Die Herzfrequenz- bzw. Herzratenvariabilität („heart rate variability“, HRV) hat in den letzten Jahren nicht nur in der klinischen Medizin (beispielhaft in der autonomen Funktionsdiagnostik in der Neurologie, in der Neuropathiediagnostik bei Diabetes und bei der Risikostratifizierung nach einem Myokardinfarkt), sondern auch zunehmend in experimentellen, forschungsorientierten arbeitsmedizinischen Studien Interesse gefunden. Daher wird sie in der Arbeitsphysiologie als Beanspruchungsindikator in Belastungs-Beanspruchungs-Analysen verwendet.

Auch in der betriebsärztlichen, präventiv ausgerichteten Praxis hat sich die HRV als ein möglicher Gesundheitsindikator etabliert. Dies gilt insbesondere auf dem Gebiet der betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) bei Fragestellungen im Kontext der Risikoprävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Die HRV ist ein Parameter der allgemeinen Aktivierung in einem komplexen vegetativen Regulationssystem des Organismus. Beim Einsatz in der betriebsärztlichen Praxis kann sie auf die abweichenden Regulationsmechanismen des Herz-Kreislauf-Systems (HKS) oder auf eine sympathisch-parasympathische Imbalance des autonomen Nervensystems (ANS) hinweisen.

Auf Basis einer selektiven Literaturrecherche unter Einbeziehung von Empfehlungen aus Leitlinien und Lehrbüchern zur Analyse der HRV ist es das Ziel dieses Beitrags, dass der Leser im Anschluss die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der HRV als Beanspruchungsparameter im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge und Prävention kennt.

Physiologische Grundlagen

Bedeutung der Regulationssysteme des autonomen Nervensystems

Bei einem gesunden Erwachsenen schlägt das Herz nicht mit einer konstanten Frequenz. Die Anzahl der Herzaktionen (bestehend aus einer Kontraktionsphase [Systole] und einer anschließenden Erschlaffungsphase [Diastole]) während einer Minute wird als Herzschlagfrequenz (Hf) bezeichnet. Diese neigt zu einer physiologischen Variation und wird durch verschiedene physische und psychische Faktoren beeinflusst. Der Grundrhythmus der Herzaktion sowie die Kontrolle, Regulation und Steuerung des HKS werden durch efferente Fasern des ANS über parasympathische und sympathische Nerven bestimmt. Das ANS beeinflusst mit seinen beiden Anteilen bei den Regulationsprozessen neben der Hf (Chronotropie), die Geschwindigkeit der Überleitungszeit der Herzerregung über den AV-Knoten (Dromotropie), die Erregbarkeit des Herzens (Bathmotropie), die Herzmuskelkontraktivität (Inotropie) sowie -relaxation (Lusitropie) und somit die Variabilität der Hf [1, 2]. Das ANS moduliert mit seinem sympathischen Anteil über die Noradrenalinfreisetzung fördernd und mit seinem parasympathischen (vagalen) Anteil über die Acetylcholinfreisetzung hemmend die Herzrhythmik. Im Ruhezustand oder in der Regenerationsphase überwiegt in der Regel die parasympathische gegenüber der sympathischen Steuerung [3].

Bezogen auf die HRV führt eine Aktivierung des Sympathikus, z. B. während einer Stresssituation oder unter hoher Belastung, zu einer Reduzierung und eine Aktivierung des Parasympathikus, wie sie in Ruhe und im Schlaf vorkommt, zu einer Erhöhung der HRV.

Definition und Parameter

Die mittels statistischer Methoden analysierte Zeitreihe von aufeinanderfolgenden Herzaktionen (den sog. NN-Intervallen; Abb. 1) führt zu verschiedenen Parametern, die die Variabilität der NN-Intervalle beschreiben und unter dem Begriff HRV zusammengefasst werden [4]. Die verschiedenen Parameter der HRV dienen dazu, das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus bei der Regulation und Steuerung des HKS, u. a. bei unterschiedlichen Belastungssituationen im Arbeitsprozess, differenzierter zu beschreiben. Über die Ausprägung des Niveaus der Regulationsmechanismen können die funktionalen Reserven des HKS und die Anpassungsmöglichkeiten des Gesamtorganismus beurteilt werden.

Abb. 1
figure 1

Ausschnitt aus einem Elektrokardiogramm (EKG). Die Erfassung der NN-Intervalle dient als Grundlage der Herzfrequenzvariabilitätsanalyse

Es hat sich international eine Unterteilung der HRV-Parameter in 3 Bereiche etabliert [4]:

  • Zeitbereich,

  • Frequenzbereich,

  • nichtlineare Methoden.

In Tab. 1, 2 und 3 sind für die 3 Bereiche die jeweils zuzuordnenden HRV-Parameter mit der jeweils gültigen Messeinheit, der Definition und der Zuordnung des HRV-Parameter zum autonomen Nervensystem nach den Erkenntnissen aus der Literatur aufgelistet.

Tab. 1 Gebräuchliche Parameter für die Herzfrequenzvariabilität (HRV) des Zeitbereichs. (Mod. nach [7])
Tab. 2 Gebräuchliche Herzfrequenzvariabilität(HRV)-Parameter des Frequenzbereichs. (Mod. nach [7])
Tab. 3 Gebräuchliche Parameter der Herzfrequenzvariabilität (HRV) aus nichtlinearen Analysen. (Mod. nach [7])

Von der HRV ist grundsätzlich die Variabilität des Pulsschlages (die sog. Pulswellenvariabilität, PRV) zu unterscheiden (Abb. 2). Wenngleich das Vorgehen analog erscheint (statistische Varianz zwischen den unterschiedlichen Abständen zweier Pulsschläge in Analogie zu den Herzaktionen), erreicht die PRV als Surrogat für den Abstand zwischen 2 Herzaktionen nicht die Genauigkeit der Erfassung der NN-Intervalle mittels EKG [5]. Im Gegensatz zu einer EKG-basierten Messung der NN-Intervalle wird die Messung der Pulswelle durch z. B. die Gefäßsteifigkeit beeinflusst. Insbesondere das HF-Band wird bei der PRV gegenüber der HRV überschätzt [6]. Es gilt daher, sehr strikt zwischen der HRV und der PRV zu unterscheiden, um nicht zwei ähnliche, aber von der Messmethodik unterschiedliche Parameter irrtümlich zu verwechseln. Die Analyse der HRV auf Basis einer Messung der Abstände zweier Pulsschläge (z. B. mittels Pulsoxymeter) wird in nationalen Leitlinien daher nicht empfohlen [4].

Abb. 2
figure 2

Unterschiede zwischen einer EKG-Ableitung und der daraus resultierenden Abstände zwischen den R‑Zacken (NNI NN-Intervall) und der Ableitung der Abstände zwischen 2 Pulswellen (PPI Pulswellenintervalle)

Rahmenbedingungen der HRV-Analyse

Einflussfaktoren

Es gibt eine Reihe von endogenen und exogenen Faktoren beruflicher und nichtberuflicher Herkunft, welche die HRV beeinflussen können (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Einflussfaktoren auf die HRV. HRV Herzfrequenzvariabilität, COPD chronisch-obstruktive Lungenerkrankung, PTBS posttraumatische Belastungsstörung, Asterisk HRV-Reduzierung als Folge der physiologischen Reaktion auf den physikalischen Reiz. (Mod. nach [9])

Diese Einflussfaktoren sollten vor der Untersuchung erfasst und bei den Messungen bzw. Auswertungen berücksichtigt werden [9]. So nimmt die HRV mit dem Alter zunächst von der Geburt an zu und nimmt ab dem 2. Lebensjahrzehnt kontinuierlich ab. Männer und Frauen zeigen eine unterschiedlich hohe HRV, welche sich erst beginnend mit dem 5. Lebensjahrzehnt annähert, und es existieren Erkenntnisse, dass die HRV mit einer Ethnienzugehörigkeit unterschiedlich ausfällt. Zahlreiche Krankheiten beeinflussen die HRV und reduzieren sie, während positiv assoziierte Lebensstilfaktoren (z. B. regelmäßiger Ausdauersport, Fitness) die HRV erhöhen und negativ assoziierte (z. B. Nikotinabusus, regelmäßiger Alkoholkonsum) die HRV reduzieren. Gerade bei Kurzzeitaufzeichnungen ist die zirkadiane Rhythmik der HRV zu beachten (Abb. 4; [10]). Daher sollten Wiederholungs- oder Vergleichsmessungen zur gleichen Tageszeit gewählt werden. Neben diesen Faktoren beeinflussen auch arbeitsplatzbezogene und sonstige Einflussfaktoren die HRV, deren Kenntnis für eine aussagekräftige HRV-Analyse zwingend notwendig ist.

Abb. 4
figure 4

Zirkadianer Rhythmus der Herzfrequenzvariabilität. (Nach [10])

Technische Anforderungen

Um eine hohe Qualität der HRV-Analyse zu erreichen, sind folgende Anforderungen an die Technik zu berücksichtigen: Neben der Art der NN-Intervalldetektion (am besten EKG-genau) ist hierbei ein besonderes Augenmerk auf die Abtastrate (Genauigkeit der Messung der NN-Intervalle, möglichst hoch) und auf den Tragekomfort zu setzen. Ferner sollte ein Messgerät die Möglichkeit der späteren automatischen wie auch manuell visuellen Detektion von Artefakten besitzen. Aus diesen Gründen hat sich das 24-h-Langzeit-EKG-Monitoring zur späteren Analyse der HRV als Goldstandard etabliert. Neben stationären Geräten, die sich für Laboruntersuchungen und Intensivstationen eignen, sind mobile Messsysteme als tragbare 24-h-EKG-Geräte klein und sowohl für Labor- als auch für Felduntersuchungen ausreichend und werden vom Probanden zumeist als noch ausreichend komfortabel tragbar empfunden. Diese Geräte bieten neben der visuellen und manuellen Artefaktkorrektur ferner die Möglichkeit, die Häufigkeit von (ventrikulären und supraventrikulären) Extrasystolen einzuschätzen, da eine HRV-Analyse bei einem Anteil von Extrasystolen von >1 % an allen Herzaktionen nicht empfohlen wird [4].

Demgegenüber stehen sog. Brustgurtsysteme zur Verfügung, welche unter Berücksichtigung von Limitationen nutzbar sind. Auch diese sind klein, mobil einsetzbar und besitzen eine hohe Rückwirkungsfreiheit für den Probanden und eine entsprechende (Trage‑)Akzeptanz, sodass diese insbesondere bei Feldversuchen eingesetzt werden können. Die Datenaufzeichnung kann jedoch insbesondere bei Verwendung von Brustgurtsystemen mit Funkübertragung zu einer separaten speichernden Uhr in der Nähe elektromagnetischer Felder (z. B. von Strommasten/-leitungen) sowie beim Einsatz in Fahrzeugen aufgrund von Funkstörungen beeinträchtigt sein [11, 12]. Zumeist haben diese Messsysteme auch keine EKG-Aufzeichnung, was die Beurteilung der Artefakte erschwert. Außerdem gilt es zu bedenken, dass es sich bei diesen Systemen zumeist nicht um ein Medizinprodukt nach dem Medizinproduktegesetz (MPG) handelt. Neben diesen beiden etablierten Verfahren existiert gerade auf dem Markt der „wearables“ eine ganze Reihe weiterer Geräte, die mittels unterschiedlicher Verfahren und Methoden die Herzaktionen und Pulsaktionen erfassen können. Diese sind jedoch in ihrer Datenaufzeichnung und -genauigkeit zumeist deutlich eingeschränkter und daher eher dem Bereich der „Lifestyle-Produkte“ zuzuordnen als für eine klinische und/oder wissenschaftliche Fragestellung mit HRV-Analyse geeignet.

Zusammenfassend gilt es, bei der Auswahl der Geräte zur Erfassung der Kardiointervalle die Vorteile vs. Nachteile von Messungen unter Laborbedingungen (kontrollierte Bedingungen, besser geeignet für Kurzzeitmessungen) und im Alltag, z. B. mittels 24-h-Holter EKG (für Langzeitmessungen, Aktivität des Probanden nicht sicher kontrollierbar, formal nicht stationär) gegeneinander abzuwägen [4].

Aufzeichnungsdauer

Die Auswahl der Aufzeichnungsdauer ist abhängig von der Fragestellung, von den Analysemethoden und der Wahl der HRV-Parameter. Vergleichende Untersuchungen aus 2 Messungen sollten, wenn immer möglich, zur gleichen Tageszeit erfolgen und eine identische Aufzeichnungs- und Analysedauer haben. Nur so sind die ermittelten HRV-Parameter aus diesen 2 Messungen vergleichbar.

Die Wahl der Aufzeichnungsdauer hängt von vielen Kriterien ab. Grundsätzlich lassen sich sowohl stationäre als auch mobile Messungen, sowohl Kurzzeit- als auch Langzeitmessungen durchführen. Jedoch werden Messungen unter Laborbedingungen nur in seltenen Fällen 24 h und länger betragen, während mobile Kurzzeitmessungen im Alltag sich aufgrund der häufig nicht kontrollierbaren Aktivitäten des Probanden nicht anbieten. Da zusätzlich der zirkadiane Rhythmus beachtet werden muss, eignen sich für solche Messungen eher 24-h-Messungen mit mobilen Geräten. Für Kurzzeitmessungen am Arbeitsplatz oder im Rahmen von BGF-Maßnahmen sollte auf jeden Fall die Einschwingphase beachtet werden (z. B. wenn der Proband kurz zuvor körperlich aktiv war) und die Messung sollte unter kontrollierten Bedingungen stattfinden.

Die Wahl der Aufzeichnungsdauer hängt neben der reinen Betrachtung und Analyse des gewünschten Zeitintervalls auch von den später genutzten HRV-Parametern ab. So sollten für eine Analyse der HRV-Parameter SDANN und SDNN-Index eine Langzeitmessung, am besten über 24 h, erfolgen [4]. Für die HRV-Parameter HRV triangular Index und TINN („triangular interpolation NN intervall histogramm“) sollte die Auswertungszeit mindestens 20 min betragen. Bei Spektralanalysen ist je nach zu analysierendem Frequenzbereich eine Mindestaufzeichnungsdauer von einigen Minuten (HF-Band) bis hin zu einigen Stunden einzuhalten (Tab. 4), da die Aufzeichnungsdauer das 10-fache der Periodendauer umfassen sollte [13]. Gerade bei vergleichenden Analysen mit mehreren Parametern aus dem Frequenzbereich gilt es, für alle Parameter die Mindestaufzeichnungsdauer einzuhalten, weswegen sich z. B. bei den Analysen von LF/HF sowie LF nu, HF nu eine 5‑minütige Aufzeichnungsdauer etabliert hat. Abb. 5 zeigt eine Übersicht über die zu beachtenden Aspekte zur Aufzeichnungsdauer und -methode.

Tab. 4 Überblick über die Periodendauer der Leistungsbänder und Empfehlungen zur Aufzeichnungs- bzw. Auswertungsphasenlänge
Abb. 5
figure 5

Übersicht über Einschränkungen der Herzfrequenzvariabilitätsanalyse in Abhängigkeit von der Länge der Aufzeichnung. Grüne Haken = geeignet, rote X = nicht geeignet, Ausrufezeichen = ist zu beachten, 24*X = mehrfaches von 24 h, HF „high frequency“, LF „low frequency“, VLF „very low frequency“, ULF „ultra low frequency“

Auswahl der HRV-Parameter

Bei der Beurteilung der Beanspruchung bei physischen Belastungen, insbesondere bei dynamischer Muskelarbeit, empfiehlt sich die Hf. Zusätzlich können auch die HRV-Parameter SDNN, RMSSD, Total Power, LF- und HF-Power sowie die nichtlinearen Indizes SD1 und SD2 einbezogen werden. Der Informationsgewinn der HRV bei solchen Fragestellungen liegt in dem zumindest unter standardisierten Bedingungen nachweisbaren Zusammenhang zwischen HRV-Parametern und metabolischen und respiratorischen Beanspruchungsindikatoren, dem mehrphasigen Verlauf bei progressiver Belastungssteigerung unter standardisierten Bedingungen und dem Erholungsverhalten nach unterschiedlichen Belastungsintensitäten [14, 15]. Diese besitzen somit einen Mehrwert im Vergleich zum linearen Verhalten der Hf. Der Vorteil liegt in einer genaueren Einschätzung der physischen Beanspruchungen bei gleichzeitigem Verzicht auf eine zeitaufwändige, kostenintensive, teilweise nicht ambulant verfügbare und reaktive Messtechnik.

Zur Beurteilung der Beanspruchung bei psychischen Belastungen eignen sich Auslenkungen der Hf, welche die Dynamik der Herzschlagfrequenzregulation widerspiegeln. Gerade bei psychischen Belastungen sind spontane und manchmal nur kurzzeitige Hf-Anstiege häufig verbunden mit einem ebenso spontanen und schnellen Abfall. Darum gehen bei der Betrachtung der mittleren Hf über einen längeren Zeitabschnitt viele Informationen über das Herzschlagfrequenzverhalten verloren. Es ist daher günstiger, zusätzlich die Dynamik der Hf zu betrachten. Darüber hinaus eignen sich die folgenden HRV-Parameter: RMSSD, Power im LF- und HF-Band bzw. LF nu und HF nu, der Koeffizient LF/HF sowie DQ und SD1. Dagegen eignen sich ULF und VLF bei dieser Fragestellung nicht. Vor allem bei den schwer messbaren psychischen Belastungen spiegeln die Hf-Auslenkungen und die aufgeführten HRV-Parameter die allgemeine Aktivierung wider und bieten eine Möglichkeit, die vegetative Balance des Organismus zu beschreiben. Somit können über diese psychischen Beanspruchungsindikatoren Rückschlüsse auf die stattgefundene psychische Belastung gezogen werden [16,17,18,19,20,21,22].

Messvergleiche

Intraindividuelle Beanspruchungssituationen ein und desselben Probanden im zeitlichen Verlauf oder unter zwei unterschiedlichen Belastungssituationen lassen sich grundsätzlich ohne Weiteres miteinander vergleichen, sofern Aufzeichnungsdauer, -messmethode und -auswertung identisch gewählt wurden. Demgegenüber werden für Einzelmessungen von Probanden, z. B. im Rahmen der BGF, mit dem Ziel, diese gegenüber einem Kollektiv zu vergleichen (interindividueller Vergleich), entsprechende Referenzwerte benötigt. Hierzu ist es notwendig, dass sich die Referenzstichprobe aufgrund nichtbeeinflussbarer Einflussfaktoren aus einer möglichst homogenen, gesunden und mit dem Probanden vergleichbaren Bevölkerungsstichprobe zusammensetzt, eine Berücksichtigung von Alter und Geschlecht bei der Berechnung der Referenzwerte vorgenommen wurde und die Aufzeichnungsdauer und Analysemethode mit der für den Probanden gewählten übereinstimmt. In der wissenschaftlichen Literatur liegt eine Reihe von entsprechenden Arbeiten vor (Tab. 5); für den praktisch oder wissenschaftlich tätigen Arbeitsmediziner sind jedoch lediglich publizierte Referenzwerte der erwachsenen Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter von Nutzen.

Tab. 5 Übersicht über die verschiedenen Studien mit der Angabe der Normwerte

Erstmalig wurden bereits in den Empfehlungen der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie und der North American Society of Pacing und Electrophysiology zum Einsatz und den Analysemöglichkeiten der HRV 1996 Referenzwerte publiziert [23]. Aufgrund fortgeschrittener Messtechnik (Festplattenrekorder anstelle von Bandaufzeichnungen) ist davon auszugehen, dass die damals publizierten Referenzwerte nur begrenzt einsetzbar sind. So zeigten Untersuchungen, dass signifikante Unterschiede in den analysierten HRV-Parametern beim direkten Vergleich alter Bandrekordersysteme vs. den neueren Festplattenrekordern vorliegen [24]. In Tab. 5 ist eine Übersicht über publizierte Arbeiten zu HRV-Referenzwerten und wesentliche statistische Kenngrößen der genutzten Analyse- und Auswertemethodik dargestellt. Der Vollständigkeit halber werden auch außereuropäische Bevölkerungen aufgeführt, da im Rahmen der Globalisierung ggf. auch ein Einsatz oder eine Beratungsleistung durch den hiesigen Arbeitsmediziner für ein Werk in Asien etc. stattfinden könnte.

Anwendungsgebiete der HRV-Analyse

Durch den fortlaufenden Wandel der Arbeitswelt mit zunehmenden kognitiven Herausforderungen des Arbeitnehmers gegenüber früher vorherrschenden körperlichen Beanspruchungen werden neue Beanspruchungsmaße, die über die unmittelbare Stoffwechselvermittlung bzw. Energetik hinausgehen und die neue Belastungen gut erfassen können, benötigt. Hier bietet sich die HRV an, da sie die vegetative Balance des Organismus beschreibt und als Parameter der allgemeinen Aktivierung gilt. In der betriebsärztlichen Praxis lässt sich die HRV-Analyse u. a. als Beanspruchungsindikator an Arbeitsplätzen für die Beurteilung der Beanspruchung bei Einführung neuer Arbeitsmittel und neuer Technologien nutzen [33]. Hierbei ist der Einsatz der HRV sowohl unter Laborbedingungen, an Modellarbeitsplätzen und bei Felduntersuchungen an Arbeitsplätzen unter realen Arbeitsplatzbedingungen nutzbar. So zeigen beispielhaft Untersuchungen mit HRV-Analyse, dass bei einer kurzzeitigen Anwendung von Assistenzsystemen keine zusätzliche Beanspruchung durch ihre Nutzung entsteht [34].

Die HRV ist bei vielen physikalischen und chemischen Belastungsfaktoren reduziert [22]. Auch wenn die Auswirkungen beruflich bedingter Exposition neurotoxischer Substanzen mittels der HRV-Analyse in Form vom reduzierter HRV aufgezeigt werden können [35,36,37,38,39], ersetzt die HRV keineswegs die etablierten Methoden des Biomonitorings und der arbeitsplatzbezogenen Schutzmaßnahmen, um den Arbeitnehmer zielgerichtet und ausreichend vor den pathologischen Wirkungen ebendieser Stoffe zu schützen.

Ferner ist die HRV bei Arbeitsnehmer in Schichtarbeit zusätzlich reduziert [22] und lässt sich darüber hinaus zur Einschätzung des Burnout-Risikos und Arbeitsstresses [40] nutzen. Auch in diesen Fällen liegt eine reduzierte HRV vor.

Neben dem Einsatz der HRV als zusätzlichem Parameter im Rahmen einer Beurteilung physischer und psychischer Belastungen und Beanspruchungen lässt sich die HRV-Analyse auch im Rahmen von Präventionsmaßnahmen für die Evaluierung von stattgefundenen Maßnahmen und zur Einschätzung des Interventionserfolgs einsetzen [4, 41]. So eignet sie sich beispielhaft zur Einschätzung des Interventionserfolgs im Rahmen von Stressbewältigungskursen [25], BGF-Maßnahmen zu Ernährungs‑, Genussmittel- und/oder Konsumumstellungen sowie bei sportlichen Betätigungen, der vegetativen Auswirkungen der Gewichtsreduktion einschließlich der präventiven Überwachung vor Übertrainingssyndromen [42]. So kann eine Veränderung der sympathisch-parasympathischen Balance hin zu einer höheren parasympathischen Grundaktivität auf positive Auswirkungen der Präventionsmaßnahmen hinweisen. Zu beachten ist jedoch, dass es initial bei Neuaufnahme von sportlicher Betätigung zu einer Reduzierung der HRV kommt; diese sollte jedoch bei adäquater Beanspruchung der Teilnehmer im Zeitverlauf, insbesondere bei regelmäßigem moderatem aerobem Training, zu einer Erhöhung der Gesamtvariabilität des Herzschlags und zu einer Zunahme der vagal-modulierten HRV-Parameter in Ruhe führen [43, 44]. Im Gegensatz dazu deutet eine zunehmend reduzierte HRV auf ein Übertrainingssyndrom hin und sollte durch regenerative Maßnahmen ersetzt werden. Die regelmäßige Kontrolle der Hf und der HRV erlauben es daher, im Rahmen von sportlichen BGF-Maßnahmen die Beanspruchung von Teilnehmern im Training individuell so zu gestalten, dass es nicht zu einer Überforderung und somit zu einem negativen Effekt der BGF-Maßnahme kommt.

Die Literaturrecherche zeigt, dass die HRV sich insbesondere gut für die Risikostratifizierung hinsichtlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen eignet. Der Zusammenhang zwischen reduzierter HRV und Prognose-Scores für HKE ist zwar bekannt [45], aber bisher ist keine Handlungsempfehlung zum praktischen Einsatz vorhanden. So zeigten unterschiedliche Untersuchungen den Zusammenhang zwischen reduzierter HRV mit erhöhten kardiovaskulären Risikoparametern [45] bzw. mit dem Auftreten einer koronaren Herzerkrankung bzw. einem Schlaganfall [46,47,48,49].

Fazit für die Praxis

  • Unter Berücksichtigung der o. g. Qualitätskriterien für die Erfassung der Intervalle zwischen 2 Herzaktionen und der nachfolgenden Analyse der HRV sowie unter Wahl eines geeigneten Vergleichskollektivs (intra‑/interindividuell) besitzt die HRV großes Potenzial, erweitert die diagnostische Bandbreite und erweist sich im Rahmen von Felduntersuchungen an Arbeitsplätzen als praxistauglich.

  • So ergänzt die HRV-Analyse mittels Objektivierung der Aktivität des autonomen Nervensystems die klassischen physiologischen und psychologischen Messsysteme und liefert weitergehende Informationen über die Mechanismen der Herz-Kreislauf-Regulation bei unterschiedlichen Anforderungen sowie eine Beurteilbarkeit der funktionalen Reserven des HKS.

  • Dennoch bleiben eine weiterführende (ärztliche) Anamnese und ggf. (arbeitsmedizinische) Untersuchung unerlässlich.