Zusammenfassung
Untersucht wird die Rolle des Schrifthandelns im Zuge der Fallverwaltung anhand von Dokumenten in Fallakten aus der westdeutschen Heimerziehung der 1950er bis 1970er Jahre. Hierfür wird ein textinterpretativer Zugang zu Akten vorgestellt, mit dem zwei Fälle analysiert werden. Rekonstruiert wird, wie Disziplinierung in der öffentlichen Erziehung im transdokumentellen Zusammenspiel der Akte ausgehandelt und legitimiert wird. Dabei zeigt sich die Einflussmöglichkeit unterschiedlicher Fachdisziplinen und Akteur*innen auf die Erziehungshoheit des Fürsorgeheims. So wird die Fallverwaltung im ersten vorgestellten Fall durch eine medizinische Diagnose gewendet, im zweiten Fall bleiben die Handlungs- und Entscheidungsmaxime der Erziehungsinstitution trotz der Intervention eines Richters in ihrer Durchsetzungskraft ungebrochen. Die textinterpretative Analyseperspektive des Beitrags lenkt den Blick darauf, in welcher Weise das komplexe Schrifthandeln in Aktendokumenten die bürokratische Verwaltung von Minderjährigen in öffentlicher Erziehung ermöglicht. Damit wird ein wenig untersuchter Aspekt der Ordnungsbildung in geschlossenen Institutionen in den Blick gerückt und für einen spezifischen Kontext ausbuchstabiert.
Abstract
The writing of files in the course of case management is examined on the basis of documents in case files from residential care in West Germany from the 1950s to the 1970s. A text-interpretative access to files is introduced, with which two cases are analyzed. It is reconstructed how disciplining in residential care is negotiated and legitimized in the transdocumental interplay of different documents. The influence of different actors on the sovereignty of the residential care administration becomes apparent. In the first presented case, the case administration is reversed by a medical diagnosis. In the second case, the action and decision maxims of the residential care administration remain unbroken despite the intervention of a judge. The text-interpretative analytical perspective of the paper draws attention to the way in which the complex combination of adiministrative and writing activities in file documents enables the bureaucratic administration of minors in public residential care. In this way, an little studied aspect of order formation in closed institutions is brought into focus and spelled out for a specific context.
Notes
Die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in die Heimerziehung erfolgte in Form von zwei Jugendhilfemaßnahmen. Zum einen auf Grundlage einer Freiwilligen Erziehungshilfe (FEH), die im Einvernehmen zwischen Jugendamt und den Eltern der Minderjährigen durchgeführt wurde. Aus diesem Grund konnte die Unterbringung durch die Eltern immer auch wieder abgebrochen werden. Zum anderen wurde Fürsorgeerziehung angeordnet, wenn diese Maßnahme durch ein Jugendamt bei einem Vormundschaftsgericht beantragt worden war. Der gerichtliche Beschluss zur Durchführung von Fürsorgeerziehung (FE) ermöglichte die Unterbringung von Minderjährigen auch gegen den Willen der Eltern (Pfordten 2010).
Die Anordnung der Fürsorgeerziehung erfolgt in der Regel in zwei Stufen. Zunächst wird durch das Gericht ein vorläufiger Beschluss angeordnet. Dieser kann dann wegen Gefahr in Verzug unmittelbar umgesetzt werden. In einem zeitlichen Abstand von maximal 6 Monaten ist dann ein endgültiger Beschluss notwendig, zu dem auch die Anhörung der Eltern durch das Gericht gehört (Pfordten 2010, S. 20).
Literatur
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Bereswill, M., Buhr, H. & Müller-Behme, P. Dokumentierte Disziplinierung. Aktenförmiges Schrifthandeln in der öffentlichen Erziehung. SozProb 30, 131–143 (2020). https://doi.org/10.1007/s41059-019-00068-4
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