Im Gesundheitswesen treten relevante Risiken auf, die nicht nur Patienten, sondern auch das medizinische Fachpersonal betreffen, wie beispielsweise Infektionen oder Nadelstichverletzungen [1,2,3,4,5]. Neben diesen bekannten Risiken für die körperliche Unversehrtheit führen Fehler im Gesundheitswesen oft zu unerwarteten klinischen Ereignissen und Folgen, die nicht nur die Patientinnen und Patienten selber traumatisieren, sondern auch das beteiligte medizinische Fachpersonal, die dadurch zu sog. Second Victims werden können [6, 7]. Als Folge können bei den Betroffenen dysfunktionale Verarbeitungsmechanismen entstehen [8]. Hierdurch kann es zu einem veränderten Verhalten am Arbeitsplatz kommen, das sich auch beeinträchtigend auf die Qualität der Behandlung zukünftiger Patienten auswirken kann. Ferner sind soziale Isolation, reduzierte Lebensqualität bis hin zu posttraumatischer Belastungsstörung [8,9,10] oder schlimmstenfalls sogar ein Suizid [11] möglich.

Bisherige Studien aus dem angloamerikanischen Raum zeigen Prävalenzraten von Second Victims im Gesundheitswesen zwischen 10 und 42 % auf [12, 13]. Basierend auf qualitativer Forschung zum Verlauf von Second-Victim-Traumatisierungen [6] wurden zahlreiche Hilfsprogramme für medizinisches Fachpersonal in englischsprachigen Ländern für Second Victims eingeführt [14, 18], die sowohl Vorteile im Hinblick auf medizinische [14, 15] und ökonomische Folgen [16] zeigen. In Deutschland formulierte die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung Handlungsempfehlungen für die Behandlung von Mitarbeitern nach traumatischen Ereignissen [17]. Obwohl psychologische Unterstützung für Mitarbeiter nach traumatischen Ereignissen in anderen Bereichen wie dem Luft- und Schienenverkehr [19, 20] bereits vorhanden sind, gab es bislang noch keine systematische Bewertung des Phänomens für den Bereich des deutschen Gesundheitssystems. Aus diesem Grund wurde das Projekt SeViD (Second Victims im Deutschsprachigen Raum) gestartet. In einem ersten Schritt des Projekts wurde ein deutschsprachiger Fragebogen entwickelt und validiert, der berufsgruppenunabhängig die Inzidenz von Second-Victim-Traumatisierung, die selbstbeobachtete Verarbeitung der Traumatisierung sowie eine Bewertung von Unterstützungsmaßnahmen erfragt. Dies soll sowohl den Status quo von Second-Victim-Traumatisierungen im deutschsprachigen Raum dokumentieren als auch eine Evaluation von Unterstützungsprogrammen im Sinne eines Vorher-Nachher-Vergleichs ermöglichen. Verbunden ist diese laufende Arbeit mit dem Ziel, die negativen Auswirkungen von Second-Victim-Erfahrungen zu minimieren.

Methoden

Eine systematische Literaturrecherche in MEDLINE und Google Scholar wurde durchgeführt, um Fragebögen zu identifizieren, die zuvor entwickelt und/oder genutzt wurden, um das Second-Victim-Phänomen im Gesundheitswesen zu evaluieren. Dabei wurde die Suche auf englisch- sowie deutschsprachige Publikationen beschränkt. Basierend auf allen identifizierten Fragebögen, wurde die deutschsprachige Version des Fragebogens aus Elementen etablierter Befragungsinstrumente zusammengestellt. Damit eine Vergleichbarkeit zu Befragungen in anderen medizinischen Fachgebieten sichergestellt werden kann, wird durch den Fragebogen keine spezielle medizinische Berufsgruppe gesondert adressiert, sondern es wurden lediglich demographische Faktoren angepasst. Um eine Akzeptanz des Fragebogens, insbesondere unter Ärztinnen und Ärzten, zu erlangen, wurde darauf geachtet, dass die Bearbeitungsdauer des Fragebogens einen Zeitraum von 5 min nicht überschreitet. Für den Fall, dass keine Second-Victim-Erfahrung vorliegt, sollte somit ein akzeptabler Rücklauf gewährleistet sein und Selektionseffekte minimiert werden. Da die Fragebogenerstellung auf etablierte Befragungsinstrumente aus dem angloamerikanischen Raum zurückgriff, wurde der Fokus der Validierung auf die Überprüfung der Inhaltsvalidität gelegt, da diese durch Übersetzungseffekte möglicherweise beeinträchtigt wird. Dies erfolgte anhand einer vorläufigen Version des Fragebogens mittels kognitiver Pretest-Techniken. Dabei wurden Methoden wie „paraphrasing“, „probing“ und „thinking aloud“ [21] genutzt.

Ein Pretest wurde nach Einverständniserklärung durch Freiwillige der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Krankenhauses Hietzing mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel des Wiener Krankenanstaltenverbundes durchgeführt. Es wurde medizinisches Fachpersonal aus verschiedenen Berufsgruppen einbezogen (Ärzteschaft, Krankenpflege, Angehörige medizinisch therapeutischer und diagnostischer Berufe), unabhängig davon, ob die Person zuvor schon einmal die Rolle eines Second Victims eingenommen hatte oder nicht. Der Stichprobenumfang wurde basierend auf Empfehlungen von Willis [22] und Lenzner [21] auf ein Minimum von 15 Freiwilligen festgelegt. Kognitive Pretests wurden durch einen unbekannten und von beiden Krankenhäusern unabhängigen Forscher durchgeführt, um einem möglichen Observationsbias vorzubeugen. Dies erfolgte anhand eines strukturierten Interview-Leitfadens, der insbesondere aktiv das Verständnis des Begriffs Second Victim, die Vollständigkeit möglicher auslösender Faktoren einer entsprechenden Traumatisierung, das Verständnisses möglicher Effekte einer Traumatisierung sowie der Akzeptanz aller Items sowie des Befragungsinstruments als Ganzes erfragte. Alle Fragebögen waren zur Sicherung des Datenschutzes komplett anonymisiert. In allen Fragebögen wurde die anonyme Nutzung der Daten für den wissenschaftlichen Gebrauch angekündigt und das Einverständnis zur Nutzung der Daten eingeholt.

Ergebnisse

Aus insgesamt 9 relevanten Quellen, die sich möglicherweise als geeignet für einen partiellen Einbezug in den vorläufigen Fragebogen zeigten, konnten 6 Fragebögen identifiziert werden [6, 8, 18, 24,25,26,27,28,29]. Details zu einbezogenen Fragebögen sind in Tab. 1 aufgezeigt. Der erste Entwurf des Fragebogens bestand neben den demographischen Angaben aus den 3 Bereichen „Allgemeine Erfahrungen mit dem Phänomen“, „Second Victim Symptome“ und „Second Victim Unterstützungsstrategien“ und wurde auf 40 Fragen limitiert, die aus etablierten Fragebögen übernommen oder angepasst wurden, wie in Tab. 2 gezeigt wird. Fünfzehn medizinische Fachpersonen (Ärzteschaft, Krankenpflege, Angehörige medizinisch therapeutischer und diagnostischer Berufe) der Charité Berlin, (n = 6) und des Krankenhauses Hietzing, Wien (n = 9) nahmen an den Pretests des vorläufigen Fragebogens teil.

Tab. 1 Einbezogene englische Fragebögen, identifiziert durch Literaturrecherche (in alphabetischer Reihenfolge des Erstautors)
Tab. 2 Liste der Bereiche und Items des SeViD-Fragebogens (Second Victims im Deutschsprachigen Raum)

Basierend auf den kognitiven Pretests wurden 7 Fragen in allen 3 Bereichen leicht modifiziert. Allen Teilnehmenden war es möglich, ausgewählte Fragen sinngemäß korrekt neu zu formulieren oder Fachtermini, insbesondere den Begriff Second Victim, korrekt zu umschreiben, unabhängig davon, ob vor unserem Pretest das Phänomen Second Victim als solches bekannt war oder nicht. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit des Fragebogens belief sich auf 9:01 (±3:05) min bei vorheriger Second-Victim-Erfahrung bzw. auf 4:19 (±0:59) min ohne vorherige Erfahrung, was von allen Freiwilligen hinsichtlich der Dauer als akzeptabel angesehen wurde. Keine Frage wurde als unangemessen bezeichnet. Ebenso wurde keine wichtige Information im Fragebogen auch auf Nachfrage durch die Teilnehmenden vermisst.

Diskussion

Im Rahmen des vorliegenden Projekts konnte ein Fragebogen entwickelt und inhaltlich validiert werden, der die Erfahrung von Second Victims im Gesundheitswesen in deutschsprachigen Ländern bewertet und von allen partizipierenden Freiwilligen während kognitiver Pretests als angemessen angesehen wurde. Obwohl eine kleine Untergruppe an Teilnehmern für Pretests immer mit dem Risiko eines Selektionsbias oder eines Hawthorne-Effekts assoziiert sein kann, zeigten die Reaktionen von teilnehmenden Freiwilligen mit vorherigen Second-Victim-Erfahrungen keinen Hinweis auf einen Observationsbias. Die Auswahl der Fragen basiert auf zuvor entwickelten, etablierten englischen Fragebögen. Dies unterstützt die Inhaltsvalidität zusätzlich. Die Veränderungen der vorläufigen Version waren gering und wurden wie erwartet überwiegend durch Übersetzungseffekte existierender Fragen ins Deutsche verursacht. Eine quantitative Auswertung mit entsprechend angemessener Fallzahl wird im Rahmen der ersten Erhebung im deutschsprachigen Raum (SeViD-I-Studie) erwartet. Dabei werden erstmals neben Fragen der Inzidenz und Verarbeitung des Phänomens sowohl von Second Victims als auch von nichttraumatisierten Behandelnden Einstellungen zu möglichen Unterstützungsangeboten erhoben, sodass es ggf. möglich ist, systematische Unterschiede in der Einschätzung der Sinnhaftigkeit von Hilfsmaßnahmen in Abhängigkeit persönlicher Vorerfahrungen zu identifizieren.

Fazit für die Praxis

  • Ein inhaltsvalidierter Fragebogen wurde entwickelt, welcher die Auswirkungen des Second-Victim-Phänomens in stationären Gesundheitseinrichtungen im deutschsprachigen Raum erhebt.

  • Dieser Fragebogen soll in verschiedenen Settings für medizinisches Fachpersonal – sowohl für Erhebungen des Status quo als auch für Verlaufsbeobachtungen im Rahmen kommender Interventionsstudien – eingesetzt werden.