1 Einleitung

Aufgrund des demografischen Wandels ist die aktive Gestaltung einer längeren Nacherwerbsphase von zunehmender Bedeutung (Kruse 2008). Dabei spielen finanzielle Absicherung und Handlungsfähigkeit in Zeiten von gestiegener Altersarmut eine immer größer werdende Rolle. Menschen, die gering qualifiziert sind oder deren Erwerbsbiografie Lücken aufweist, sind in diesem Prozess benachteiligt (Wienberg und Czepek 2011).

Zu fragen ist, ob die gestiegenen Anforderungen durch höhere finanzielle Belastungen im Alter problematisch werden, weil sie mit geringeren Kompetenzen einhergehen, oder ob sich die (noch) vorhandenen alltagsmathematischen Kompetenzen als ausreichend erweisen. Laut der Practice Engagement Theory von Reder (1994) stehen alltagsmathematische Praktiken, in diesem Fall hinsichtlich finanzieller Angelegenheiten, stets in einer Wechselwirkung mit der alltagsmathematischen Kompetenz. Gering ausgeprägte numerale Praktiken korrelieren nach dieser Theorie mit geringen numeralen Kompetenzen. Umgekehrt geht hohes praktisches Engagement mit höheren Kompetenzen einher.

Anstatt lediglich einen Kompetenzverlust im Alter zu deklarieren, erscheint es deshalb relevant, numerale Praktiken von Menschen im höheren Lebensalter zu betrachten.

Dieser Beitrag widmet sich der alltagsmathematischen Kompetenz von Menschen im höheren Alter (66–80 Jahre) sowie deren alltagsmathematischen Praktiken. Laut der Anthropologin Jean Lave (1988) wird Alltagsmathematik in verschiedenen Situationen des alltäglichen Lebens verwendet. Hierzu zählen unter anderem das Vergleichen von Preisen, das Kalkulieren von Kosten und des Haushaltsbudgets. Alltagsmathematik wird in der von der OECD initiierten Kompetenzmessungsstudie Programme for the International Assessments of Adult Competencies (PIAAC) und der deutschen Ergänzungsstudie Competencies in Later Life (CiLL) als die Fähigkeit verstanden, mathematische Informationen und Ideen anzuwenden und zu interpretieren, um in unterschiedlichen Alltagssituationen damit umgehen zu können.

In diesem Beitrag werden Daten der CiLL-Studie genutzt, um alltagsmathematische Praktiken von Personen im Alter von 66 bis 80 Jahren mit den Praktiken der in PIAAC erfassten Personen im Alter von 16 bis 65 Jahren zu vergleichen. Im Fokus unserer Sekundäranalyse stehen vor allem die Praktiken (auch bezeichnet als Kompetenznutzungsvariablen oder Skills-Use-Variablen), die darüber Auskunft geben, wie oft alltagsmathematische Kompetenzen im Leben von Älteren angewendet werden.

Als gesichert gilt der Befund durchschnittlich geringerer Kompetenzen in höheren Alterskohorten (Schmidt-Hertha 2018). Hier wird nunmehr geprüft, ob Menschen im höheren Alter trotzdem alltagsmathematische Praktiken einsetzen.

2 Theoretischer Rahmen und Forschungslage zur Alltagsmathematik im höheren Alter

Die Analysen für diesen Beitrag wurden innerhalb des dreijährigen Projektverbunds Alltagsmathematik als Teil der Grundbildung ErwachsenerFootnote 1 durchgeführt. Im Rahmen des Teilprojekts Adult Numeracy in Large-Scale Assessments werden Beiträge zu den alltagsmathematischen Kompetenzen und Praktiken verschiedener Bevölkerungsgruppen erarbeitet. Dies betrifft unter anderem ältere Erwachsene. Erste Analysen zu Grundkompetenzen beim Hochschulzugang wurden bereits veröffentlicht (Redmer et al. 2018).

2.1 Relevanz von Alltagsmathematik im Alter

Der Wandel von Altersbildern in Deutschland ist in den vergangenen Jahren weiter fortgeschritten (Vogel und Motel-Klingebiel 2013). Die Grenzziehung, wer zu den älteren Erwachsenen zu zählen ist, ist kontextbezogen und verzeichnet in Bezug auf Forschung und Politik eine Vielzahl an Definitionen. Demnach gehören in der Arbeitslosenstatistik alle Personen über 55 Jahre zu den Älteren (Iller 2018). In der Gerontologie wird Lebensalter häufig in vier Abschnitte klassifiziert: junges Erwachsenenalter (18–35 Jahre), mittleres Lebensalter (35–65 Jahre), drittes Lebensalter (65–85 Jahre: „junge Alte“) und das vierte Lebensalter (85 Jahre und älter: „Hochaltrige, Hochbetagte“) (Böhm et al. 2009, S. 11).

Für diesen Beitrag wird die Grenzziehung zwischen den beiden Studien PIAAC und CiLL verwendet, die sich mit der Grenze von Böhm et al. (2009) deckt. „Ältere“ sind im Folgenden somit die über 65-Jährigen, also Personen im dritten Lebensalter.

Durch medizinische sowie technische Entwicklungen wird das Erreichen eines immer höheren Lebensalters ermöglicht, wodurch eine längere nachberufliche Lebensphase geschaffen werden kann (Mahne et al. 2017). Für eine gute Gestaltung dieser Nacherwerbsphase spielt der Aspekt der finanziellen Absicherung eine wichtige Rolle. In Deutschland wird das Einkommen im Ruhestand überwiegend durch die gesetzliche Rente sowie durch Vermögen und Erbschaften bestimmt (ebd.). Benachteiligt und von Altersarmut bedroht sind folglich Menschen, die Lücken in ihrer Erwerbsbiografie aufweisen oder gering entlohnt werden. Zudem erben diese Personen seltener und akkumulieren während der Erwerbsphase seltener Vermögen (Mahne et al. 2017). Insofern ist der Anteil der Menschen, die nach dem Eintritt in den Ruhestand einer Erwerbstätigkeit nachgehen müssen, gestiegen (Franke und Wetzel 2017, S. 47). Daher stellt sich vermehrt die Frage, wie Personen im dritten Lebensalter mit teilweise geringen Ressourcen auskommen können. Finanzielle Kompetenz hebt das Haushaltsbudget nicht an und sichert auch keine höhere Rente, kann jedoch helfen, geringe Einnahmen erfolgreich zu bewirtschaften.

Im Zusammenhang mit Älteren beschreibt Kruse Kompetenz als die „Fähigkeiten und Fertigkeiten des Menschen“, die zur Erhaltung, aber auch zur Wiederherstellung eines „selbstständigen, selbstverantwortlichen und sinnerfüllten Lebens“ (2018, S. 1193) beitragen. So verringere sich ihre Fähigkeit bezüglich der Orientierung in neuartigen Problemsituationen sowie des Neuerlernens, jedoch bestehe bei Älteren eine Kompetenz zum Lösen vertrauter Probleme sowie zur Erweiterung bereits bestehender Wissenssysteme auch bis ins hohe Alter hinein. Folglich kann angenommen werden, dass einmal erlernte grundlegende mathematische Fähigkeiten auch noch im Alter dazu beitragen, finanzielle Aufgaben im Alltag zu lösen.

Auf dieser Grundlage wird im Folgenden dargestellt, welche Rolle Alltagsmathematik beziehungsweise Numeracy im Zusammenhang mit finanzieller Grundbildung spielt und welche mathematischen Praktiken im Alltag von Älteren Anwendung finden.

2.2 Forschung zu alltagsmathematischen und finanziellen Grundkompetenzen

Im internationalen Diskurs wird Alltagsmathematik beziehungsweise Numeracy seit Längerem intensiv diskutiert (Coben et al. 2003), wobei sich vieles im Rahmen dieses Diskurses auf den Bereich der schulischen Bildung bezieht: „Much of research on numeracy is schools-based, the bulk on teaching the individual elements and operations of numeracy.“ Für ein Verständnis von alltagsmathematischen Kompetenzen ist die Zielgruppe zunächst jedoch nicht ausschlaggebend. Coben et al. (2003) schlagen vor, dass „numeralisiert sein“Footnote 2 bedeute, kompetent, selbstbewusst und mit den eigenen Urteilen darüber zu entscheiden, ob Mathematik in einer bestimmten Situation angewendet werden solle und wenn ja, welche Form von Mathematik angebracht sei und wie diese umgesetzt werde.

Derzeit existieren kaum Forschungsergebnisse bezüglich der numeralen Kompetenz (älterer) Erwachsener, wenngleich die Relevanz von Numeracy und finanzieller Grundbildung im Rahmen der nationalen Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung (BMBF 2016) konstatiert wird.

In PIAAC (2011/2012) sind neben der Lesekompetenz die alltagsmathematische Kompetenz beziehungsweise Numeracy als separate Domäne systematisch auf internationaler Ebene erhoben worden. Demnach schneidet Deutschland im Bereich Numeracy der Altersgruppen 16–65 Jahre knapp über dem OECD-Durchschnitt (272 zu 269 Punkten) ab und liegt damit nur auf Platz 12 der 24 teilnehmenden Länder der ersten Runde.Footnote 3 Detaillierte Analysen und Publikationen zu Numeracy stehen für Deutschland derzeit noch aus.

Ausgehend von den Arbeiten von Gal (z. B. Gal et al. 2009), einem Theoretiker für den Bereich Numeracy in der PIAAC Expert Group, wird für PIAAC in Deutschland Alltagsmathematik als die Fähigkeit definiert:

[…] mathematische Informationen und Ideen zugänglich zu machen, diese anzuwenden, zu interpretieren und zu kommunizieren, um so mit mathematischen Anforderungen in unterschiedlichen Alltagssituationen Erwachsener umzugehen. (Zabal et al. 2013, S. 47)

Der Diskurs um Numeracy steckt für Deutschland noch in den Kinderschuhen, kann aber vom Forschungsstand im internationalen Diskurs profitieren. Die für diesen Artikel relevante finanzielle Kompetenz lässt sich laut Geiger et al. (2015) als eine Erweiterung von Numeracy betrachten, die sich in numeralen Praktiken äußert. So gesehen muss eine finanziell versierte Person sowohl über das notwendige Wissen verfügen, um finanzielle Transaktionen und Planungen durchzuführen, als auch über die Fähigkeit und das Vertrauen, finanzielle Entscheidungen zu treffen (Geiger et al. 2015). In dieser Weise numeralisiert zu sein, bedeutet aber auch, Zahlen kritisch zu hinterfragen.

However, within the adult education sector numeracy now commonly refers not just to the ability to perform such basic calculations but to a very wide range of skills, such as being able to measure; use and interpret statistical information […] as well as think critically about quantitative and mathematical information […]. (Tout und Gal 2015, S. 694)

Die Ergebnisse der Ergänzungsstudie, der CiLL-Studie, zeigen, dass die alltagsmathematische Kompetenz der Bevölkerung zwischen 66 und 80 Jahren bei durchschnittlich 240 Punkten liegt (Knauber und Weiß 2014). Dies entspricht dem unteren Drittel der Kompetenzstufe 2 und deutet darauf hin, dass Ältere über durchschnittliche Fähigkeiten verfügen, „mit mathematischen Informationen umzugehen, die in alltägliche Kontexte eingebettet sind, […] [sowie] alltagsmathematische Aufgaben mit wenig konkurrierenden Informationen und Bearbeitungsschritten“ (Knauber und Weiß 2014, S. 86) zu lösen.

Ob diese Kompetenzen auch praktisch angewendet werden, ergibt sich nicht aus diesen Ergebnissen und soll von daher in den Analysen geklärt werden.

Bis heute wird in der Erwachsenenbildungsforschung finanzielle Grundbildung weitaus häufiger thematisiert als Numeracy. Mania und Tröster (2014) beschreiben den Begriff finanzielle Grundbildung als einen Teilbereich, der die „existenziell basalen und unmittelbar lebenspraktischen Anforderungen alltäglichen Handelns und der Lebensführung in geldlichen Angelegenheiten“ (Mania und Tröster 2014, S. 140) betrifft. Die Autorinnen haben innerhalb des Projekts „Schuldnerberatung als Ausgangspunkt für Grundbildung – Curriculare Vernetzung und Übergänge“ (CurVe) ein Kompetenzmodell entwickelt, das die Anforderungen bezüglich des Umgangs mit Geld auf Grundbildungsniveau beschreibt (Mania und Tröster 2015b). Der demografische Wandel führe zu dem zunehmenden Erfordernis der privaten Vorsorge und durch die „Vervielfältigung […] der verschiedenen wählbaren Anlegeformen wachsen die kognitiven Anforderungen im Hinblick auf eine Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung“ (Mania und Tröster 2015a, S. 12).

Die entworfene Grundstruktur umfasst einerseits sechs Domänen finanzieller Grundbildung (Einnahmen, Geld und Zahlungsverkehr, Ausgaben und Kaufen, Haushalten, Geld leihen und Schulden, Vorsorgen und Versicherungen) und andererseits die Dimensionen Wissen, Lesen, Schreiben und Rechnen mit dazugehörigen (Handlungs‑)Anforderungen in Alltagssituationen. Die Domänen werden nochmals in verschiedene Subdomänen untergliedert. Für diesen Beitrag sind die in Tab. 1 dargestellten Domänen und Subdomänen relevant.

Tab. 1 Domänen und Subdomänen finanzieller Grundbildung. (In Anlehnung an Mania und Tröster (2015a); eigene Darstellung)

Das Modell ist qualitativ empirisch verankert. Die Kompetenzanforderungen wurden auf der Basis von Experteninterviews mit Schuldnerberaterinnen und -beratern und Weiterbildungspersonal wie auch Forschenden, Ratsuchenden in Lernwerkstätten aus der Schuldnerberatung bestimmt. Mithilfe der in PIAAC und CiLL erfassten Daten können wir einen quantitativen Überblick über diese finanziellen Kompetenzdomänen erhalten.

2.3 Alltagsmathematik als situierte Praktik

In den 1980er Jahren entwickelten Lave und Wenger eine Lerntheorie, die nicht die Kompetenzen des Einzelnen bündelt, sondern den Menschen als soziales Wesen versteht und damit in und für die Zugehörigkeit zu Praxisgemeinschaften lernt (Lave und Wenger 1991). Mit ihrer Feldstudie Cognition in Practice (1988) beobachtete Lave die mathematischen Praktiken Erwachsener in Alltagssituationen. Darin zeigt sie, dass Mathematik aus dem Alltag beherrscht wird, wie beispielsweise der Preisvergleich beim Einkaufen; diese vorhandenen Fähigkeiten zum Lösen von schulischen Aufgaben jedoch nicht ausreichen (Lave 1988). Sie veranschaulicht zudem alltagsmathematische Praktiken von Frauen, die mit dem Weight-Watchers-Programm abnehmen, und erklärt, dass Praktiken immer aus einem situationsspezifischen Dilemma entstehen, wie dem Zählen von Kalorien oder dem genauen Abwiegen von Lebensmitteln zum Erzielen von Abnehmerfolgen.

Des Weiteren beschreibt Lave Money-Management-Situationen innerhalb von Privathaushalten. Der Umgang mit Geld bewegt sich dabei immer im Rahmen von Fragen der Beschäftigungsformen, der Gehälter und familiären Verhältnisse. Die Art und Weise, wie innerhalb einer Familie Rechnungen bezahlt werden, hängt von der familiären Konstellation ab (Ehe, Kinder, Kinder aus früheren Beziehungen). Gemeinsam ist jedoch allen Konstellationen, dass es Regeln gibt, nach denen finanziell gehandelt wird. „Money management and measurement as practice seem to grow out of multiple contradictions specific to the organization and meaning of social relations in activity in the lived-in world“ (Lave 1988, S. 139). Die sozialen Beziehungen scheinen beim Umgang mit Geld eine wichtige Rolle zu spielen.

Ihre Arbeiten wurden zu einer Grundlage für Studien über situierte Praktiken und Lerntheorien (Barton und Hamilton 2003). Das Forschungsparadigma der New Literacy Studies (NLS) versteht Literalität als eine soziale Praktik und grenzt sich von dem autonomen Modell von Literalität ab (Street 2003). Demnach würden Vertreterinnen und Vertreter dieses Modells die kognitiv-technischen Prozesse beim Erlernen von Lesen und Schreiben losgelöst von Einflüssen aus der Umwelt und des sozialen Umfeldes betrachten (Pabst und Zeuner 2011). Die NLS hinterfragen jedoch die jeweiligen Machtstrukturen, in denen Literalität angewendet und erworben wird. Es gilt dabei zwischen literacy events und literacy practices zu unterscheiden und diese in kulturelle und soziale Kontexte einzubetten und zu berücksichtigen. Durch die Arbeiten von Baker (1998) wurde die Idee der NLS auf Numeracy übertragen. Er beschreibt Numeracy aus Sicht des autonomen Modells als eine Reihe von reinen Fähigkeiten, die sich von den Inhalten, in denen sie verwendet werden können, unterscheiden, was zeigen würde, dass die Rechenfertigkeit sowohl kulturell als auch wertfrei sei (Yasukawa et al. 2018a, S. 10). Mit dem Buch Numeracy as a Social Practice (Yasukawa et al. 2018b) werden erstmalig numeracy practices, die in den sozialen, kulturellen, historischen und politischen Kontext eingebettet sind, aus verschiedenen Studien und Untersuchungen zusammengetragen. Die in PIAAC verwendeten Fragen zur Nutzung von Kompetenz operationalisieren natürlich nicht genau den Ansatz der literacy and numeracy practices im Sinne Laves und der New Literacy Studies. Wir meinen aber, dass die Fragen zur Anwendung von Alltagsmathematik im privaten und beruflichen Bereich stellvertretend für quantitative Zwecke genutzt werden können.

Bereits 1994 verweist Reder auf die Practice Engagement Theory (Reder 1994), nach der die Ausübung von wiederkehrenden Aktivitäten in Alltagssituationen die dafür erforderlichen Fähigkeiten verstärkt und weiterentwickelt. Demnach können kognitive Fähigkeiten erhalten und sogar gesteigert werden. Ein Mangel an Praktiken kann hingegen zu einer Verschlechterung der Fähigkeiten führen. Ferner benutzt er den Begriff embedding (eingebettet sein), um den Zusammenhang von Praktiken und sozialen sowie wirtschaftlichen Gefügen zu erklären. Der Begriff beschreibt keine Kausalität, sondern schreibt Kompetenz und Praktik eine enge Verbindung zu. Deshalb sollten Praktiken nicht isoliert, sondern im Kontext weiterer Lebensumstände betrachtet werden.

3 Fragestellung

Ausgehend von dieser Position, gemäß der Kompetenzen durch Praktiken ergänzt werden und sich gegenseitig verstärken, liegt der Fokus dieses Beitrags auf numeralen Praktiken älterer Erwachsener (66 bis 80 Jahre). Es wird dabei herausgearbeitet, wie häufig numeracy practices im Alltag genutzt werden.

Im Speziellen wird folgenden Fragen in den Analysen nachgegangen:

  1. a)

    Wie verhalten sich numerale Kompetenzen mit steigendem Alter?

  2. b)

    Wie verhalten sich numerale Praktiken mit steigendem Alter?

  3. c)

    Wie verhalten sich numerale Praktiken nach Geschlecht im Alter von 66 bis 80 Jahren?

  4. d)

    Wie verhalten sich numerale Praktiken im Alter von 66 bis 80 Jahren in Abhängigkeit von der Anzahl der eigenen Kinder?

4 Methode

Die Daten aus der PIAAC-Studie und der Ergänzungsstudie CiLL können ein differenziertes Bild über alltagsmathematische Kompetenzen und Praktiken in der deutschen Bevölkerung geben. Die von der OECD initiierte Repräsentativstudie PIAAC wurde 2011/2012 erstmals durchgeführt und erreichte in Deutschland eine Stichprobe von 5465 Personen im Alter zwischen 16 und 65 Jahren. Neben der Erhebung der Domänen Lesekompetenz, alltagsmathematische Kompetenz und technologiebasiertes Problemlösen wurden in einem umfangreichen Hintergrundfragebogen auch Fragen zur Nutzung von Kompetenzen gestellt (Reder 2017). Die daran anknüpfende Ergänzungsstudie CiLL nutzte ebenfalls die Testung der Kompetenzen sowie diesen Hintergrundfragebogen. Die Erhebung auf Basis der repräsentativen Angaben von 1339 Personen im Alter zwischen 66 und 80 Jahren wurde in Deutschland 2012 durchgeführt (Friebe et al. 2014). Es wurden zwölf Fragen zu numeralen Praktiken im Rahmen der beruflichen Tätigkeit und außerhalb derselben gestellt. Da in der CiLL-Stichprobe nach eigenen Angaben nicht ausreichend berufstätige Personen erfasst wurden, um valide Ergebnisse zu gewährleisten, werden diese Variablen unberücksichtigt gelassen. Für diese Untersuchung sind deshalb die Fragen bezüglich des privaten Bereichs relevant.

Es wird in den Analysen zum einen der Index verwendet (siehe Abb. 2), der alle gestellten Fragen zur Nutzung von alltagsmathematischen Kompetenzen abbildet, und zum anderen werden die einzelnen Variablen betrachtet. Von besonderem Interesse sind dabei die in Tab. 2 dargestellten Variablen.

Tab. 2 Use-Skill-Variablen für die Untersuchung der Praktiken

Für die Beantwortung wurde den interviewten Personen eine Likert-Skala vorgelegt, von der sie eine der folgenden Antworten wählen konnten:

  • 01 Nie

  • 02 Seltener als einmal im Monat

  • 03 Seltener als einmal pro Woche, aber mindestens einmal im Monat

  • 04 Mindestens einmal pro Woche, aber nicht täglich

  • 05 Täglich

Diese Variablen sind relevant für diese Untersuchung, da viele alltägliche Handlungen mit einem grundlegenden Mathematikverständnis verknüpft sind. Die von Mania und Tröster (2015b) vorgeschlagenen finanziellen Kompetenzdomänen können anteilig mit diesen Variablen ausgewertet werden.

Es soll zunächst deskriptiv aufgezeigt werden, wie sich die alltagsmathematischen Praktiken hinsichtlich verschiedener Faktoren (Geschlecht, Alter, Anzahl der Kinder) verhalten. Die Ergebnisse werden auf Signifikanz von Mittelwertunterschieden geprüft. Hierzu werden Verfahren für die Testung (T-Test) von Hypothesen für ordinale Daten genutzt.

Die mittleren Kompetenzwerte werden in PIAAC in fünf Level definiert, die von sehr hohen Kompetenzen (Level 5, 376–500 Punkte) bis hin zu niedrigen Kompetenzen (Level 1, 225–176) reichen, wobei unterhalb Level 1 eine faktisch sechste Stufe entsteht (Below Level 1, 0–175) (Zabal et al. 2013).

5 Ergebnisse

5.1 Alltagsmathematische Kompetenz einer Lebensspanne

Zunächst wurden die alltagsmathematischen Kompetenzen für PIAAC (Personen zwischen 16 und 65 Jahren) und CiLL (Personen zwischen 66 und 80 Jahren) vergleichend ausgewertet. Bei der Betrachtung muss immer die gesamte GeburtskohorteFootnote 4 berücksichtigt werden. Aussagen über die individuelle Kompetenzabnahme innerhalb einer Lebensspanne können mit einem Querschnitt nicht getroffen werden.

Deutlich wird, dass die mittleren Kompetenzwerte für den Bereich Alltagsmathematik sowohl bei Männern als auch bei Frauen der älteren Geburtskohorten abnehmen (s. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Durchschnittliche Mittelwerte der alltagsmathematischen Kompetenz für die deutsche PIAAC-Stichprobe (N = 5379) und die CiLL-Stichprobe (N = 1338) im Vergleich

Der Unterschied des Skalenwerts beträgt zwischen der jüngsten und der ältesten Kohorte der Männer 50 Kompetenzpunkte und der Frauen knapp 60 Punkte. Für beide Gruppen ist das ein Kompetenzunterschied von einem Kompetenzlevel (Männer Level 3 auf Level 2; Frauen Level 2 auf Level 1) und bedeutet, dass Frauen im Alter von 76 bis 80 Jahren im Durchschnitt maximal einfachste Berechnungen durchführen können. Die deutlichen Unterschiede weisen gerade bei der ältesten Kohorte auf einen historischen Effekt hin. Personen, die zwischen 1931 und 1936 geboren wurden, haben vermehrt unterbrochene Bildungsverläufe.

Der mittlere Kompetenzwert der gesamten CiLL-Kohorte (66–80 Jahre) liegt mit 240 Punkten unter dem mittleren Kompetenzwert der gesamten PIAAC-Kohorte (16–65 Jahre) von 272 Punkten.

Im Folgenden gilt es zu überprüfen, wie sich die Skills-Use-Variablen (Indices)Footnote 5 der beiden Stichproben bei den jeweiligen Geburtskohorten verändern. Um vergleichend einschätzen zu können, wie die Praktiken im Allgemeinen verwendet werden, wurden in der Analyse die Nutzungsvariablen der literalen Kompetenzen (Häufigkeit des Lesens und Schreibens im Alltag) mitberücksichtigt. Für alle drei Alltagspraktiken ist zunächst eine abnehmende Häufigkeit der Nutzung bei den Altersgruppen festzustellen (siehe Abb. 2). Für die Alltagsmathematik zeigt sich ein geringer Anstieg der durchschnittlichen Nutzungshäufigkeit von der Altersgruppe der 55- bis 65-Jährigen hin zur Gruppe der 66- bis 70-Jährigen. Dies deutet auf eine vermehrte Anwendung beim Übergang in das Rentenalter hin.

Abb. 2
figure 2

Durchschnittliche Mittelwerte der Skills-Use-Variablen für die deutsche PIAAC- (N < 5000) und CiLL- (N < 1200) Stichprobe im Vergleich

5.2 Alltagsmathematische Praktiken im höheren Lebensalter

Ausgehend von Praktiken, die im Kontext des sozialen und wirtschaftlichen Systems zu betrachten sind, wird die Variable „Berechnen von Preisen, Kosten und Budgets“ (H_Q03b) bezüglich der Kategorie Geschlecht aufgeteilt. Es ergibt sich ein höchstsignifikanter Unterschied zwischen Männern und Frauen in der Anwendung von einfachen alltagsmathematischen Kompetenzen:

42,3 % der Männer geben an, mindestens einmal in der Woche oder täglich diese Praktik anzuwenden, während 58,8 % der Frauen dieselbe Antwort gaben (siehe Abb. 3). 20,3 % der Männer gaben an, nie die Praktiken anzuwenden. Bei den Frauen gaben 16 % an, nie Preise, Kosten und Budgets zu berechnen.

Abb. 3
figure 3

Häufigkeitsverteilung nach Geschlecht für das Berechnen von Preisen, Kosten und Budgets innerhalb der CiLL-Stichprobe (N = 1338)

Deutlich wird, dass insgesamt beide Gruppen angaben, die Praktiken häufig zu verwenden, Frauen jedoch signifikant (1 % Signifikanzniveau) häufiger als Männer.

Dieses Bild ändert sich, wenn die Variable „Verwenden oder Berechnen von Prozenten und Dezimalzahlen“ (H_Q03c) betrachtet wird. Zunächst wird deutlich, dass diese Praktik allgemein seltener im Alltag verwendet wird als einfachere Berechnungen. Von den Männern gaben 37,8 % an, nie diese Praktik anzuwenden, während der Anteil der Frauen mit 45,9 % noch höher liegt (siehe Abb. 4). Die tägliche bis wöchentliche Anwendung ist mit 17,6 % bei den Frauen und 25,7 % bei den Männern weitaus geringer als bei der Anwendung in Abb. 1. Sehr deutlich wird aber auch, dass Männer weitaus häufiger Prozente, Brüche und Dezimalzahlen im Alltag verwenden als Frauen.

Abb. 4
figure 4

Häufigkeitsverteilung nach Geschlecht für das Verwenden von Prozenten und Dezimalzahlen innerhalb der CiLL-Stichprobe (N = 1337)

Wird nun die Variable betrachtet, die nach der Lesehäufigkeit von Rechnungen oder Bankauszügen fragt (H_Q01g), ergibt sich für die Männer ebenfalls eine häufigere Anwendung dieser Praktik. 51,2 % gaben an, täglich oder einmal in der Woche Rechnungen oder Bankauszüge zu lesen, während 42,9 % der Frauen dieselben Angaben machten (siehe Abb. 5). Auffallend ist auch, dass die Angabe „nie“ bei dieser Praktik am wenigsten angegeben wurde.

Abb. 5
figure 5

Häufigkeitsverteilung nach Geschlecht für das Lesen von Rechnungen und Bankauszügen innerhalb der CiLL-Stichprobe (N = 1338)

Lave konnte in ihrer Feldstudie zeigen, dass Kinder die Haushaltsführung beeinflussen. Kontrollieren wir nun dahingehend, ob angegeben wurde, Kinder zu haben, ergibt sich ein sehr interessantes Bild (Abb. 6). Von allen befragten Personen in CiLL, die laut eigener Angabe zwei Kinder haben, gaben 55,8 % an, jeden Tag oder mindestens einmal pro Woche Preise, Kosten und Budgets zu berechnen. Im Vergleich dazu gaben 44,2 % der Personen ohne Kinder an, diese Praktik jeden Tag oder mindestens einmal in der Woche anzuwenden. Die Anzahl der Kinder scheint folglich einen hochsignifikanten Einfluss auf die Praktiken zu nehmen (1 % Signifikanzniveau).Footnote 6

Abb. 6
figure 6

Häufigkeitsverteilung nach Anzahl der Kinder für das Berechnen von Preisen, Kosten und Budgets innerhalb der CiLL-Stichprobe (N = 1338)

6 Fazit und Ausblick

Es lässt sich festhalten, dass die Auswertungen der in PIAAC und CiLL erfassten Skills-Use-Variablen Aufschluss darüber geben können, wie häufig Kompetenzen angewendet werden, die bezüglich finanzieller Entscheidungen von Älteren benötigt werden. Die von Mania und Tröster (Mania und Tröster 2015a) vorgeschlagenen Domänen der finanziellen Grundbildung können anteilig im Alltag der Älteren abgebildet werden und zeigen, dass Alltagsmathematik durchaus Anwendung in der Nacherwerbsphase findet.

Resümierend können die zu Beginn gestellten Fragen wie folgt beantwortet werden:

  1. a)

    Wie verhalten sich numerale Kompetenzen mit steigendem Alter?

Die Kompetenzmittelwerte sinken nach einem Maximum in der Alterskohorte von 25 bis 34 Jahren bei den Frauen und von 34 bis 44 Jahren bei den Männern stetig. Dieser Befund bestätigt die bisher nur getrennt voneinander berichteten Ergebnisse zum Verlauf von numeralen Kompetenzen in PIAAC (Maehler et al. 2013) und in CiLL (Gebrande und Setzer 2014; Knauber und Weiß 2014).

  1. b)

    Wie verhalten sich numerale Praktiken mit steigendem Alter?

Trotz einer allgemeinen Kompetenzabnahme im Alter werden numerale Praktiken regelmäßig eingesetzt. Der Vergleich zeigt, dass die Mittelwerte der Skill-Use-Indices für Numeracy zwischen den Altersgruppen der 55- bis 65-Jährigen und der 66- bis 70-Jährigen leicht ansteigen. Das könnte weiterhin darauf hindeuten, dass der Übergang in die nachberufliche Phase mit einem Anstieg der Nutzung alltagsmathematischer Praktiken einhergeht. Dass eine Notwendigkeit entsteht, durch ein geringeres Einkommen in der Nacherwerbsphase häufiger Zahlungsverkehr, Haushalts- und Wochenplanungen und Ausgaben zu überprüfen, scheint hier sehr naheliegend.

  1. c)

    Wie verhalten sich numerale Praktiken nach Geschlecht im Alter von 66 bis 80 Jahren?

Hervorgehoben werden kann der Umgang mit Budgets und Preisen sowie der Umgang mit Dezimal- und Prozentwerten und das Lesen von Rechnungen und Bankauszügen. Die Ergebnisse zeigen, dass Frauen mit 58,8 % weitaus häufiger wöchentlich bis täglich einfache Berechnungen vornehmen als Männer mit 42,3 %. Im Umgang mit Dezimalzahlen und Prozentrechnen sowie dem Lesen von Bankauszügen ergibt sich für die Frauen eine seltenere Nutzung der numeralen Praktiken im Vergleich zu den Männern.

Zu vermuten ist, dass Frauen die Haushaltsbudgets bewirtschaften und offenbar häufiger mit solchen numeralen Praktiken konfrontiert sind als Männer. Der Umgang mit Dezimal- und Prozentwerten sowie mit Bankauszügen und Rechnungen scheint bei den 65- bis 80-Jährigen eher den Männern zuzufallen. Dies weist auf eher traditionelle Arbeitsteilungen hin. Die Werte bestätigen Laves Analysen aus den späten 1980er Jahren, nach denen über das „große Geld“ von den Männern verfügt wird, während Frauen das „kleine Geld“ bewirtschaften (Lave 1988, S. 134–138). Es bleibt zu prüfen, ob sich diese Verteilung in jüngeren Kohorten bricht oder ob sie im Wesentlichen durch die bis heute klassisch verteilte Familienarbeit, in der Männer häufiger bezahlter Arbeit nachgehen (Hobler et al. 2017), begründet ist.

  1. d)

    Wie verhalten sich numerale Praktiken im Alter von 66 bis 80 Jahren in Abhängigkeit von der Anzahl der eigenen Kinder?

Interessant ist die Zahl der Kinder im Verhältnis zu numeralen Praktiken. Die typische, in die Jahre gekommene Familie mit zwei Kindern zieht gehäufte numerale Praktiken nach sich, während dieser Wert bei steigender Kinderzahl sukzessive sinkt. Die durchschnittliche Kinderzahl dieser CiLL-Kohorte ist höher als die der PIAAC-Kohorte. Das ist einerseits ein Generationeneffekt, andererseits liegt das an der Gruppe der Jüngeren in der PIAAC-Stichprobe, deren Familiengründung noch aussteht. Insgesamt lässt sich ein Kinder-Effekt feststellen: Sind Kinder im Haushalt, wird mehr gerechnet als in Haushalten ohne Kinder. Das weist auf erhöhte Verteilungsaufgaben hin, die ebenfalls mit Laves frühen Untersuchungen konform gehen. Selbst bei Älteren, deren Kinder vermutlich nicht mehr im selben Haushalt leben, stellen Kinder eine nicht zu unterschätzende alltagsmathematische Aufgabe dar.

Es zeigt sich, dass gerade die alltagsmathematischen Praktiken im Bereich Budgetierung und Haushaltsplanungen trotz höherem Alter noch von rund einem Drittel der Männer und über der Hälfte der Frauen mindestens einmal in der Woche Anwendung finden. Fähigkeiten und Fertigkeiten in Bezug auf finanzielle Handlungen verlieren also keine Relevanz im höheren Alter. Die Wichtigkeit von finanzieller Grundbildung im Bereich der Alphabetisierung und Grundbildung wurde mit dem CurVe-Projekt bereits erfolgreich vermittelt. Die Gruppe der Älteren als Adressaten von Lern- und Weiterbildungsangeboten sollte nun noch stärker von der Erwachsenenbildung in den Blick genommen werden.

Die hier durchgeführten quantitativen Sekundäranalysen können einen kleinen Einblick in das Alltagsleben geben, sind aber in ihrer Individualität und dem Bezug auf den kulturellen und sozialen Kontext begrenzt. Demnach scheinen Analysen sinnvoll, die Alltagsmathematik als situierte Praktik im Alter besser abbilden können.

Wenn von einer zeitlichen Ausdehnung des dritten Lebensalters ausgegangen wird und von neuen Anforderungen an die Ausgestaltung der Nacherwerbsphase (Schmidt-Hertha und Rees 2018), scheinen Überlegungen wichtig, stärker das Weiterbildungsangebot bezüglich finanzieller Handlungsfähigkeit im Alter auszubauen. Die Verbesserung der Finanzkompetenz im Alter führt zwar nicht zu einer Erhöhung der finanziellen Mittel, kann aber dazu beitragen, ein niedriges Einkommen erfolgreich zu verwalten. Gerade in Bezug auf den Umgang mit neuen Medien eröffnen sich vermeintlich einfache Wege, Kredite aufzunehmen und günstige Finanzierungen vorzunehmen. Wer sich seine Kompetenzen im höheren Alter bewahrt, bleibt handlungsfähig, und in gewisser Weise gewähren sie auch Selbstsicherheit im Alltag und im sozialpolitischen Urteil, denn: „being numerate is being critical“ (Tout 1997, S. 13).