1 Einleitung

Bezüglich der Bildung Erwachsener rückt Grundbildung und Alphabetisierung verstärkt in den Fokus, insbesondere seit der Veröffentlichung der Ergebnisse des Programmes for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC) der OECD 2013, welches die Grundkompetenzen Erwachsener in den Bereichen Lesen, Alltagsmathematik und technologiebasierte Problemlösungskompetenz in verschiedenen Ländern miteinander verglich. PIAAC zeigte, dass ein relativ großer Prozentsatz von Personen in hochentwickelten Industriegesellschaften nicht in der Lage ist, die unterste Stufe von Grundkompetenzen zu erreichen und damit nicht in ausreichendem Maß über basale Kompetenzen zur Alltagsbewältigung verfügt. Im Durchschnitt aller an der Studie teilnehmenden Länder erreichen rund 3,3 % der Personen zwischen 16 und 65 Jahren nicht einmal die niedrigste Stufe auf einer insgesamt fünfstufigen Skala der Lesekompetenz; 15,5 % liegen unter der zweiten Stufe. Neben der PIAAC-Studie wurde in Deutschland die Debatte um Grundbildung und Alphabetisierung durch die nationale leo. – Level-One Studie angeregt, wonach in Deutschland rund 7,5 Mio. funktionale Analphabeten in der erwerbsfähigen Bevölkerung zu finden sind (Grotlüschen und Riekmann 2012, S. 19). Diese Ergebnisse wurden von Politik und Medien zum Teil breit rezipiert (vgl. Schmidt-Hertha 2014) und lösten eine Debatte über Grundkompetenzen Erwachsener aus, insbesondere derjenigen mit geringen Kompetenzen. Die Reaktionen auf die Ergebnisse von PIAAC in den in diesem Beitrag untersuchten Ländern England, Niederlande, Österreich und Türkei variierten. Während in Österreich und den Niederlanden staatliche Akteure von den Ergebnissen wenig überrascht waren und sie argumentativ nutzen, um die eingeschlagene Politik fortzuführen, waren in England insbesondere staatliche Akteure vom schlechten Abschneiden jüngerer Bevölkerungsgruppen erstaunt und leiteten daraus politische Maßnahmen zur Verbesserung der Grundbildung Jugendlicher und junger Erwachsener ab. Die in PIAAC zugrunde gelegte Definition von Grundkompetenzen wird in den einzelnen Ländern aufgegriffen; nichtsdestotrotz wird Unterschiedliches unter diesem Begriff sowie unter Maßnahmen zur Verbesserung dieser Kompetenzen verstanden.

Bei der Argumentation für Grundbildung und Alphabetisierung als wichtiges bildungspolitisches Handlungsfeld kann zwischen zwei unterschiedlichen Linien differenziert werden. Die erste Argumentationslinie geht von der UNESCO aus, die das Recht auf Alphabetisierung als eine zentrale Komponente des in Artikel 26 der Deklaration der Menschenrechte festgeschriebenen Rechts auf Bildung und damit selbst als ein Menschenrecht, unabhängig von seinem Nutzen, ansieht (vgl. UNESCO Institute for Lifelong Learning 2015; UN 1948). Entsprechend weit gefasst ist die von der UNESCO verwendete Definition:Footnote 1 „Basic education for all means that people, whatever their age, have an opportunity, individually and collectively, to realize their potential“ (UNESCO 1997, S. 3).

Die zweite Argumentationslinie sieht eine hohe Ausprägung von Grundkompetenzen in der Bevölkerung als Erfolgsfaktor für eine stabile und nachhaltige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung an (vgl. OECD 2013a; European Commission 2012; BMBF 2012). Hier wird insbesondere der wirtschaftliche Nutzen von Grundkompetenzen betont und deren zentrale Bedeutung für den individuellen Arbeitsmarkterfolg und für höhere EinkommenFootnote 2. Im OECD-Kontext (PIAAC) werden als Grundkompetenzen Fähigkeiten bezeichnet, die man zur Bewältigung des Alltags und zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Teilhabe benötigt. Dazu zählen Lesekompetenzen, Alltagsmathematik und technologiebasierte Problemlösungskompetenz. Lesekompetenz wird als „the ability to understand, evaluate, use and engage with written texts to participate in society, to achieve one’s goals, and to develop one’s knowledge and potential“ definiert (OECD 2013a, S. 59).

Politisch wurde und wird die Problematik über den hohen Prozentsatz von Personen mit niedrigen Grund- und Lesekompetenzen erkannt und mit Empfehlungen, politischen Strategien und Programmen supranational, international und national adressiert. Die Europäische Union legt in ihrer „Europe 2020“-Strategie zum einen einen Schwerpunkt auf die Senkung der Schulabbruchquoten, damit mehr Jugendliche ihre Schullaufbahn mit einem Abschluss und damit einhergehend grundlegenden Kompetenzen verlassen (European Commission 2010, S. 11). Hier wird Grundbildung in einen schulischen Kontext eingebettet. Zum anderen werden in der Strategie auch unter dem Stichwort „Flagship Initiative: ‚An Agenda for new skills and jobs‘“ Erwachsene adressiert, die über geringe Grundkompetenzen verfügen, somit als „bildungsfern“ bezeichnet werden und nun für Bildungsangebote gewonnen werden sollen (ebd., S. 18). Die OECD gibt auf Grundlage der von ihr erhobenen Daten (z. B. PIAAC) ebenfalls Empfehlungen für die Verbesserung von Grundkompetenzen der Bevölkerungen, die zum Teil auch auf einzelne Länder zugeschnitten sind (vgl. Kuczera et al. 2016; OECD 2013b). Die konkrete Umsetzung und Implementierung von Maßnahmen zur Verbesserung niedriger Grund- und Lesekompetenzen liegt weiterhin in der Verantwortlichkeit der einzelnen Staaten. Der jeweiligen nationalen Politik wird zur Verbesserung der Lesekompetenzen in der Bevölkerung eine zentrale Rolle zugemessen (vgl. Knoll 2009, S. 27). In Deutschland lässt sich die bildungspolitische Bedeutung des Themas Grund- und Lesekompetenzen Erwachsener an Förderprogrammen, wie zuletzt dem „Nationalen Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung“ sowie der 2015 ausgerufenen „Dekade für Alphabetisierung“, ablesen (vgl. BMBF 2012, 2015).

Auch wenn einzelne Überblicksarbeiten zu Grundbildungsprogrammen in verschiedenen Ländern und deren Effekte existieren (vgl. Aschemann 2015; Country Reports des Projekts European Literacy Policy Network), gibt es bisher keine ländervergleichende Arbeit zu Grundbildungspolitiken. Aus der Perspektive vergleichender Forschung zur Bildungspolitik erscheint es jedoch interessant zu untersuchen, wie einzelne Staaten Politiken zur Verbesserung von Grundbildung (insbesondere Alphabetisierung) der erwachsenen Bevölkerung entwickeln und umsetzen. Damit ließen sich Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede in den Governance-Strukturen von der Politikformulierung bis hin zur Implementierung verschiedener Länder feststellen, um in einem weiteren Schritt nach möglichen Bedingungen erfolgversprechender Politiken zu suchen bzw. nach Effekten von Governance-Strukturen auf das Niveau und die Verteilungsstruktur von Grundkompetenzen in der erwachsenen Bevölkerung.

Bei der Beantwortung dieser Frage gehen wir auf die drei unterschiedlichen Dimensionen des Politikbegriffs ein: die institutionelle Dimension (polity), die sich mit den konstitutionellen Rahmenbedingungen zur Durchsetzung bildungspolitischer Entscheidungen befasst; die inhaltliche Dimension (policy), die die bildungspolitische Programmatik und Zielsetzung untersucht; und schließlich die prozessuale Dimension des Politikbegriffs (politics), die die Interessen und Handlungen von wichtigen Akteuren und deren Entscheidungsprozesse bei der Umsetzung der Programmatik erforscht (Reuter und Sieh 2010, S. 185 f.).

Auf Grundlage dieser Strukturierung fokussieren wir uns in diesem Beitrag auf folgende Forschungsfragen: Was wird als Grundbildungspolitik in dem jeweiligen Land verstanden? Wie werden die Inhalte von Grundbildungspolitiken von Akteuren definiert? (policy); Wer sind zentrale Akteure, die steuernd in dieses Politikfeld eingreifen? Innerhalb welcher institutioneller Regeln und Handlungszuständigkeiten operieren sie? (polity); Auf Grundlage welcher Handlungsressourcen und welcher Interaktionsformen operieren die Akteure? (politics).

Als empirische Basis dienen uns die Ergebnisse aus dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierten und vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen (DIE) durchgeführten Projekt „EU-Alpha“ zu Politiken der Grundbildung und Alphabetisierung im internationalen Vergleich. Das Forschungsprojekt hatte zum Ziel, Governance-Strukturen in sechs verschiedenen Ländern bezüglich Politiken der Grundbildung und insbesondere Alphabetisierung zu beschreiben, zu analysieren und zu vergleichen. Das Projekt fokussierte sich dabei auf die Identifikation von relevanten (staatlichen und nicht-staatlichen) Akteuren und deren Konstellationen zueinander, auf die Finanzierung sowie auf politische Programme/Kampagnen zur Verbesserung der Grund- und insbesondere Lesekompetenzen der erwachsenen Bevölkerung.

Der Beitrag ist folgendermaßen strukturiert: Zunächst wird der theoretische Hintergrund des Beitrags sowie der methodische Aufbau dargelegt. In einem zweiten Schritt werden ausgewählte empirische Ergebnisse der Studie, welche die Programmatik und Implementierung von Politiken zur Grundbildung und Alphabetisierung in den ausgewählten Ländern zeigen, herausgearbeitet. In einem abschließenden Schritt zeigt dieser Beitrag mögliche Desiderate in der Forschung zu Grundbildungs- und Alphabetisierungspolitik im internationalen Vergleich auf.

2 Theoretischer Hintergrund

Die Beantwortung der in der Einleitung vorgestellten Fragen benötigt einen interdisziplinären Zugang an der Schnittstelle zwischen vergleichender Bildungsforschung und vergleichender Politikforschung. Reuter (2002) bezeichnet diese Art von Forschung als politikwissenschaftliche Bildungsforschung (Reuter 2002, S. 169 ff.). Nach Reuter und Sieh (2010) erlebte diese Forschung in den 1990er-Jahren mit der Europäisierung und Internationalisierung eine Renaissance durch Bildungsberichterstattung, bildungssystemvergleichenden Projekte, Arbeiten zu Steuerungsmechanismen und internationale Ländervergleichsstudien (Reuter und Sieh 2010, S. 190).

Als theoretische Grundlage wird auf den interdisziplinären Governance-Ansatz als übergeordneten Rahmen und auf die politikwissenschaftliche Theorie des akteurzentrierten Institutionalismus zurückgegriffen, um auch Akteure, deren Handlungsressourcen und Interaktion zu berücksichtigen. Der Governance-Ansatz weist einen großen Überschneidungsbereich mit akteurzentrierten Handlungstheorien auf, was die zentralen analytischen Kategorien betrifft: So sind die in der Forschung über Educational Governance zentralen analytischen Kategorien (Akteure und Akteurskonstellationen, Mehrebenensystem, Interdependenz, Koordinationsformen und Handlungskoordination) (vgl. Kussau und Brüsemeister 2007) deckungsgleich mit den analytischen Kategorien des akteurzentrierten Institutionalismus (Scharpf 2006, S. 73 ff.).

Die Auseinandersetzung mit dem Governance-Konzept, das jenseits des Nationalstaats ansetzt und die Vielfalt (relativ) autonomer Akteure auf unterschiedlichen Ebenen (lokal, regional, national, international) berücksichtigt, liegt nah. Bildungspolitik wird nicht nur von nationalstaatlichen, sondern auch von internationalen, zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren sowie von interessenvertretenden Akteuren (mit-)gesteuert. Der Begriff Educational Governance betont die Vielzahl der Akteure und die Vielfalt der Interaktionen zwischen diesen Akteuren.

In der international-vergleichenden Bildungsforschung wird Governance mit Blick auf den zunehmenden Einfluss transnationaler Akteure (EU, OECD, Weltbank) auf nationale Entwicklungen bzw. auf die „Formation neuer Bildungsregime in post-nationalen Konstellationen“ problematisiert (vgl. Amos und Radtke 2007; Ioannidou 2010; Parreira do Amaral 2015). Auch jenseits von international-vergleichender Forschung zur Bildungspolitik wird der Governance-Ansatz intensiv diskutiert: zum einen in der Schulforschung, wo das Konzept der Educational Governance ursprünglich entwickelt wurde (vgl. Altrichter et al. 2007; Altrichter 2015), zum anderen in Analysen zur Hochschulsteuerung (vgl. Dobbins und Knill 2015) oder zur (beruflichen) Weiterbildung (vgl. Klenk 2013). Unter dem Begriff Governance werden Prozesse der Handlungskoordination zwischen verschiedenen Akteuren erfasst, die ebenenübergreifend (Mehrebenensystem) stattfinden und Organisations- und Staatsgrenzen überschreiten. Das Handeln von Akteuren wird durch institutionalisierte Regelsysteme (Hierarchie, Markt, Mehrheitsregel, Verhandlungsregel) gelenkt, die meistens nicht in reiner Form, sondern in Kombination vorliegen. Governance umfasst zudem Formen der Interaktion und des kollektiven Handelns, die im Rahmen von Institutionen entstehen (Netzwerke, Koalitionen, Vertragsbeziehungen, wechselseitige Anpassung) (vgl. Benz und Dose 2010). Es wird unterstellt, dass in dieser Mehrebenenstruktur die verschiedenen Akteure in einer wechselseitigen Abhängigkeitsbeziehung zueinander stehen und hohe Koordinationsleistungen aufbringen müssen, um Entscheidungen durchzusetzen.

Politiken der Grundbildung können in Anlehnung an den Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus zudem als „das Produkt von Interaktionen zwischen intentional handelnden – individuellen, kollektiven oder korporativen – Akteuren“ (Scharpf 2006, S. 17) betrachtet und erklärt werden. Die Identifizierung der wichtigsten Akteure, ihrer Handlungsressourcen und Interaktionsformen erscheinen in diesem akteurtheoretischen Ansatz von zentraler Bedeutung. Als Handlungsressourcen von Akteuren können zum einen persönliche Merkmale, wie Human- und Sozialkapital, berücksichtigt werden, aber auch materielle Ressourcen, wie z. B. Geld oder privilegierter Informationszugang sowie institutionelle Regeln, wie zugewiesene Kompetenzen, Partizipations- und Vetorechte (Scharpf 2006, S. 86). Als Interaktionsformen kann zwischen hierarchischer Steuerung, einseitigem Handeln, Verhandlung und Mehrheitsentscheidung differenziert werden (ebd., S. 90 ff.).

3 Methodisches Vorgehen

Die Ergebnisse, die in diesem Beitrag präsentiert werden, stammen aus Daten des Forschungsprojekts „EU-Alpha“, das Governance-Strukturen zur Grundbildung und insbesondere Alphabetisierung in den Ländern Dänemark, England,Footnote 3 Frankreich, Niederlande, Österreich und der Türkei untersuchte und verglich. Im Rahmen der PIAAC-Erhebung der OECD liegen Daten zu Grundkompetenzen, wie Lesekompetenz und Alltagsmathematik, von allen ausgewählten Ländern vor (bzw. werden im Fall der Türkei Ende 2016 vorliegen), die es uns ermöglichen, eine Einschätzung zur Lesekompetenz der erwachsenen Bevölkerung in dem jeweiligen Land vorzunehmen. Ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl der Länder war die Steuerungsform im Bildungsbereich. Wir orientieren uns dabei an der Typologie von Bildungsregulation und -steuerung von Green et al. (1999, S. 79 ff.), die zwischen vier Steuerungsmodellen unterscheidet: dem zentralistischen System, dem regionalen System, dem lokalen System und dem System der institutionellen Autonomie im Quasi-Markt. So weisen die Fall-Länder unterschiedliche Steuerungsmodi bezüglich der Bildung auf. Das zentralistische System zeichnet sich durch eine starke zentrale Steuerung und Regulation des Bildungssystems aus sowie homogene institutionelle und administrative Strukturen. Green et al. ordnen diesem Modell die Länder Frankreich und Österreich zu. Das regionale System, beispielhaft dargestellt durch Deutschland, verfügt mit den Bundesländern über eine Ebene zwischen (Zentral-)Staat und Gemeinden, die eine vorherrschende Rolle in der Bildungsregulation und -steuerung einnimmt, auch wenn es eingeschränkte bundesstaatliche Zuständigkeiten gibt. Im lokalen System, dargestellt durch die skandinavischen Länder, dominieren Gemeinden bei der Steuerung, auch wenn der (Zentral-)Staat Rahmenbedingungen vorgibt. Das vierte Modell, von der Autorin und den Autoren dargestellt durch England und die Niederlande, zeichnet sich durch eine begrenzte staatliche Einflussnahme aus bei gleichzeitiger maximaler institutioneller Autonomie. Obwohl sich die Typologie primär auf Merkmale der Steuerung bezüglich formaler Bildung und Ausbildung bezieht, bildet sie ein Spektrum staatlicher Regulation – von zentraler staatlicher bis eher marktlicher Steuerung – ab, das wir auch im Bereich Grundbildung und Alphabetisierung erwarten können. Grundbildungs- und Alphabetisierungsangebote können in unterschiedlichen Sektoren des Bildungssystems eingebettet sein; in der schulischen und beruflichen Bildung für Jugendliche und junge Erwachsene sowie in der Erwachsenenbildung und Weiterbildung für Erwachsene. Aus diesem Grund ist zu erwarten, dass die oben beschriebene Typologie staatlicher Regulation auch für jene Bereiche der Erwachsenenbildung tragfähig ist, die sich der Grundbildung zuwenden.

Nach der Auswahl der Länder wurden zum einen quantitative Daten der PIAAC-Erhebung ausgewertet und zum anderen qualitative Experteninterviews in den ausgewählten Ländern durchgeführt sowie bildungspolitische Dokumente analysiert. Da dieser Beitrag ausschließlich auf die Ergebnisse der qualitativen Daten eingeht, wird im Folgenden nur deren Methodik erläutert. Die Experteninterviews wurden mit staatlichen (meist ministeriale Ebene) und nicht-staatlichen Akteuren (Politik, Verbände der Erwachsenen-/Grundbildung/Alphabetisierung, Gewerkschaften, Forschung) geführt, die für die Politik der Grundbildung und Alphabetisierung des Landes Schlüsselakteure darstellen. In allen ausgewählten Ländern wurden nicht-standardisierte, leitfadengestützte Interviews durchgeführt (Gläser und Laudel 2010, S. 38 ff.), um Daten länderübergreifend vergleichen zu können. Die Interviews wurden zwischen Oktober 2014 und März 2015 durchgeführt, aufgezeichnet und transkribiert. Die Anzahl der Interviews liegt in den verschiedenen Ländern zwischen fünf und sieben. Die Interviewdauer betrug im Durchschnitt 66 Minuten. Nach der Transkription der Interviews erfolgte eine inhaltsanalytische Auswertung (vgl. Mayring 2015) des Materials, die softwaregestützt (vgl. Kuckartz 2007) mit der Software MAXQDA durchgeführt wurde. Auch bildungspolitische Dokumente der jeweiligen Länder wurden ergänzend zu den Interviews inhaltsanalytisch ausgewertet.

4 Ergebnisse: Ausgewählte Ergebnisse zu Politiken der Grundbildung im internationalen Vergleich

Im Folgenden werden wir auf die drei vorgestellten Forschungsfragen eingehen, die jeweils einer Dimension des Politikbegriffs zuzuordnen sind. In unserer Analyse unterscheiden wir, wie oben beschrieben, aus systematischen Gründen (eng angelehnt an den englischen Sprachraum) zwischen dem Prozess, der Form bzw. institutionellen Ordnung und dem Inhalt von Politik (Schmidt 2004, S. 535 ff.). Das Potenzial der Dreigliederung des Politikbegriffs liegt darin, dass es uns erlaubt, jeweils auf eine Dimension des komplexen Politikbegriffs zu fokussieren, um sie besser beschreiben und analysieren zu können.

Für die Darstellung der Ergebnisse wurden vier Länder beispielhaft ausgewählt: die Türkei, Österreich, die Niederlande und England. Die Auswahl der Länder richtete sich nach der Reichhaltigkeit des Datenmaterials und nach Möglichkeiten der maximal kontrastierenden Darstellung der in diesem Beitrag untersuchten Aspekte. Alle im Folgenden aufgeführten Ergebnisse stammen, wenn nicht anders ausgewiesen, aus der Analyse der Experteninterviews.

4.1 Was wird als Grundbildungspolitik in den einzelnen Ländern verstanden? Wie werden diese Inhalte von staatlichen Akteuren definiert? (policy)

Bei der inhaltlichen Dimension der Grundbildungs- und Alphabetisierungspolitik beschäftigen wir uns im Folgenden mit der Frage, was staatliche Akteure in den beispielhaft herausgegriffenen Ländern Türkei, Österreich, Niederlande und England unter Grundbildungs- bzw. Alphabetisierungspolitik verstehen und inwieweit diese Politiken einen eigenständigen Punkt auf der bildungspolitischen Agenda darstellen.Footnote 4

In der Türkei wurde Alphabetisierung in der Vergangenheit als eine staatliche Aufgabe gesehen, was damit verbunden ist, dass Anfang des 20. Jahrhunderts eine Umstellung vom persisch-arabischen Alphabet auf das lateinische Alphabet vollzogen wurde und die gesamte Bevölkerung auf dieses neue Alphabet umgeschult werden musste. Heute geht das Bildungsministerium davon aus, dass alle Personen mit Grundschulabschluss alphabetisiert sind und daher von Analphabetismus ausschließlich Personen betroffen sind, die das formale Bildungssystem nicht vollständig durchlaufen haben. Das Ministerium definiert Alphabetisierung als die Fähigkeit, „das lesen zu können, was man sieht und das schreiben zu können, was man denkt“. Alphabetisierung für Erwachsene (ohne Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen) umfasst nach den staatlich ausgearbeiteten Lehrplänen Türkisch, Mathematik und sogenannte Lebenskompetenzen, alles Lerninhalte äquivalent zu Inhalten in türkischen Grundschulen. Die erfolgreiche Teilnahme mündet in einem Zertifikat, das einem Grundschulzeugnis gleichgestellt ist und damit für den Besuch einer Hauptschule qualifiziert. Der Großteil der Teilnehmenden nimmt nach Beendigung der Alphabetisierungskurse an weiteren Angeboten, wie beispielsweise an berufsbezogenen Kursen zur Verbesserung der Chancen zur Integration in den Arbeitsmarkt, teil (die gesetzlich nach dem „Primary Education Law“ und „Education Law Nr. 222“ von 1961 geregelt sind). Bildungspolitik und Alphabetisierungskampagnen wurden in der Vergangenheit vom türkischen Staat nicht nur als geeignetes Mittel für die Entwicklung einer fortschrittlichen Gesellschaft betrachtet, sondern auch, um Bürger dazu zu erziehen, sich nach den Werten und Prinzipien des türkischen Staates zu richten (Karakaşoğlu 2010, S. 770).

In Österreich ist statt von Grundbildung in der Regel von Basisbildung die Rede; beide Begriffe werden synonym verstanden. Basisbildung wird politisch in einem Strategiepapier zum Lebenslangen Lernen sowie im aktuellen Arbeitsprogramm der österreichischen Bundesregierung adressiert. Nach der aktuellen politischen Bund-Länder-Initiative bzw. Vereinbarung Initiative Erwachsenenbildung gehört zu Basisbildung die Lernkompetenz (autonomes Lernen, Lernen lernen), die Kompetenz in der deutschen Sprache (Sprechen, Lesen, Schreiben), grundlegende Kompetenz in einer weiteren Sprache (Sprechen, Lesen, Schreiben), Rechnen sowie Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT).Footnote 5 In den Experteninterviews wurde von staatlicher Seite angemerkt, dass der Begriff der Basisbildung nicht so negativ behaftet sei wie der Alphabetisierungsbegriff und deshalb verwendet werde, auch wenn beide Begriffe inhaltlich nicht deckungsgleich seien. Basisbildung würde jedoch über die festgeschriebene Definition hinausgehen und einen emanzipativen Aspekt im Sinne der Stärkung von Handlungsfähigkeit sowie politischer Bildung umfassen. Zwischen Basisbildung und dem Nachholen von Schulabschlüssen wird differenziert, auch wenn zweites auf erstem aufbauen kann. Gesetzliche Grundlagen für das Nachholen des Schulabschluss bei Erwachsenen sind seit 2012 in Kraft (BGBl. Nr. I, 72/2012: Pflichtschulabschluss-Prüfungsgesetz, BGBl. Nr. II, 288/2012: Prüfungsgebiete der Pflichtschulabschluss-Prüfung).

In den Niederlanden ist Grundbildung und Alphabetisierung in unterschiedlichen Programmen bzw. Gesetzen verankert. Grundlage für die Erwachsenenbildung ist das WEB (Wet Educatie Beroepsonderwijs), ein Gesetz zur Erwachsenen- und Berufsbildung, über welches formale Bildung reguliert wird. Des Weiteren gab es zum Interviewzeitpunkt den politischen Aktionsplan Analphabetismus. Dieser beschäftigt sich explizit mit der Verbesserung von Grundkompetenzen in der Bevölkerung, aber auch mit Qualitätsverbesserungen von Bildungsmaßnahmen und Lehrpersonal. Die im Aktionsplan verwendete Definition von Grundbildung umfasste grundlegende Lese-, Sprach-, Schreib-, Hörverständnisfähigkeit und Rechnen sowie die Beherrschung von Alltagstechnologien zur Informationsverarbeitung und Kommunikation.Footnote 6 Personen mit niedrigen Grundkompetenzen kommen in mindestens einer der genannten Fähigkeiten maximal auf Stufe 2 der Kompetenzbeschreibungen des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQF). Niedrige Grundkompetenzen werden nicht ausschließlich als wirtschaftliches Problem gesehen, sondern auch als gesellschaftliches (im Sinne fehlender Teilhabe). Die Bekämpfung niedriger Grundkompetenzen wird zwar auch (mit den oben beschriebenen Gesetzen/Aktionsplan) bei Erwachsenen geführt, jedoch primär durch die Verbesserung der Schulen und der Verhinderung des Verlassens von schulischen oder beruflichen Bildungseinrichtungen ohne Qualifikation.

In England werden Grundkompetenzen, insbesondere Literacy und Numeracy, in der Diskussion staatlicher Akteure Englands eine herausragende Rolle für die Integration in den Arbeitsmarkt zugeschrieben. Die Regierung bezieht sich hauptsächlich auf Grundkompetenzen im beruflichen Kontext, die Zielgruppe junger Erwachsener sowie das Erlangen formaler Bildungsabschlüsse. Grundbildung umfasst dabei politisch die sogenannten functional skills (English, Mathematics, ICT), die die praktische Anwendung von Grundkompetenzen im Alltag darstellen. Im Rahmen der functional skills können Qualifikationen erworben werden, die dem entry level und der Stufe 1–2 des nationalen Qualifikationsrahmens entsprechen und so Grundlage für weitere Qualifikationen sind. Die enge Verknüpfung der Themen Grundbildung mit schulischer Bildung sowie Arbeitsmarktpolitik zeigt sich im politischen Programm der vergangenen fünf Jahre (2010–2015). Hier wurde die Erhöhung des Alters, in welchem junge Menschen Bildungsmaßnahmen besuchen müssen, auf 18 Jahre, die Verbesserung des beruflichen Bildungssystems (Rigour and Responsiveness in Skills) und das Reform-Programm Getting the Job Done: The Government’s Reform Plan for Vocational Qualifications, das eine Reform der Englisch- und Mathematik-Qualifikation anstrebt, beschlossen. Weitergehend unterstützt die Regierung das Lernen am Arbeitsplatz. Staatlich finanzierte Grundbildungskurse sind thematisch fast ausschließlich in arbeitsplatznahem Kontext eingebettet.

Es kann festgestellt werden, dass in allen betrachteten Ländern Grundbildung über die reine Alphabetisierung hinaus definiert wird und auch Mathematik und in Österreich, den Niederlanden und England auch ICT umfasst. Eine Differenz zwischen den Ländern findet sich dennoch beim Verständnis der Rolle von Grundbildung bzw. Grundkompetenzen. Während in England staatliche Akteure primär den Nutzen für den Arbeitsmarkt betonen, spielen in den anderen Ländern auch politische Bildung und Teilhabe eine Rolle (wobei zwischen dem Verständnis dieser Rolle in der Türkei und in den Niederlanden/Österreich zu differenzieren ist). Zudem zeigt sich insbesondere in der Türkei, etwas schwächer jedoch auch in Österreich, die Verknüpfung von schulischer Bildung mit Grundbildung. Dies zeichnet sich auch in den politischen Maßnahmen zur Grundbildung ab, die in England eng mit schulischer und beruflicher Bildungspolitik verknüpft sind, in Österreich, den Niederlanden und der Türkei hingegen eigenständiger behandelt werden.

4.2 Wer sind die zentralen Akteure in der Grundbildungspolitik? Innerhalb welcher institutioneller Regeln und Handlungszuständigkeiten operieren sie? (polity)

In der Polity-Dimension werden Governance-Strukturen betrachtet, d. h. die politische Institutionenordnung, Akteure und ihre Handlungszuständigkeiten im politischen Mehrebenensystem. Es ist deshalb zunächst zu fragen, welche staatlichen und nicht-staatlichen Akteure für die Grundbildungs- und Alphabetisierungspolitik eines Landes verantwortlich sind. Hier geht es um die Identifizierung von Akteuren, die in die politische Entscheidungsfindung bei der Bestimmung der Inhalte, der Sicherung der Finanzierung und letztlich auch die Umsetzung von Grundbildungs- und Alphabetisierungspolitik involviert sind.

Für die Bestimmung der Inhalte von Grundbildungspolitik zeichnen in den meisten der beispielhaft herausgegriffenen Länder hauptsächlich staatliche Akteure, in untergeordneter Rolle jedoch auch nicht-staatliche Akteure, verantwortlich. Bei den staatlichen Akteuren sind zum Teil verschiedene staatliche Ebenen für inhaltliche Entscheidungen verantwortlich je nach der Governance-Form im Bildungsbereich (Tab. 1).

In der Türkei werden alle relevanten inhaltlichen Entscheidungen vom Ministerium für Nationale Bildung (Milli Eğitim Bakanlığı, MEB) getroffen. Das Ministerium fungiert als oberstes Lenkungs- und Kontrollorgan des nationalen Bildungsprogramms. Es ist verantwortlich für alle (Aus-)Bildungsmaßnahmen und deren detaillierte inhaltliche Ausgestaltung (beispielsweise auch Entwicklung der Lehrpläne, Abschlüsse aller formalen und non-formalen Bildungseinrichtungen, mit Ausnahme der Hochschulen). In Österreich gibt es mehrere Ebenen, auf denen sowohl staatliche als auch nicht-staatliche Akteure in unterschiedlichen Funktionen für die Inhalte von Grundbildungs- und Alphabetisierungspolitik verantwortlich sind. Für die Bund-Länder-Kooperation der politischen Initiative Erwachsenenbildung, die den wesentlichen Teil der österreichischen Grundbildungs- und Alphabetisierungspolitik darstellt, wurden zentrale inhaltliche Vorgaben von einer Expertengruppe entworfen – bestehend aus staatlichen Akteuren, wie Vertretern von Bund (Bundesministerium für Bildung und Frauen), Bundesländern (jeweilige Ämter der Landesregierungen) und Arbeitsmarktservice sowie nicht-staatlichen Akteuren wie der Konferenz der Erwachsenenbildung Österreichs (einem Zusammenschluss der wichtigsten Träger der Erwachsenenbildung), den Sozialpartnern sowie einzelnen Wissenschaftlern. Auch wenn die Entscheidungskompetenz bei Bund und Ländern liegt, spielten nicht-staatliche Akteure wie Gewerkschaften oder Trägerverbände eine entscheidende Rolle für die inhaltliche Ausgestaltung. In der laufenden Initiative gibt es eine zentrale Steuerungsgruppe, die wichtige inhaltliche Entscheidungen innerhalb der Initiative mit einer Dreiviertelmehrheit treffen kann und in der vier Vertreter des Bundes und neun Vertreter der Länder sitzen (jeweils mit Stimmrecht) sowie Vertreter der Sozialpartner (mit fester beratender Funktion, ohne Stimmrecht). In den Niederlanden werden inhaltliche Rahmenbedingungen (wie Qualitätsstandards) der Grundbildungs- und Alphabetisierungspolitik vom Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft (Ministerie van Onderwijs, Cultuur en Wetenschap, OCW) im Rahmen von politischen Aktionsplänen, wie zuletzt dem Aktionsplan Analphabetismus (siehe oben), festgelegt. Dies geschieht unter der Berücksichtigung der Expertise nicht-staatlicher Akteure, wie beispielsweise der Stiftung Lesen und Schreiben. Die genaue inhaltliche Festlegung der Alphabetisierungs- und Grundbildungspolitik geschieht in den Niederlanden allerdings auf lokaler Ebene in den Arbeitsmarktregionen (Zusammenschlüsse mehrerer Gemeinden), die bestimmen können, welche Anbieter, Angebote und Zielgruppen mit Ausschreibungen für Finanzierung adressiert werden. In England liegt die inhaltliche Ausarbeitung der Grundbildungs- und Alphabetisierungspolitik in der Hand des Department for Business, Innovation and Skills (BIS). Hier werden Bildungsanbietern, die Grundbildungspolitik letztlich umsetzen, weitergehende inhaltliche Freiräume innerhalb eines vorgegebenen Rahmens (wie z. B. zur Qualifikation der Lehrkräfte) gewährt.

Die Finanzierung von Grundbildung liegt in allen beispielhaft herausgegriffenen Ländern in der Hand staatlicher Akteure. Allerdings zeichnen jeweils verschiedene staatliche Ebenen für Finanzierungsentscheidungen verantwortlich. In der Türkei liegt die Zuständigkeit allein in den Händen des zentralen Ministeriums für Nationale Bildung. In Österreich sind sowohl Bundesländer (und ihre jeweiligen Ämter der Landeregierungen) als auch der Bund (Bundesministerium für Bildung und Frauen) für die Finanzierung von Grundbildung und Alphabetisierung verantwortlich. Ein Großteil der Förderung von Grundbildung (in Österreich als „Basisbildung“ bezeichnet) für Erwachsene, zu der auch Alphabetisierung gehört, findet in Österreich über die politische Initiative Erwachsenenbildung statt, die auf einer gemeinsamen Bund-Länder-Vereinbarung (gemäß Art. 15a B‑VG) beruht und eine gemeinsame Finanzierung (entgegen des föderalen Prinzips der getrennten Zuständigkeiten von Bund und Ländern) beschließt. Die Förderung von Bildungsangeboten wird zusammengesetzt aus Budget von Bund, Bundesländern und dem Europäischen Sozialfond im Verhältnis 1:1:2. In den Niederlanden stattet das Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft Gemeinden, bzw. seit 2015 35 Arbeitsmarktregionen mit einem Budget für Grundbildung aus.Footnote 7 Wie diese Gelder genau eingesetzt werden, entscheiden die einzelnen Arbeitsmarktregionen eigenverantwortlich. Die Höhe des Budgets wird also zentral vom Ministerium vorgegeben, während die Verwaltung des Budgets in lokaler Verantwortlichkeit liegt und hier zwischen den unterschiedlichen Gemeinden einer Arbeitsmarktregion ausgehandelt werden muss. In England liegt die Finanzierung für Grundbildung und Alphabetisierung beim Department for Business Innovation and Skills. Als ausführende Behörde des BIS fungiert die Skills Funding Agency (SFA), die die Verwaltung des Budgets für den Bildungsbereich (mit Ausnahme Hochschulbildung) betreibt und Gelder direkt an Bildungsanbieter weiterleitet.

Die Umsetzung der Politiken zu Grundbildung und Alphabetisierung liegt in den ausgewählten Ländern in der Hand verschiedener (staatlicher, nicht-staatlicher) Bildungseinrichtungen bzw. -anbieter. In der Türkei sind für die Durchführung der Alphabetisierung Erwachsener Einrichtungen der Erwachsenen- und Weiterbildung verantwortlich, die unter der Kontrolle des Direktorats Lebenslanges Lernen des türkischen Bildungsministeriums stehen. Diese Einrichtungen sind in erster Linie staatliche Volksbildungszentren, die mit ihrem dichten Netz an Einrichtungen den größten Teil der Alphabetisierungskurse durchführen. Die Umsetzung befindet sich hier also primär in staatlicher Verantwortung; nicht-staatliche Anbieter spielen eine untergeordnete Rolle. In Österreich können nur Non-Profit-Anbieter Fördergelder für Grundbildungs- bzw. Alphabetisierungsangebote beantragen. Dadurch ist die Umsetzung geprägt von nicht-staatlichen Non-Profit-Anbietern. Bei der Durchführung ihrer Angebote sind Bildungsanbieter an die Qualitätsvorgaben der Initiative Erwachsenenbildung gebunden. In England und seit 2015 auch in den Niederlanden liegt die Umsetzung in der Hand nicht-staatlicher Anbieter aus dem Non-Profit- und dem Profit-Bereich, die sich wettbewerblich um Förderung bemühen. Auch in diesen beiden Ländern gibt es für Anbieter Qualitätsvorgaben, die in den Niederlanden durch die staatlichen Qualitätsbehörde (Inspectie van het Onderwijs) des Ministeriums, in England durch die staatlich finanzierte Bildungs-Aufsichtsbehörde Ofsted kontrolliert werden.

Im Hinblick auf Governance-Strukturen im Bereich Grundbildungs- und Alphabetisierungspolitik zeigen die Befunde, dass eine Anpassung der Typologie von Green et al. (1999) im Fall von Österreich und den Niederlanden nötig ist, um die hier beispielhaft ausgewählten Länder zuzuordnen. Die Türkei lässt sich klar dem ersten Modell mit zentraler staatlicher Steuerung zuordnen. In Österreich sind wiederum mehrere staatliche Ebenen (Bund und Bundesländer) in die Steuerung involviert und würde daher eher eine Mischform zwischen dem zentralistischen und dem regionalen Modell darstellen. Während England eindeutig dem Modell der „Quasi-Market-Systems“ mit sehr eingeschränkter staatlicher Einflussnahme zuzuordnen ist, weist die Niederlande ebenfalls Elemente dieses Modells (wettbewerbliche Förderung der Bildungsanbieter) auf, würde jedoch besser in das Modell der lokalen Kontrolle mit nationalen Rahmenbedingungen passen (Tab. 1).

Tab. 1 Eigene Einordnung der ausgewählten Länder nach Governance-Strukturen bezüglich Grundbildung und Alphabetisierung in die Typologie nach Green et al. (1999)

4.3 Wie wird Grundbildungspolitik im Spannungsverhältnis von interessengeleitetem Handeln verschiedener Akteure gestaltet? Auf der Grundlage welcher Handlungsressourcen und in welchen Interaktionsformen operieren die Akteure? (politics)

Wie bei der Beantwortung der zweiten Forschungsfrage gezeigt werden konnte, werden bei der Bestimmung der Inhalte der bildungspolitischen Programmatik zu Grundbildung und Alphabetisierung sowie bei der Implementierung dieser Politik mehrere (staatliche und nicht-staatliche) Akteure mit jeweils eigenen Interessen auf verschiedenen Ebenen involviert. Diese Akteure handeln innerhalb eines institutionellen Rahmens, der je nach Governance-Strukturen im jeweiligen Land die Handlungen der Akteure ermöglichen oder einschränken kann. Zu diesen gehörten nach Anlehnung an Scharpf (2006) Handlungsressourcen und Interaktionsformen.

Als entscheidende Handlungsressourcen stehen in den hier betrachteten Ländern den staatlichen Akteuren an erster Stelle regulative Macht in Form von Gesetzgebung und Entscheidungsbefugnis/Kompetenz zur Verfügung (Tab. 2). Darüber hinaus verfügen sie über materielle Ressourcen in Form von Budgets oder von strukturellen Rahmenbedingungen, die ihnen die Finanzierung respektive die Umsetzung politischer Maßnahmen ermöglichen. Die nicht-staatlichen Akteure sind insbesondere mit immateriellen Ressourcen ausgestattet, verfügen oft über Expertise, zudem auch über privilegierten Zugang zu Informationen aus der Praxis und zum Feld. Nicht alle Akteure haben gleichermaßen Zugriff auf die gleichen Handlungsressourcen, was Abhängigkeiten und Interdependenzen zwischen den Akteuren schafft. Dies wiederum beeinflusst die Interaktionsform zwischen den Akteuren. In der Türkei gibt es keine relevanten nicht-staatlichen Akteure, die auf die Grundbildungs- und Alphabetisierungspolitik Einfluss nehmen. Eine hierarchische Steuerung durch den Staat ist deutlich zu erkennen. In England gab es zum Interviewzeitpunkt neben den staatlichen auch nicht-staatliche Akteure, wie beispielsweise das National Institute of Adult Continuing Education (NIACE). NIACE konnte durch privilegierten Informationszugang und Expertise Einfluss auf politische Akteure nehmen, beispielsweise in Form von Gutachten oder Bildungskonzepten. Diese Expertisen haben jedoch für staatliche Akteure keine Verbindlichkeit und dienen der Politik in erster Linie als Informationsquelle.Footnote 8 Hier lässt sich als Interaktionsform einseitiges Handeln durch den Staat sehen. In den Niederlanden und in Österreich verfügen die nicht-staatlichen Akteure (NL: Stiftung Lesen und Schreiben; AT: Sozialpartner) ebenfalls über die Handlungsressourcen privilegierter Informationszugang, Wissen und privilegierter Zugang zum Feld. Dennoch geht ihr Einfluss formell über den der nicht-staatlichen Akteure in England hinaus. In den Niederlanden hat die Stiftung Lesen und Schreiben von staatlicher Seite eine feste Rolle im aktuellen politischen Aktionsplan zugewiesen und sogar ein bedingtes Mandat für die Vergabe von Expertisen bekommen. In Österreich wurden nicht-staatliche Akteure, wie die Konferenz der Erwachsenenbildung Österreichs (KEBÖ), das Ländernetzwerk Weiterbildung, die Sozialpartner und Wissenschaftler, in die Entwicklung der Initiative Erwachsenenbildung mit einbezogen. Die Sozialpartner haben dort auch in der laufenden Initiative ein festes Partizipationsrecht innerhalb der Steuerungsgruppe qua beratender Funktion (ohne Stimmrecht). Auch wenn die Beiträge der nicht-staatlichen Akteure keine Verbindlichkeit haben, so wird von staatlicher Seite die Meinung der Experten als sehr wichtig für die Entscheidungsfindung eingeschätzt. Die Interaktion in dieser Akteurskonstellation liegt in beiden Fällen zwischen einseitigem Handeln und Verhandlung mit den staatlichen Akteuren als finale Entscheider über die Interaktionsform bei einzelnen Verhandlungen. In den Niederlanden und in Österreich zeigen sich zudem Interaktionsformen zwischen den unterschiedlichen staatlichen Akteurskonstellationen. In den Niederlanden müssen sich innerhalb der Arbeitsmarktregionen die zusammengeschlossenen Gemeinden in der Interaktionsform der Mehrheitsentscheidung über Inhalte, Finanzierung und Umsetzung einigen. In Österreich müssen innerhalb der Steuerungsgruppe der Initiative Erwachsenenbildung Vertreterinnen und Vertreter von Bund (4 Stimmen) und Bundesländern (9 Stimmen) in Form einer Dreiviertelmehrheit Entscheidungen aushandeln.

Tab. 2 Akteure der ausgewählten Länder und ihre Handlungsressourcen im Vergleich

Zusammenfassend lässt sich in Verbindung mit der zweiten Forschungsfrage feststellen, dass das jeweilige Steuerungsmodell eines Landes bzw. der institutionelle Kontext, in dem die Akteure sich befinden, die Interaktionsform (vgl. Scharpf 2006) prägt. Die Befunde aus dem Projekt lassen die Annahme zu, dass der institutionelle Kontext bei zentralistischer Governance (Türkei) Entscheidungen begünstigt, die eher durch hierarchische Steuerung herbeigeführt werden und weniger durch Verhandlungen oder Mehrheitsentscheidungen, wie im Fall der Staaten, die regionalen und lokalen Steuerungsmodellen zuzuordnen sind (Österreich, Niederlande). Weitergehend zeigt sich, dass nicht-staatliche Akteure in England, Österreich und den Niederlanden durch das Einbringen der Handlungsressourcen Expertise und Partizipationsrecht qua beratender Funktion (Österreich, Niederlande) begrenzten Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess und die Implementation nehmen können. In der durch hierarchische Entscheidungsprozesse charakterisierten Türkei zeigen sich hingegen keine einflussnehmenden nicht-staatlichen Akteure.

5 Ausblick: Von der vergleichenden Bildungsforschung zur vergleichenden Politikforschung und wieder zurück

Statt einer Zusammenfassung möchten wir an dieser Stelle aufzeigen, welche weiterführenden Fragen wir mit dem Wissen aus der vergleichenden Betrachtung von Politiken zur Grundbildung und Alphabetisierung adressieren können.

Aus der Perspektive vergleichender Bildungsforschung zur Bildungspolitik ist die Untersuchung von Politiken zur Verbesserung von Grundbildung der erwachsenen Bevölkerung in verschiedenen Ländern insofern interessant, da sie zahlreiche Erkenntnisse über programmatische Zielsetzung und faktische Umsetzung in der Grundbildungs- und Alphabetisierungspolitik, über internationale Einflüsse und nationale Prioritätensetzung, über Konvergenzen und Divergenzen in den Argumentationslinien, Entwicklungsdynamiken und Governance-Strukturen erlaubt. Brisant wird jedoch die vergleichende Bildungsforschung erst dann, wenn sie nach möglichen Bedingungen erfolgversprechender bildungspolitischer Interventionen sucht. Diese Frage geht über die Identifizierung von good practice im Sinne einer melioristisch orientierten Pädagogik oder reformorientierten Politikberatung hinaus und zielt auf die Bestimmung von Faktoren auf der System- und Akteursebene, die die Nutzung von Angeboten der Grundbildung beeinflussen bzw. das Niveau und die Verteilungsstruktur von Grundkompetenzen in der erwachsenen Bevölkerung erklärt.

In Anlehnung an die vergleichende Policy-Forschung würde man hier fragen, welche politischen, sozioökonomischen und institutionellen Faktoren die Unterschiede zwischen den Ländern in den Politikinhalten und in den Bildungs-Outcomes im Hinblick auf Grundbildungskompetenzen erklären können. Welche Akteurskonstellationen, welche Governance-Strukturen und welche Weiterbildungs-, Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtssysteme bewältigen die Herausforderungen derzeit am effektivsten? Die Ergebnisse von PIAAC zeigten große Differenzen bei der Verteilung von basalen Kompetenzen über die Länder hinweg sowie innerhalb eines einzelnen Landes, was u. a. auf den Grad von Bildungsungleichheiten innerhalb eines Landes hinweist.

Politiken zur Grundbildung und Alphabetisierung zielen auf die Herstellung von Chancengerechtigkeit und unterscheiden sich daher von Sozialpolitiken, die auf die Verminderung von absoluter Ungleichheit abzielen. Diese These geht auf Wilensky zurück; für ihn zielt Bildung auf die Herstellung von „equality of opportunities“ und nicht wie andere Sozialpolitiken auf die Verminderung von „equality of outcomes“ (Wilensky 1975 zit. nach Busemeyer 2015, S. 93).

Bildungspolitik, also politische Aktivitäten, die auf Aufbau, Legitimation und Steuerung des Bildungswesens zielen und die Gesamtheit aller politisch gestaltbaren Bildungsprozesse im Lebenslauf umfassen, wird in neuen Analysen jedoch zunehmend als Bestandteil moderner Wohlfahrtspolitik betrachtet (vgl. Allmendinger und Nikolai 2010; Hurrelmann et al. 2011). Dabei werden die Verbindungen zwischen Bildungspolitik und anderen Teilbereichen des Sozialstaats herausgearbeitet und Parallelen bei der politischen Steuerung und der institutionellen Ausgestaltung von Bildungssystemen und Wohlfahrtstaaten festgestellt (vgl. Busemeyer 2015). Diese Arbeiten wurden bisher hauptsächlich von Vertretern aus der Politikwissenschaft und Soziologie geleistet, die sich Bildungsthemen zuwendeten. Es wäre eine Ironie, wenn die Erziehungswissenschaft und insbesondere die vergleichende Bildungsforschung keine Analysen zum Zusammenhang von Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtssystemen liefern und so das große Potenzial international-vergleichender Forschung für die Generierung von Beschreibungs-, Erklärungs- und Veränderungswissen nicht ausschöpfen würde.