Hintergrund

Studien zu psychischen Krankheitsbildern und psychosozialen Hintergründen bei Kindern und Jugendlichen in Österreich sind rar. Sie sind aber wichtig, um eine evidenzbasierte Arbeit und Schwerpunktsetzungen im kinder- und jugendpsychiatrischen Tätigkeitsfeld zu ermöglichen.

Eine groß angelegte, rezente Studie (Mental Health in Austrian Teenagers-Study; MHAT, [1]) untersuchte eine Kohorte von 3615 Kindern und Jugendlichen in österreichischen Schulen als auch 292 TeilnehmerInnen aus einer stationären klinischen Stichprobe. Die Studie ergab eine Punkt- und Lebenszeitprävalenzrate für psychische Erkrankungen von 23,9 % bzw. 35,8 %. Vierzig Prozent aller Kinder und Jugendlichen der Gesamtstichprobe, welche einer Störungskategorie zugeordnet werden konnten, hatten mindestens eine komorbide Störung. Das Geschlecht der Kinder und Jugendlichen war nicht prädiktiv für die Prävalenz einer oder mehrerer psychischer Erkrankungen. Junge Männer litten allerdings häufiger an einer Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (15,4 % vs. 5,2 %) sowie an Impulskontroll- und Verhaltensstörungen (7,44 % vs. 1,26 %). Mädchen hingegen litten häufiger an Angststörungen (19,53 % vs. 9,52 %), traumaassoziierten Störungen (4,94 % vs. 1,30 %), Essstörungen (5,47 % vs. 0,64 %), suizidalen Verhaltensstörungen (2,53 % vs. 0,33 %) und zeigten als Einzige selbstverletzendes Verhalten (3,49 % vs. 0 %) [1].

Die klinische Stichprobe der MHAT-Study zeigte, verglichen mit ProbandInnen ohne eine messbare Störung, dass sie häufiger weiblich waren, bei alleinerziehenden Eltern lebten, mehr chronische und psychiatrische Erkrankungen in der engeren Familie hatten und öfter traumatischen Erlebnissen sowie Missbrauch ausgesetzt waren [1]. Kinder und Jugendliche mit einer psychischen Erkrankung haben in anderen Studien weiters häufiger sonderpädagogischen Förderbedarf gezeigt und blieben öfter unerlaubt der Schule fern [2].

Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen adversiven Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences – ACEs) und psychischer Erkrankung. Mit steigender Anzahl an ACEs, verdreifacht sich im Durchschnitt die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten komorbider Störungen [3]. In einer U.S.-Amerikanischen Stichprobe von 2293 15- bis 17-Jährigen gaben 26,6 % der 17-jährigen Mädchen an, Opfer von sexueller Gewalt gewesen zu sein – im Vergleich zu 5,1 % der männlichen Gleichaltrigen [4]. Sexuelle Gewalt sowie physische Bestrafungen erhöhen im Gegenzug die Wahrscheinlichkeit für einen Suizidversuch [5]. Vollendeter Suizid ist ein überwiegend männliches Phänomen [6]. Hingegen tätigen mehr Mädchen Suizidversuche. Dies könnte Ausdruck einer höheren Prävalenz internalisierender Erkrankungen sein [7].

In Bezug auf psychosoziale Hintergründe besteht ein kumulativer Effekt von negativen Erlebnissen in Bezug auf Psychopathologien. Bielas et al. [8] fanden, dass die Anzahl potentiell traumatisierender Erlebnisse sowohl mit dem Auftreten von Irritabilität zusammenhängt als auch prädiktiv für die Prävalenz depressiver Erkrankungen, Suizidalität, posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und Angststörungen ist. Diese internalisierenden Störungen zeigten in der Vergangenheit häufig einen Zusammenhang mit akkumulierter psychosozialer Belastung [9, 10]. Irritabilität wiederum, als Ausdruck der emotionalen Dysregulation, korrelierte mit Depression, Suizidalität, Störungen des Sozialverhaltens, Substanzmissbrauch und ADHS. Zusätzlich ist die Erstmanifestation einer Depression während der Adoleszenz sowohl auf Grund der akkumulierten ACEs, als auch neurobiologischer Umbauprozesse besonders häufig. [11].

Diese Forschungsergebnisse legen nahe, dass gewisse psychische Erkrankungen aus ACEs und den daraus folgenden emotionalen Störungen resultieren. Die AutorInnen argumentieren daher für eine spezifische emotionsregulative Behandlung der betroffenen PatientInnen [8].

In Bezug auf schulische Auffälligkeiten haben ältere Studien gezeigt, dass sich Jungen mit ADHS häufiger in Behandlung befinden als Mädchen, begünstigt durch die hauptsächlich externalisierende Ausprägung der Erkrankung bei männlichen Patienten und der daraus resultierenden schlechteren Beurteilung durch Lehrpersonal [12]. Die häufigere Externalisierung psychischer Erkrankungen bei Jungen deutet auf eine gesteigerte Vulnerabilität in Bezug auf schulische Leistungen hin.

Die vorliegende Studie beschreibt die bisher wenig untersuchte Prävalenz psychischer Erkrankungen und den psychosozialen Hintergrund von ambulant vorstelligen Kindern und Jugendlichen. Bisherige Studien aus Österreich beziehen sich mehrheitlich auf die Versorgungssituation der Kinder- und Jugendpsychiatrien im Allgemeinen [13, 14]. Es ist insbesondere von Interesse, welche Bedürfnisse die Kinder und Jugendlichen, die ambulant versorgt werden, aus psychopathologischer und psychosozialer Sicht aufweisen.

Methoden

Alle Kinder und Jugendlichen, die von 12.11.2013 bis 27.11.2015 an der Terminambulanz der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Christian Doppler Klinik Salzburg erstmals vorstellig wurden, wurden mit standardisierten Untersuchungsinstrumenten diagnostiziert. Von den 183 Kindern und Jugendlichen erfüllten 154 im Alter von 10–19 Jahren die Einschlusskriterien für die vorliegende Studie.

Einschlusskriterien waren eine ausreichende Kenntnis der deutschen Sprache in Wort und Schrift, um Selbstbeurteilungsfragebögen selbstständig ausfüllen und diagnostische Interviews verstehen und beantworten zu können. Ausschlusskriterien waren Umstände, welche das korrekte Verstehen und Ausfüllen der Fragebögen beziehungsweise Interviews unmöglich machten, wie zum Beispiel akute psychiatrische Erkrankungen mit psychotischen Symptomen oder eine intellektuelle Minderbegabung. Die Erstuntersuchung wurde von Fach- und Assistenzärztinnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie durchgeführt.

Bei Vorstellung an der Ambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie wurden die demographischen Daten Geschlecht und Alter erhoben.

Mini International Neuropsychiatric Interview for Children and Adolescents (MINI-KID)

Das MINI-KID stellt ein strukturiertes klinisch diagnostisches Interview dar, welches auf eine für Kinder und Jugendliche verständliche Art und Weise psychiatrische Störungen nach DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Health, Fourth Edition; [15]) und ICD 10 (International Classification of Diseases, 10. Revision; [32]) untersucht. Angelehnt an die Erwachsenenform des Interviews, welche unter anderem affektive und psychotische Störungen, sowie Angst‑, Substanz- und Abhängigkeitsstörungen untersucht, beurteilt das MINI-KID zusätzlich relevante psychiatrische Störungen bei Kindern und Jugendlichen, wie beispielsweise Trennungsangst, Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Störungen des Sozialverhaltens [16].

Multidimensional Clinical Screening Inventory (MCSI)

In dieser Studie wurde eine für nicht delinquente PatientInnen adaptierte Version des Multidimensional Clinical Screening Inventory for Delinquent Juveniles verwendet, um die psychosozialen Hintergründe der PatientInnen zu untersuchen [17]. In Anlehnung an die geläufige klinische kinder- und jugendpsychiatrische Anamnese werden mittels dieses halbstrukturierten Interviews schulische Auffälligkeiten, frühere psychische Behandlungen ja/nein, (ambulant, stationär, kinder- und jugendpsychiatrisch, psychologisch, psychotherapeutisch), psychiatrische Familienanamnese und das Freizeitverhalten erhoben. Des Weiteren werden intra- und extrafamiliäre Traumata (sexueller, körperlicher und emotionale Missbrauch, körperliche und emotionale Vernachlässigung, Trennung und Verlust) sowie schädlicher Gebrauch von Alkohol und Drogen erhoben [17].

Statistische Auswertung

Die Daten wurden mittels Statistical Package for Social Sciences Version 22 (SPSS Inc, Chicago, IL) analysiert. Mit Hilfe eines t‑Tests wurde ermittelt, ob es einen Unterschied im Alter bei Erstvorstellung zwischen Mädchen und Jungen gab. Die Homoskedastizität der Daten wurde bestätigt durch einen Levene-Test. Pearson’s Chi-Square Tests wurden angewandt, um dichotome Daten auf mögliche Unterschiede in der Häufigkeit psychiatrischer Störungsbilder sowie deren Zusammenhang psychosozialen Hintergründen zu untersuchen. Bei einer erwarteten Häufigkeit von n < 5 wurde der Exakte Test nach Fisher verwendet, welcher eine geeignete Methode darstellt, um 2 × 2 Kontingenztabellen auch bei kleinen Stichproben zu erstellen [18, 19].

Die psychiatrischen Störungskategorien des MINI-KID wurden als Erstes in Anlehnung an das ICD-10 zu Verhaltensstörungen (Störung des Sozialverhaltens, oppositionelles Trotzverhalten), Aufmerksamkeits‑/Hyperaktivitätsstörungen (Aufmerksamkeitssubtyp, Hyperaktivitätssubtyp, kombiniert), posttraumatische Belastungsstörungen, Angst‑/Panikstörungen (Panikstörung, Agoraphobie, Trennungsangst, spezifische Phobie, generalisierte Angststörung), Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa), Suizidalität, Depression/Dysthymie und Anpassungsstörungen (depressive Anpassungsstörung, ängstliche Anpassungsstörung, Anpassungsstörung mit Verhaltensstörung, soziale Anpassungsstörung) zusammengefasst [15]. Das Patientenkollektiv wurde folglich in Bezug auf diese Störungskategorien getrennt nach Geschlecht untersucht. Auf Grund der Trennung zwischen Kindern und Jugendlichen, wurden alle Daten von PatientInnen, unter und ab 14 Jahre separat analysiert.

Die ursprünglichen Störungskategorien des MINI-KID wurden danach außerdem in internalisierende und externalisierende Störungen unterteilt. Die internalisierenden Störungen setzten sich aus posttraumatischer Belastungsstörung, Angststörungen, Panikstörung, Zwangsstörung, Essstörung, Suizidalität, Depression, Dysthymie und Anpassungsstörungen zusammen. Die externalisierenden Störungen wurden gruppiert in Alkohol- und Substanzmissbrauch und Abhängigkeit, ADHS, Störungen des Sozialverhaltens und oppositionellem Trotzverhalten. Diese wurden in weiterer Folge auf einen möglichen Zusammenhang mit Verhaltensauffälligkeiten in der Schule, psychiatrischer Geschichte, intra- und extrafamiliären sowie freizeitanamnestischen Variablen des MCSI untersucht.

Ergebnisse

Die allgemeine Auswertung der Psychopathologieprävalenz aller PatientInnen ergab, dass 119 (86,9 %) die Kriterien für mindestens eine Störungskategorie erfüllten. Die Anzahl an PatientInnen wird in Tab. 1 getrennt nach Geschlecht und Alter zusammengefasst. Mädchen und Burschen, sowie PatientInnen unter und ab 14 Jahren, unterschieden sich nicht signifikant im Auftreten psychischer Erkrankungen (siehe Tab. 1). Das Durchschnittsalter aller PatientInnen betrug 14,7 [SD = 1,9] Jahre. Kein Unterschied fand sich in Bezug auf das Alter von männlichen und weiblichen PatientInnen bei Erstvorstellung in der Ambulanz. Mädchen waren im Durchschnitt 14,84 [SD = 1,76], und Jungen 14,56 [SD = 2] Jahre alt; t (152) = −0,92; p = 0,359.

Tab. 1 Anzahl an erstvorstelligen Patienten und Patientinnen, unter und ab 14 Jahre, sowie Anzahl an Erkrankten

Tab. 2 zeigt die Unterschiede in der Häufigkeit der Störungskategorien zwischen weiblichen und männlichen PatientInnen. So litten signifikant mehr Jungen an Verhaltensstörungen und Aufmerksamkeits- und/oder Hyperaktivitätsstörungen. Mädchen hingegen litten öfter unter posttraumatischen Belastungsstörungen, Angst und/oder Panikstörungen, Essstörungen, Suizidalität, und Depression und/oder Dysthymie. Im Weiteren ergaben sich Unterschiede in der Häufigkeit der verschiedenen Erkrankungen zwischen PatientInnen unter und ab 14 Jahren. PatientInnen jünger als 14 Jahre präsentierten sich öfter mit Verhaltensstörungen und Aufmerksamkeits- und/oder Hyperaktivitätsstörungen. Ältere PatientInnen litten hingegen öfter unter Suizidalität und Depression und/oder Dysthymie (siehe Tab. 2).

Tab. 2 Vergleich der Häufigkeit psychiatrischer Störungen und der Anzahl an psychischen Störungskategorien pro PatientIn bei Jungen und Mädchen und PatientInnen unter und ab 14 Jahren

In der gesamten Stichprobe hatten 65,2 % aller PatientInnen mindesten eine komorbide Störung. Hinsichtlich des Geschlechts der ProbandInnen fand sich eine erhöhte Anzahl einzelner Störungen bei Mädchen. In Bezug auf das Alter der PatientInnen zeigte sich, dass ProbandInnen unter 14 Jahren deutlich häufiger an einer Kombination aus zwei Störungen litten (siehe Tab. 2).

Nach Zusammenfassung aller externalisierender und internalisierender Störungskategorien gab es 19 (13,7 %) PatientInnen, welche keiner Störungskategorie zugeordnet werden konnten, 50 (36,2 %), welche ausschließlich internalisierende Störungen aufwiesen, 19 (13,7 %) zeigten nur externalisierende Störungen und 50 (36,2 %) wurden Störungen aus externalisierenden und internalisierenden Kategorien zugeordnet. Männliche Patienten zeigten im Vergleich zu weiblichen häufiger externalisierende Störungen (69,6 % vs. 37,0 %), χ2(1) = 14,081; p < 0,001.

Tab. 3 zeigt, dass Jungen am seltensten Schulsuspendierung und am häufigsten Leistungsprobleme angaben. Mädchen gaben ebenso am seltensten Schulsuspendierungen, am häufigsten hingegen Probleme mit SchulkollegInnen an. Es zeigte sich, dass innerhalb der Kategorien Verhaltensauffälligkeiten, Raufhandel, Probleme mit Autoritäten, Probleme mit Strukturen, Leistungsprobleme, Schulwechsel und Schulsuspendierung männliche Patienten mehr Auffälligkeiten aufwiesen als weibliche (siehe Tab. 3).

Tab. 3 Vergleich schulischer Auffälligkeiten zwischen Jungen und Mädchen

Tab. 4 zeigt die prozentuelle Verteilung der einzelnen schulischen Auffälligkeiten innerhalb der verschiedenen Störungskategorien. Tab. 5 vergleicht jene Kategorien und zeigt, dass PatientInnen mit externalisierenden Störungen mehr Verhaltensprobleme in der Schule aufwiesen, als PatientInnen ohne einer Störung. PatientInnen mit sowohl internalisierenden als auch externalisierenden Störungen zeigten mehr Verhaltensprobleme, Verwicklung in einen Raufhandel und Probleme mit Strukturen im Vergleich zu PatientInnen ohne einer Störung. PatientInnen mit ausschließlich externalisierenden Störungen, sowie externalisierenden und internalisierenden Störungen, zeigten öfter Verhaltensprobleme, Autoritätsprobleme, Probleme mit Strukturen, Leistungsprobleme, gerieten öfter in einen Raufhandel, wurden öfter von der Schule suspendiert und hatten öfter Kontakt mit SchulpsychologInnen als PatientInnen mit ausschließlich internalisierenden Störungen.

Tab. 4 Anzahl schulischer Auffälligkeiten innerhalb der verschiedenen Störungskategorien
Tab. 5 Vergleich schulischer Auffälligkeiten zwischen den verschiedenen Störungskategorien

Die Analyse der intra- und extrafamiliären Belastungen ergab, dass Jungen häufiger Opfer von extrafamiliärem körperlichem Missbrauch waren (24,5 % vs. 9,7 %), χ2(1) = 4,979; p = 0,026. Im Gegensatz dazu zeigte sich, dass Mädchen öfter von sexuellem Missbrauch betroffen sind (3,7 % vs. 20 %), χ2(1) = 7,204; p = 0,007. Alle anderen intra- und extrafamiliären Variablen erwiesen sich als nicht signifikant unterschiedlich hinsichtlich Geschlecht, internalisierender, externalisierender oder beider Formen der psychischen Störungen.

In Bezug auf psychische Vorbehandlungen und selbstgefährdendes Verhalten befanden sich 92 (72,4 %) PatientInnen der Gesamtstichprobe vor Erstvorstellung an der Ambulanz in psychischer Behandlung.

Mädchen wiesen in ihrer Vergangenheit deutlich häufiger Selbstmordversuche (20,8 % vs. 3,7 %; χ2(1) = 7,757; p = 0,005) und selbstverletzendes Verhalten (62,5 % vs. 31,5 %; χ2(1) = 11,879; p = 0,001) auf als Jungen. PatientInnen mit internalisierenden Störungen neigten eher zu selbstverletzendem Verhalten als diejenigen mit externalisierenden Störungen (58,7 % vs. 27,8 %); χ2(1) = 4,947; p = 0,026. Im Weiteren hatten PatientInnen mit sowohl internalisierenden als auch externalisierenden Störungen beinahe doppelt so häufig ein psychisch erkranktes Familienmitglied als jene mit lediglich externalisierenden Erkrankungen (81 % vs. 44,7 %); χ2(1) = 7,997; p = 0,005.

In Bezug auf die Freizeitgestaltung ergab die Analyse, dass Jungen (n = 30; 55,6 %) deutlich häufiger ihre Freizeit mit der Nutzung eines Computers verbringen als Mädchen (n = 18; 25,4 %); χ2(1) = 11,829; p = 0,001. Die häufigste positive Drogenanamnese fand sich in der Gruppe jener PatientInnen, welche sowohl an internalisierenden als auch externalisierenden Störungen litt (n = 11; 24,4 %). Am seltentsten konsumierten PatientInnen mit ausschließlich internalisierenden Störungen illegale Substanzen (n = 2; 4,3 %).

Diskussion

Ähnlich der MHAT-Study [1], welche in der klinischen Stichprobe eine Punkträvalenz jeglicher Erkrankungen von 88,06 % fand, waren in unserer ambulanten Kohorte 86,9 % aller Kinder und Jugendlichen psychisch erkrankt.

In unserer Kohorte wurden Mädchen und Jungen gleich häufig erstvorstellig, auch in Bezug auf das Alter bei Erstvorstellung fand sich kein signifikanter Unterschied. In der Gruppe der PatientInnen ab 14 Jahren fand sich, ähnlich zu vergangenen Studien, ein vermehrtes Auftreten von Suizidalität, Depression und/oder Dysthymie.

Im Einklang mit der MHAT-Study zeigte sich, dass Jungen häufiger an Verhaltensstörungen und Aufmerksamkeits- und/oder Hyperaktivitätsstörungen leiden.

Die Prävalenz der einzelnen Störungen im Vergleich mit der klinischen Stichprobe der MHAT-Study zeigte, dass in unserer Kohorte die Depression und Dysthymie (31,9 % vs. 49,25 %) sowie die Essstörungen (8 % vs. 34,33 %) seltener auftraten. Angst und Panikstörungen sowie Suizidalität zeigten sich in etwa gleich häufig (31,2 % vs. 31,34 % und 26,8 % vs. 21,51 %). Es fand sich eine erhöhte Prävalenz in der vorliegenden Studie im Vergleich mit der MHAT-Study bei den Verhaltensstörungen (27,5 % vs. 6,58 %) und den trauma-assoziierten Störungen (25,4 % vs. 13,38 %; [1]). Der gravierende Unterschied im Auftreten der Verhaltensstörungen ergibt sich vermutlich daraus, dass diese Störungen häufiger ambulant und seltener stationär behandelt werden. Im Weiteren sind PatientInnen mit Verhaltensstörungen jünger als jene mit anderen Erkrankungen. Daher ist zu erwarten, dass stationäre Aufenthalte für jene PatientInnen eher vermieden werden. Da in unserer Stichprobe ausschließlich ambulante Kontakte untersucht wurden, liegt die Vermutung nahe, dass dadurch mehr PatientInnen mit Verhaltensstörungen eingeschlossen wurden.

Mädchen litten in unserer Kohorte im Vergleich zu Jungen öfter an einer trauma-assoziierten Störung, Angst- und/oder Panikstörung, Essstörungen, Suizidalität, selbstverletzendem Verhalten oder einer depressiven Störung. In Bezug auf trauma-assozierte Störungen zeigen auch frühere Studien eine häufigere Entwicklung von PTBS-Symptomen bei Mädchen, vor allem nach gewaltsamen Erlebnissen [20].

In Übereinstimmung mit der Literatur litten Jungen in unserer Studie signifikant öfter unter externalisierenden Erkrankungen [21]. In Bezug auf schulische Auffälligkeiten zeigte sich, dass Jungen in sieben von zehn Kategorien mehr Probleme aufwiesen als Mädchen. PatientInnen mit externalisierenden Störungen hatten im Vergleich zu PatientInnen mit keiner oder lediglich einer internalisierenden Störungen ebenfalls öfters mit schulischen Problemen zu kämpfen. Dieser Unterschied spiegelt die Schwierigkeit wider, externalisierende Störungen und das Regelschulsystem miteinander zu vereinbaren. In Summe besteht ein beunruhigender Zusammenhang zwischen Psychopathologie und Schulproblemen, der insbesondere männliche Kinder und Jugendliche betrifft. Dieses Ergebnis führt zu der Frage, ob eventuelle Entwicklungsschädigungen durch schulisches Versagen unvermittelt in Kauf genommen werden, ohne Rücksicht auf die eigentlichen Bedürfnisse einzelner Schülergruppen.

Mehr als die Hälfte der PatientInnen dieser Studie gaben an, den Verlust eines Familienmitglieds erlebt zu haben. Die Trennung von oder der Verlust eines Elternteils führt zu erhöhten Raten an Depression, Angst und Substanzmissbrauch und stellt als solches einen Ansatz für Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung psychischer Erkrankungen nach einem solchen Verlust dar [22]. Sexueller Missbrauch betraf mit 20 % deutlich häufiger Mädchen als Jungen mit 3,7 %. Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass die vermutete Dunkelziffer zu sexuellen Übergriffen groß ist. Die UNICEF schätzt, dass sieben von zehn weltweiten Missbrauchsopfern nie Hilfe aufsuchen [23]. Männliche Kinder und Jugendliche, andererseits, wurden häufiger Opfer extrafamiliären Schlagens.

Die psychiatrische Eigenanamnese der Gesamtstichprobe zeigte, dass 72,4 % aller PatientInnen bereits in psychischer Behandlung waren. Diese Zahlen sind aus medizinökonomischer Sicht erfreulich, da die Ambulanz der kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätsklinik somit für einen Großteil der PatientInnen nicht die ersten Anlaufstelle darstellte.

Mindestens ein psychisch erkranktes Familienmitglied fand sich bei 68,1 % der PatientInnen. Eine Erkrankung eines oder beider Elternteile ist sowohl auf Grund der genetischen Belastungen als auch möglicher erzieherischer Dysfunktionen hochrelevant [24]. Es erscheint daher unerlässlich, durch familiäre psychische Erkrankung vorbelastete Kinder vor weiteren Stressoren zu schützen. Ein Ansatz dafür ist die Kooperation mit der Erwachsenenpsychiatrie und Miteinbeziehung der Erwachsenen in die Behandlung der Kinder.

Die Freizeitgestaltung unserer Kohorte zeigte, dass 55,6 % der Jungen häufige Freizeitgestaltung unter Nutzung eines Computers angaben, verglichen mit 25,4 % der Mädchen. Problematisches Online Gaming fand sich in vergangenen Studien häufiger bei jungen Männern, allerdings zeigten Mädchen in neueren Studien oftmals erhöhten Social-Media Gebrauch [25,26,27]. Die Folgen dieses Verhaltens beinhalten beispielsweise den erhöhten Konsum von zuckerhaltigen Getränken, geringere physische Aktivität und Schlafsstörungen, welche wiederum Auslöser für die Entwicklung weiterer psychischer Symptome sein können [28, 29].

Wie bereits bei den schulischen Auffälligkeiten waren auch bei Drogenkonsum jene PatientInnen mit einer Kombination aus internalisierenden und externalisierenden Störungen stärker gefährdet als jene mit lediglich internalisierenden Störungen. Internalisierende Störungen zeigten sich bereits in Studien mit delinquenten PatientInnen als ungünstige Variante in Bezug auf Verhaltensproblematik und bieten somit Grundlage für weitere Studien [30].

Innerhalb des Studienzeitraums dieser Studie wurden alle ambulant erstvorstelligen PatientInnen untersucht, welche die Einschlusskriterien erfüllten. Somit bot sich eine gute Möglichkeit, Prävalenzraten von Psychopathologien im ambulanten Behandlungssetting der Universitätsklinik Salzburg zu untersuchen. Die PatientInnen wurden mithilfe wissenschaftlich erprobter Testverfahren untersucht. Auf Grund der Besonderheiten der Stichprobe psychisch erkrankter Kinder- und Jugendlicher konnten dennoch nicht alle Variablen gleichermaßen erhoben werden. Daher ergaben sich für die einzelnen Analysen verschiedene Anzahlen an ProbandInnen. Insgesamt wurden bei 13,1 % der vorstelligen PatientInnen keine psychischen Störungen duch das MINI-KID festgestellt. Diese PatientInnen haben bei der systematischen Erörterung psychopathologischer Auffälligkeiten, trotz Inanspruchnahme der Terminambulanz, den durch den Test vorgegebenen Grenzwert für keine der erwähnten Erkrankung überschritten und konnten somit keiner Kategorie zugeordnet werden.

Das MINI-KID ist ein umfangreiches Untersuchungstool, welches einige Krankheiten erfasst, die auf Grund der niedrigen Prävalenzzahlen nicht in die vorliegende Studie einflossen (Bipolare Störungen, Tourette Syndrom, tiefgreifende Entwicklungsstörungen).

Weitere Limitationen der vorliegenden Studie betreffen die Informationsgewinnung, welche ausschließlich durch Befragung der PatientInnen stattfand. Überdies handelt es sich um eine rein retrospektive Studie ohne Verlaufskontrollen, deren Datenerhebung im Rahmen von Routineuntersuchungen ohne Zweitbegutachtung stattfand. Obwohl alle erstmalig vorstelligen PatientInnen untersucht wurden, ergab sich eine relativ geringe Anzahl an ProbandInnen. Eine Attritionsanalyse wurde auf Grund fehlender Informationen nicht durchgeführt.

Bereits publizierte Daten werden durch unsere Studie ergänzt, indem sie die Ergebnisse zur Prävalenz psychopathologischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen um Daten zu ambulant geplant vorstelligen PatientInnen in Österreich ergänzt [31]. Vor allem Jungen zeigen sich in Bezug auf schulische Auffälligkeiten als besonders vulnerabel. Darüber hinaus zeigen die vorliegenden Daten, dass der Großteil der PatientInnen vor Erstvorstellung an der Ambulanz bereits psychologische, psychotherapeutische oder psychiatrische Hilfe in Anspruch genommen hat. Dies sind erfreuliche Zahlen, welche auf ein niedrigschwelliges System in der Begutachtung psychopathologischer Erstmanifestationen hindeuten. Erhöhte Wachsamkeit jenen gegenüber, die von psychosozialen Belastungen betroffen sind, könnte dazu beitragen, frühzeitig und präventiv die Entwicklung von psychischen Symptomen zu identifizieren und vor dem Ausbruch einer psychiatrischen Erkrankung zu behandeln.