vorhandenseins dieser Bedingungen z. B. während der Zeit seiner Inhaftierung einerseits und dem Fehlen dieser während seiner Zeit in den verschiedenen Konzentrationslagern andererseits hinzugezogen. Ohne sich also als inauthentisch inszenieren zu müssen, kann Höß auf äußere Umstände verweisen, die seine Reflexionsbewegungen verhindern und ihm dennoch die Möglichkeit der Inszenierung als selbstreflexiv lassen. Diese strategische Ausrichtung wird durch das letzte Zuschreibungselement noch bestärkt:

5.5 Unzugängliche Innerlichkeit

Harald Welzer verweist in seinen Ausführungen auf den Umstand, »dass in fast keinem Fall so etwas wie ein Bruch in der Lebensgeschichte erkennbar wird, ja nicht einmal eine Irritation darüber zu verzeichnen ist, was man zu tun in der Lage war und was man getan hat« (2005, S. 215). Die bisherige Analyse der Zuschreibungselemente des Innerlichkeits-Konzeptes in den Aufzeichnungen hat deutlich werden lassen, dass Höß im Rahmen der Beschreibung seines Lebens durchaus mit Brüchen bzw. Schlüsselstellen arbeitet, um seine Persönlichkeit(sentwicklung) inszenatorisch zu erfassen. Durch das Element der unzugänglichen Innerlichkeit tritt die Bruch-Inszenierung ebenso hervor, wie auch das eigene Verwundert-Sein über die begangenen Taten, die so in einem deutlichen Kontrast zu den Beobachtungen Welzers stehen und der Gratwanderung Höß’ zwischen einer Selbstinszenierung als selbstbestimmt- sowie reflexiv und der Erklärung der (Amoralität der) eigenen Handlungen dienen:

  1. (15)

    »Warum ich solche Scheu vor dieser Strafe hatte? – Ich vermag es beim besten Willen nicht zu sagen« (Höß 1963 [1947], S. 83; Hervorhebung im Original).

  2. (16)

    »Wie ich aber ruhig den Feuerbefehl geben konnte, ist mir heute noch nicht faßbar« (Höß 1963 [1947], S. 108; Hervorhebungen im Original).

Erkennbar wird das Schema dieser Belege: Höß verweist auf amoralische Handlungen und inszeniert sich nachträglich als überrascht über die eigene Mitwirkung, die ihm heute noch nicht faßbar ist. In dieser Hinsicht wird eine Grenzsituation inszeniert, in der die Fähigkeit der Selbstbesinnung an ihre Grenzen stößt und Höß es beim besten Willen nicht zu sagen vermag, warum er sich so verhalten hat. Deutlich werden an diesen Stellen die Widersprüche, in die sich Höß verstrickt und die er dann versuchsweise aufzulösen versucht: Anders als sich dabei auf Befehlsgehorsam zu beschränken,Footnote 25 muss Höß, um seine bisherige Inszenierung konstant zu halten, auf ein solches Moment der unzugänglichen Innerlichkeit Bezug nehmen, um der Gefahr der Inauthentizität zu entgehen.

Mit dem zuvor inszenierten Bewusstsein von Moralität und seiner Fähigkeit, unter geeigneten Umständen, die eigenen inneren Vorgänge und Zustände erfassen zu können und daraus seine Handlungen zu erklären, bedarf es nun eines grenzmetaphorischen Moments der Limitierung der eigenen Innerlichkeit, die er in diesem Sinne einzusetzen sucht, um die eigene Erzählung sowie zu erwartende Fremdrezeption bruchlos zu halten. Zugleich stößt er so aber zumindest an die Grenzen seines Konzeptes von Innerlichkeit, anhand dessen nichtsdestotrotz ein interpretativer Zugang zu den Selbstinszenierungsstrategien Höß’ ersichtlich gemacht werden kann.

6 Schlussbemerkungen

In seinem Essay Jenseits der Erfahrung – die Unerzählbarkeit der Vernichtung verweist Harald Welzer auf die Problematik, dass der Holocaust – zumindest aus Opferseite – »sich […] nur noch als etwas beschreiben [lässt], das man sich nicht vorstellen kann« (1997a, S. 123). Er rekurriert zur Begründung dieser These auf die Ausarbeitungen Hannah Arendts, die die »Kommunikationslosigkeit der Augenzeugenberichte und das Phantomhafte der Lagerwirklichkeit herausgearbeitet und beides auf die vollständige Abweichung des Lagerlebens von den für sich gehaltenen Grundannahmen der Alltagswelt zurückgeführt [hat]« (1997a, S. 124). Dieser Perspektivierung muss nicht unbedingt gefolgt werden und sowohl die während der Vernichtung angefertigten Berichte der in Gettos und Konzentrationslagern Internierten als auch die sich anschließenden literarisch-poetologischen Aufarbeitungen des Holocausts durch Überlebende widerlegen die Aussagen Welzers bis zu einem gewissen Grad.

Gleichzeitig bietet der Zugriff auf (nachträgliche) Ego-Dokumente (überlebender) Täter aber eine wichtige Quellengrundlage der Untersuchung der Täterhandlungen und -haltungen in den Gettos und Konzentrationslager als soziale »Gewalträume« (Echternkamp 2018, S. 185).

Geistes- und kulturwissenschaftliche Analysen zum Verständnis der Handlungen und Haltungen sowie psychosozialen Einstellungen der nationalsozialistischen Gewalttäter sind als interdisziplinäres Projekt zu verstehen (vgl. Boehnert 2000, S. 255) und nehmen so andere Gesellschaftswissenschaften in die Pflicht, im Rahmen ihrer Ansätze Zugänge zur Ausdeutung dieser Akteursgruppe zu ermöglichen.

Ein linguistisch bisher wenig eingeschlagener Weg liegt in der Untersuchung und versuchsweisen Inventarisierung der kommunikativen Strategien von NS-Akteuren. Diesem Aufruf und den angezeigten Leerstellen folgend versucht die Analyse einen Beitrag zur Aufarbeitung der kommunikativen Strategien nationalsozialistischer Täter in den von ihnen produzierten Ego-Dokumenten zu leisten.

Zu diesem Zweck wurden mit einer texthermeneutischen Methode des close-readings die 1946 und 1947 in polnischer Gefangenschaft produzierten autobiographischen Aufzeichnungen des Kommandanten von Auschwitz Rudolf Höß auf erkennbare kommunikative Strategien untersucht. Dabei fand eine Anbindung an die Konzeptualisierung des nationalsozialistischen Täters über die Arendt’sche Formel der Banalität des Bösen statt. Diese Banalität als fehlendes Empathievermögen sowie fehlender Zugang zur eigenen Innerlichkeit, der in eine inauthentische Selbstdarstellung mündet (vgl. Margalit und Motzkin 2000, S. 214), wurde als Kontrastfolie genutzt, die auffällige Verwendung eines Innerlichkeits-Konzeptes durch Rudolf Höß zu erfassen und auszuwerten. Gleichzeitig fand in einem analytischen Nebenstrang der Versuch statt, das Verhältnis zwischen (der Verwendung von) Innerlichkeit und (A)Moral(ität) im Rahmen der Auswertung zumindest ansatzweise mitzuberücksichtigen. Wichtig war die dahingehende Reflexion, ob und inwiefern Innerlichkeit als Teil von Höß’ Moralverständnisses zum Einsatz kommt und sich dergestalt seinen (partikularen) Moralvorstellungen zuordnen lässt.

Ergebnis der Analyse ist, dass Höß Innerlichkeit in einem kommunikationsstrategischen Sinne sowohl zur Gliederung seines Textes als auch zur Selbstinszenierung als (wenn auch partikular-) moralische und letztlich authentische Person verwendet und sich damit ›maskiert‹. In als solchen präsentierten Schlüsselmomenten seiner Biographie führt Höß nach und nach verschiedene Zuschreibungselemente seines Konzeptes von Innerlichkeit ein – das allerdings an im damaligen kulturellen Diskurs existierende Konzeptualisierungen anschließt –, um anhand dieses Konzepts seine Lebensgeschichte strukturiert erzählen und zugleich rezeptionssteuend ausdeuten zu können. Zugleich wird durch Rekurse auf seine Selbstbesinnung, oder inneren Zustände eine Inszenierungsstrategie der Komplexitätsherstellung verfolgt, die im Gegensatz zu den Arendt’schen Beschreibungen der Selbstdarstellung Eichmanns gesehen werden kann.

Höß benutzt das Konzept zur Selbststilisierung als selbstreflexiv handelnder, selbstdenkender Akteur, die deutlich über die in der Täterforschung herausgehobene Einordnung der Täter innerhalb einer Teil-Ganzes-Kollektivierung hinausreichen soll. In diesem Sinne antizipiert Höß eine nachträglich erwartete Moral und versucht, über Innerlichkeit die Diskrepanz zwischen der Inszenierung als selbstreflexiver und mit einem inneren moralischen Bewusstsein ausgestatteter Akteur und den von ihm begangenen Täterhandlungen auszugleichen, indem er den grenzmetaphorischen Aspekt des Konzeptes auf sich selbst anwendet und sich so zwar unter bestimmten Umständen als nicht mehr selbst zugänglich, aber dafür scheinbar authentisch inszeniert.

Dies zeigt die Relevanz der analytischen Durchdringung der kommunikationsstrategischen Handlungen der nationalsozialistischen Täter, die ein besseres Verständnis ihrer Strategien und Selbststilisierungen erlaubt. Dabei legt der texthermeneutische Zugriff die Notwendigkeit eines Einlassens auf den jeweiligen Text nahe, um durch entsprechend induktive Analysebewegungen die verwendeten Strategien ans Licht bringen zu können.