1 Reflexivität und ihre lehrerbildungsdidaktische Bedeutung

1.1 Reflexivität als Antwort auf die Grenzen der Erfahrungslernens im Lehrerberuf

Der Begriff der „Reflexion“ findet ab den 1980er-Jahren im angloamerikanischen und ab den 1990er-Jahren auch im deutschsprachigen Lehrerbildungsdiskurs zunehmend Verwendung (s. bspw. Altrichter und Posch 1990; Altrichter und Lobenwein 1999; Dick 1994; Hatton und Smith 1995). Mittlerweile bildet er geradezu sein Gravitationszentrum.

Zur Klärung des Begriffs wird bis heute insbesondere auf Arbeiten von Donald Schön verwiesen (Schön 1983, 1987), ja dessen Konzept eines reflective practitioner ist geradezu zum „formelhaften Leitbild“ der Lehrerbildung (Leonhard und Abels 2017, S. 46) geworden. Das ist nicht nur deshalb erstaunlich, weil Schön sich selten auf die Tätigkeit des Unterrichtens bezogen hat, sondern vor allem auch deshalb, weil seine Handlungstheorie wohl Erfahrungslernkonzepte zu begründen vermag, nicht aber das, wofür eine reflexive Lehrerbildung im zeitgenössischen Verständnis steht. Schön interessiert sich vergleichsweise wenig für das Nachdenken über Handlungen, dagegen weitaus stärker für das reflexive Moment im Handeln selbst, für Probierhandlungen (sog. on-the-spot experiments). Was die von ihm so genannte reflection-in-action auszeichnet, ist ihre unmittelbare Handlungsbedeutsamkeit (Schön 1983, S. 50 ff., 1987, S. 26 ff.); sie wird durch einen konkreten Handlungskontext ausgelöst und in diesen unmittelbar wieder rückübersetzt, ohne dass der Primärhandlungsprozess unterbrochen würde. Reflection-in-action lässt sich deshalb allenfalls als quasi-reflexiv bezeichnen, weil Reflexion hier nicht Abstandnehmen von der Situation, sondern Momentum des Handelns selbst ist. Insoweit ist unangemessen, Schöns Buch The Reflective Practitioner als einen „Basistext“ der „Lehrerforschung“ (gemeint ist damit die Aktionsforschung) zu bezeichnen (so Altrichter et al. 2014, S. 288).

Überhaupt ist Schön in seinem Fokus auf reflection-in-action ein nur beschränkt interessanter Impulsgeber für das Nachdenken über Lehrerhandeln. Denn anders als zum Beispiel die von Schön beschriebenen Architektinnen und Architekten haben Lehrpersonen während des Unterrichts keine guten Möglichkeiten, on-the-spot-Experimente auszuführen. Dafür ist das Geschehen zu dynamisch und zu komplex, der Handlungsdruck zu hoch und wohl auch die Gefahr, die Kontrolle über das Geschehen zu verlieren. Anderson findet denn auch keine Hinweise darauf, dass Lehrpersonen während des Unterrichts auf der Grundlage handlungsimmanenter Reflexion on-the-spot-Experimente durchführen würden (Anderson 2019). Möglich werden solche Versuche allenfalls in der nächsten Unterrichtseinheit, wenn auf den Unterricht Manöverkritik folgt, also im eigentlichen Sinne des Wortes reflektiert wird. Schön verwendet für solche Vorgänge die Wendung reflection-on-action (Schön 1983, S. 276 f.), schenkt ihnen aber in seinen Arbeiten kaum Aufmerksamkeit. Für Reflexion in diesem Sinne ist das Moment der aktiven Distanzierung vom Handlungsgeschehen konstitutiv: „Wer reflektiert, setzt notwendig anderes Handeln aus“ (Häcker 2017, S. 26).

Nun lässt sich zeigen, dass eine solche gedankliche Bezugnahme auf und Verarbeitung von Erfahrung gerade für die Weiterentwicklung im Lehrerberuf sehr bedeutsam, ja vielleicht sogar der „Königsweg zur Expertise-Entwicklung“ (Gruber 2021) ist. Denn das Klassenzimmer stellt keine günstigen Bedingungen für Erfahrungslernen bereit. Zwar ist wahrscheinlich und wird auch berichtet, dass sich die Klassenführungskompetenz von Lehramtsstudierenden durch Erfahrung – vor allem in den ersten Wochen eines Praktikums – verbessert (Schlag und Glock 2019; vgl. dazu bereits Calderhead 1988); auch wird das Schülerbild realistischer und differenzierter, wenn die angehende Lehrperson realisiert, dass ihr eigenes ehemaliges Verhalten beim Lernen und im Unterricht nicht verallgemeinerbar ist (Kagan 1992). Davon abgesehen gibt es jedoch, anders als in anderen Expertisedomänen wie Schach, Physik oder Medizin, keine Evidenz dafür, dass Lehrkräfte durch Erfahrung „an sich“ lernen und die Anzahl ihrer Dienstjahre mit der durchschnittlichen Leistung ihrer Schülerinnen und Schüler deutlich korreliert. Deshalb konnte schon Herbart rückfragen: „Wollten wir nur sämtlich bedenken, dass jeder nur erfährt, was er versucht, ein neunzigjähriger Dorfschulmeister hat die Erfahrung seines neunzigjährigen Schlendrians, er hat das Gefühl seiner langen Mühe. Aber hat er auch die Kritik seiner Leistungen und seiner Methode?“ (Herbart [1806] 1890, S. 117).

Der Expertiseforschung ist der Hinweis zu entnehmen, dass zur Erfahrung harte und systematische Arbeit an der eigenen Person treten muss (deliberate practice). Ericsson, Krampe und Tesch-Römer bringen Belege dafür, dass Exzellenz in den unterschiedlichsten Domänen – vom Sport über die Kunst bis in die Wissenschaft – primär weder das Resultat angeborenen Talents noch auch des schlichten Ausmaßes an Erfahrung ist. Das Leistungsniveau ist vielmehr eine nahezu monoton steigende Funktion der Dauer anhaltender harter und täglicher Arbeit an der eigenen Verbesserung (Ericsson et al. 1993). Diese Arbeit setzt hohe Motivation voraus und erstreckt sich in vielen Domänen auf zwei bis vier Stunden täglich, wobei der Leistungshöhepunkt frühestens nach zehn Jahren konsequenten Übens erreicht wird.

Aber auch deliberate practice kann kein für den Lehrerberuf typisches Entwicklungsvehikel sein. Denn auch durch angestrengte und systematische Übung kann man nur lernen, wenn es (a) klare Erfolgskriterien gibt, (b) der Erfolg zeitnah und klar feststellbar sowie (c) eindeutig auf das eigene Handeln rückführbar ist, wenn man (d) sich weiterentwickeln möchte und (e) bereit ist, sich dafür anzustrengen. Gemessen an diesen Voraussetzungen – eindeutige Handlungsziele, Rückmeldung durch den Handlungserfolg und Lernmotivation – bietet die Berufssozierfahrung von Lehrerinnen und Lehrern aus sich heraus wenig Möglichkeit, die eigenen Fähigkeiten zielgerichtet weiterzuentwickeln (vgl. auch Altrichter 1996; Hofer 1986, S. 306 ff.; Lortie 1975, S. 135 ff.):

  • Schulen sind bürokratische, immobile Organisationen, der Lehrerberuf ist ausgesprochen karrierelos und die beruflichen Gratifikationen sind in hohem Maße leistungsindifferent. Beständige Arbeit an der eigenen Weiterentwicklung lohnt nur bedingt.

  • Die Ausbildungs‑, Bildungs- und Erziehungsziele, die es zu erreichen gilt, sind unscharf und in hohem Maße interpretationsbedürftig.

  • Die polytelische Struktur des Lehrerhandelns offeriert eine Vielzahl gleichzeitig anzustrebender und teils konfliktärer Ziele als Grundlagen für die Evaluierung des eigenen Handelns (z. B. Wissensaufbau, Denkerziehung oder Fortschritte beim sozialen und moralischen Lernen; „Ausbildung“ oder „Bildung“; Unterrichtseffizienz oder Unterrichtsklima; Optimierung durchschnittlicher Leistungszuwächse oder individuelle Förderung).

  • Lehrkräfte erhalten im Normalfall von außen keine Rückmeldung, sondern müssen ihren Handlungserfolg selbst bewerten.

  • Weil der Handlungserfolg vor allem in den inneren Veränderungen in den Schülerinnen und Schülern besteht, setzt das Verarbeiten von Rückmeldung hochinferente Urteile voraus.

  • Am Hervorbringen relevanter Ergebnisse sind immer auch die Schülerinnen und Schüler beteiligt. Im Zusammenspiel von Angebotsqualität und Nutzungsintensität ist es schwierig bis unmöglich, zwischen selbst- und fremdverursachten Erfolgsanteilen zu unterscheiden.

  • Der tatsächliche Outcome in Form nachhaltigen Kompetenzaufbaus bei den Schülerinnen und Schülern wird erst Jahre später sichtbar, was eine Zuordnung von Erfolgen und Misserfolgen zu eigenen konkreten Handlungen und Unterlassungen und damit eine rational begründbare Handlungskorrektur weiter erschwert.

  • Selbst wenn Lehrpersonen bereit sind, entlang ihrer Erfahrung zu lernen, bilden tradierte pädagogische Muster ihren Erfahrungsraum und beschneiden ihren „Möglichkeitssinn“ (Herzog und von Felten 2001, S. 23).

Diese Begrenzungen sind es, aus denen letztlich die Forderung nach dem Aufbau von Reflexivität durch Lehrerbildung resultiert. Reflexivität als Fähigkeit und Bereitschaft zur Reflexion soll wahrscheinlicher machen, dass bloße Erlebnisse zu Gelegenheiten der professionellen Weiterentwicklung, zu Erfahrungen also werden, die diesen Namen verdienen.

Der ausgesprochen schillernde und vielschichtige Reflexionsbegriff bleibt freilich auch dann noch unscharf, wenn man die Schön’sche reflection-in-action ausgrenzt und den Begriff nur für reflection-on-action reserviert. Will man Reflexion noch enger fassen, vom Problemlösen abgrenzen und die differentia specifica zum bloßen „Nachdenken“ bestimmen, so bietet sich an, den Begriff für selbstbezügliches Denken entlang selbst erlebter Situationen zu reservieren, für Vorgänge also, in denen der rückbezügliche (reflexive) Weltbezug in einen Selbstbezug verlängert wird und potenziell zu einer Selbsttransformation führt, die ihrerseits dann neue Weltbezüge und Handlungen ermöglicht. Dem entspricht beispielsweise der Definitionsvorschlag von v. Aufschnaiter, Fraij und Kost: „Wird eine Reflexion eingefordert, geht es um das analytische Nachdenken mit Bezug auf sich selbst mit dem Ziel, an der eigenen Professionalität zu arbeiten. […] Reflexion ist ein Prozess des strukturierten Analysierens, in dessen Rahmen zwischen den eigenen Kenntnissen, Fähigkeiten, Einstellungen/Überzeugungen und/oder Bereitschaften und dem eigenen situationsspezifischen Denken und Verhalten […] eine Beziehung hergestellt wird, mit dem Ziel, die eigenen Kenntnisse, Einstellungen … und/oder das eigene Denken und Verhalten (weiter-)zuentwickeln“ (v. Aufschnaiter et al. 2019, S. 148, i. Orig. tw. kursiv).

1.2 Ausgewählte Ansätze reflexiver Lehrerbildung

Die Anzahl unterschiedlicher Ausformungen einer reflexionsorientierten Lehrerinnen- und Lehrerbildung ist nicht mehr zu überblicken. Auch ist außerordentlich schwierig, die einzelnen Ansätze systematisch zu ordnen. Sie lassen sich nicht nur danach unterscheiden, ob sich die reflexive Auseinandersetzung stärker durch Weltbezug oder Selbstbezug auszeichnet, sondern auch danach, ob der Lernende die eigene Praxis oder eine schriftlich oder videographisch repräsentierte fremde Praxis reflektiert, ob die reflexiven Prozesse einem hohen Problemlöse- und Handlungsdruck ausgesetzt sind oder die Reflexion stark handlungsentlastet erfolgt, ob es sich um einen primär erkenntnisorientierten Prozess handelt oder einen solchen, der tiefere Schichten der eigenen Person und damit auch Emotionen zum Gegenstand der Reflexion macht (inquiry-oriented vs. personalistic, vgl. Zeichner 1983) und ob die in reflexiven Prozessen gewonnenen Erkenntnisse ausschließlich persönlich nutzbar werden sollen oder aber auch Erkenntnis für Dritte generiert werden soll. Wir beschränken uns daher im Folgenden auf eine nicht-gruppierte Auflistung besonders bedeutsamer Ansätze einer reflexiven Lehrerbildung. Sie alle eint im Unterschied zum Reflexionskonzept Schöns, dass in ihnen Reflexion nicht als gleichsam natürliches, spontanes und in das Handlungsgeschehen eingewobenes Moment, sondern als distanzierte, didaktisch durchgliederbare und insbesondere auch der Theorie-Praxis-Relationierung dienliche Aktivität aufgefasst wird (vgl. dazu auch Clarà 2015).

Eine frühe Variante begegnet uns im deutschen Sprachraum im so genannten Berliner Modell der Didaktik. Konstitutiv ist die Einsicht in die Einmaligkeit jeder je konkreten Unterrichtssituation als eines „unwiederholbaren Prozesses von einmaliger Faktorenkomplexion“ (Heimann et al. 1965, S. 9), derentwegen es keine abgeschlossene Objekttheorie über Unterricht geben könne, die berufspraktisches Können fundieren könnte. Didaktische Theorie müsse daher Meta-Theorie sein, eine Anleitung zur Reflexion je besonderer Unterrichtssituationen. Das theoretische Bewusstsein der Lehrperson soll sich dann im fortlaufenden Wechselspiel von Planung und Analyse des Unterrichts mit Hilfe eines Strukturschemas entfalten, das die formale Struktur von Unterricht begrifflich-strukturierend herausarbeitet (Schulz 1965).

Im internationalen Rahmen hat Kolb eine Theorie des Erfahrungslernens vorgelegt, die sich als theoretische Hintergrundfolie für viele Reflexionskonzepte eignet (Kolb 1984). In ihr gilt Lernen als unabschließbarer Prozess, der sich in den Spannungsfeldern von aktiver Handlung und reflexiver Beobachtung sowie von sinnlicher Erfahrung und Verbegrifflichung vollzieht. In Gestalt einer realistic teacher education liegt ein Lehrerbildungsprogramm vor, das diesem Grundgedanken folgt (Korthagen und Kessels 1999; Korthagen 2002, insbes. S. 186 ff.). Kern des Ansatzes ist eine systematische Organisation des Aufbrechens und Rückverdichtens persönlichen Wissens, der im sogenannten ALACT-Modell (action – looking back on action – awareness of essential aspects – creating alternative methods of action – trial) zusammengefasst wird und einen spiralförmigen Prozess beschreibt. Über ein Zwiebelschalenmodell wird verdeutlicht, dass die im Supervisionsprozess angestoßene Reflexion unterschiedlich tief gehen kann (Korthagen und Vasalos 2005). Von außen nach innen ergeben sich als potenzielle Reflexionsinhalte Umwelt, Verhalten, Fähigkeiten, Überzeugungen sowie letztlich die eigene Identität und als transpersonaler Aspekt die Vorstellungen von der eigenen Mission im Beruf oder überhaupt in der Welt. Damit wird auch die Rolle von Emotionen von Lehrpersonen in besonderer Weise betont, die erst in jüngerer Zeit breitere Beachtung finden (s. bspw. Hargreaves 1998; Hascher und Krapp 2014; Hascher und Waber 2020).

Aus dem Forschungsprogramm Subjektive Theorien speist sich die Vorstellung, dass es wirksamer Lehrerbildung vor allem gelingen muss, hochverdichtete, nicht bewusste subjektive Theorien reflexiv aufzubrechen und zu modifizieren. Dafür wurden zahlreiche Interventionsansätze entwickelt (vgl. bspw. Wahl 1991, 2001, 2002, 2013). Versucht wird zunächst, subjektive Theorien in stark individualisierten Lehr-Lernprozessen an die Oberfläche zu bringen; der teils implizite Filter soll durch das Aufbrechen der Verdichtungen in explizites und damit bearbeitbares Wissen, in subjektive Theorien größerer Reichweite, überführt werden. Zweitens wird der Lernende beim Nachdenken über die eigenen subjektiven Theorien durch wissenschaftliche Theorien und professionelles Wissen unterstützt. Drittens wird sichergestellt oder zumindest wahrscheinlich gemacht, dass die kognitiven Restrukturierungen auf die Handlungsebene durchdringen und die elaborierten Theorien wieder rückverdichtet werden.

Bei der Aktionsforschung handelt es sich um eine in der Lehrerbildung des deutschen Sprachraums ab Mitte der 1980er-Jahre Fuß fassende Professionalisierungsstrategie, die explizit auf die Förderung reflexiver Handlungskompetenz zielt (Altrichter und Feindt 2004, S. 417). Spezifikum ist die Reflexion der eigenen Praxis aus eigenem Antrieb, in der Lehrerfortbildung oder auch im Ausbildungspraktikum. Angestrebt wird die Stimulation längerfristiger „Forschungs“-Zyklen, in denen die Ergebnisse bisheriger Reflexionen wieder in praktische Handlungen umgesetzt werden, die ihrerseits wieder evaluiert und reflektiert werden, um dann neue Entwicklungs- und Praxiserprobungsphasen zu inspirieren (Altrichter et al. 2014, S. 286).

Sah und sieht man das Potenzial der Aktionsforschung vor allem im Bereich der Schulentwicklung und der Lehrerfortbildung und allenfalls auch in der Erstausbildung, so wird ein „Forschen“ genanntes Reflektieren in Gestalt sogenannten Forschenden Lernens mittlerweile „zu einer Art hochschuldidaktischer Reformformel“, um die es geradezu einen „Hype“ gibt (Weyland 2019, S. 26 f.), ja zu einem „Ausbildungsparadigma der universitären Lehrerbildung“ (Rothland und Boecker 2014, S. 387). Diese Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der Anfang der 2000er-Jahre einsetzenden Einführung von Langzeitpraktika (z. B. „Praxissemester“, „Kernpraktikum“) in mittlerweile etwa zwei Drittel der deutschen Bundesländer. Über die eigene Unterrichtstätigkeit hinaus müssen die Studierenden dabei „Studienprojekte“, „Forschungsvorhaben“ oder „Lernforschungsprojekte“ bewältigen. Forschendes Lernen zielt, stärker noch als die Aktionsforschung, auf die Gewinnung von Erkenntnissen, die auch für Dritte interessant sind.

Vor allem der strukturtheoretische Ansatz knüpft an die Fallarbeit die Hoffnung, mit ihr könne ein reflexiver Habitus befördert werden. Dort nämlich werden sowohl die Nichtableitbarkeit des Praxiswissens aus dem Theoriewissen und insofern seine Besonderheit und Dignität als auch die „Ausschließung aus dem Diskurs“ als eine seiner problematischen Entstehungsbedingungen erkannt. Angesichts einer „erkenntnistheoretisch schwierigen Lage, in der Erfahrungswissen gebraucht und aufgebaut sowie zugleich kritisch durchgearbeitet werden muss“ (Combe und Kolbe 2004, S. 847), wird gefragt, wie es gelingen kann, dass Lehrerinnen und Lehrer nicht nur über implizites Wissen verfügen, sondern dieses auch in explizites Wissen übersetzen, versprachlichen und sich dazu reflexiv in Beziehung setzen können (Helsper 2002, S. 70). Im Vergleich zu einer subsumtiven Fallarbeit verschiebt sich in der rekonstruktiven Kasuistik das Gewicht vom abstrakten Wissen auf den konkreten Fall, der nicht einfach subsumiert und „gelöst“, sondern Gegenstand des Befragens wird. Deshalb versteht sich Fallarbeit in diesem Sinne eher als praxisbedeutsames Forschen denn als praxiswirksame Ausbildung (Kunze 2020).

2 Mögliche Nebenwirkungen und Gefahren hypertropher Reflexionsanforderungen

Es mangelt also nicht an Vorschlägen zur didaktischen Inszenierung von Reflexion. Umgekehrt aber sucht man „skeptische Stimmen bzw. Hinweise auf Risiken und Nebenwirkungen hypertropher Reflexions(an)forderungen bzw. die Identifikation bestimmter Phasen und Handlungsvollzüge, bei denen (selbst-)reflexive Bezüge hemmend, blockierend, hinderlich, Krisen auslösend und damit kontraindiziert sind, über weite Strecken vergeblich“ (Häcker 2017, S. 32). Wir wollen daher im Folgenden Hinweise auf mögliche Gefahren und Nebenwirkungen von Reflexion geben und sie zu drei Problemkomplexen bündeln (vgl. auch Neuweg 2017).

2.1 Internale Aufmerksamkeit als Antagonist impliziten Lernens

In unserem Kulturkreis gilt die Aufmerksamkeit für den eigenen inneren Zustand gegenüber der Selbstvergessenheit meist als die höhere Form des Bewusstseins. Bereits William James meinte freilich, als psychologisches Grundgesetz entdeckt zu haben, „that consciousness deserts all processes where it can no longer be of use“ (James [1890] 1950, S. 496).

Näher besehen ist es freilich nicht die Bewusstlosigkeit, die kompetentes Handeln kennzeichnet, sondern eine spezifische Gerichtetheit des Bewusstseins: Die Aufmerksamkeit ist in die Situation hineingerichtet, nicht auf die eigenen Kognitionen. Das lässt sich am Flow-Zustand besonders deutlich studieren, in dem der Aktor selbstvergessen und außengerichtet, aber hochkonzentriert ist. Flow bedeutet „nicht einen Verlust des Bewusstseins, sondern einen Verlust der Bewusstheit von sich selbst“ (Csikszentmihalyi 1992, S. 29) und in diesem Zustand „besteht keine Notwendigkeit zur Reflexion, da die Handlung uns wie durch Zauber weiterträgt“ (ebd., S. 24). Der Aufmerksamkeitsfokus verharrt nämlich auf den bewirkten Effekten und diese stimulieren den nächsten Aktionsschritt.

Unter dem kaum übersetzbaren Begriff „Mushin“ (vgl. dazu Nishihira 2017) ist die Vorstellung von einem Wahrnehmen und Handeln im Zustand von Gelassenheit und Ichlosigkeit, der sich durch ein eigentümliches Gemenge von Intentionalität und Absichtslosigkeit auszeichnet, und in gewisser Weise sogar als bewusster bezeichnet werden kann als ein „überlegtes“ Handeln, im asiatischen Raum praktisch Allgemeingut. Sie wurde interessanterweise auch in der Arbeitspsychologie aufgegriffen. Volpert hebt als Grundeinstellungen des könnerhaft Handelnden Achtsamkeit oder – in Übernahme eines Begriffs von Heidegger – „Horchsamkeit“ hervor. Im Offensein für die Erfahrung, in einer Art schwebender Aufmerksamkeit, die es erlaube, ganz bei der Sache zu sein und doch nicht mit ihr zu verschmelzen, lasse der Handelnde die Dinge sich ereignen und gestalte sie doch mit (Volpert 1994, S. 110 ff., 118 ff.). Die subtile Idee eines „Bewusstseins ohne Bewusstsein“ (Nishihira 2017) im Hinterkopf könnte man an das Reflexionsparadigma zugespitzt also die Anfrage richten, wie unachtsam jemand in der Erfahrung eigentlich gewesen sein muss, wenn er sie reflektieren muss, um sie überhaupt wirklich gemacht zu haben.

Dass eine reflexionsinduzierte Umzentrierung der Aufmerksamkeit auf proximale Aspekte den Handlungserfolg beeinträchtigen kann, ist bekannt. Der Seiltänzer, der nicht auf das Ende des Seiles, sondern darauf achtet, wie er das Gleichgewicht hält (Polanyi 1969, S. 213), der Pianist, der nicht auf das Stück achtet, das er spielen möchte, sondern auf seine Fingerbewegungen (Polanyi 1964, S. 56), der Redner, der seine Idee aus dem Blick verliert, weil er beginnt, auf die einzelnen Worte zu fokussieren, oder der Tausendfüßer, der seine Beine problemlos unter Kontrolle hält bis zu dem Zeitpunkt, an dem er erstmals darüber nachdenkt, wie er das eigentlich macht. sind allesamt Beispiele für eine „pathologische Explikation“ (Fuchs 2011, S. 574). Ihr wesentliches Kennzeichen ist, dass die für den Handlungserfolg zentrale externale (distale) Aufmerksamkeit durch internale (proximale) Aufmerksamkeit ersetzt und damit Denken statt Wahrnehmen zum vermeintlichen Schlüsselfaktor für den Erfolg wird. Besonders, aber nicht nur, beim Geübten kann das fatal sein. Instruktiv ist hier das Beispiel der Blickheuristik, die wir „anwenden“, wenn wir einen Ball im Lauf zu fangen versuchen (McLeod und Dienes 1996). Wir achten dabei nicht auf unsere Beinbewegungen oder unser Tempo und wir berechnen nicht, wo der Ball genau zu Boden fallen wird, sondern fixieren schlicht den Ball bei konstant gehaltenem Blickwinkel. Der Zauber liegt in der fokussierten Wahrnehmung, der Körper passt die Laufgeschwindigkeit von selbst an. Das ist lehrerbildungsdidaktisch ausgesprochen interessant. Denn Lehrerhandeln trifft im Unterricht auf die Unberechenbarkeit des Schülerhandelns und Schülerlernens und muss insofern mehr oder weniger beständig an das nur begrenzt Vorhersehbare anknüpfen. Auch dann ist ein externaler Aufmerksamkeitsfokus, sind Achtsamkeit und Gewahrsamkeit zentral.

Der trade-off zwischen externaler und internaler Aufmerksamkeit ist in der Lehrerforschung noch nicht beforscht, wird aber in der Sportpsychologie diszipliniert untersucht. Als choking under pressure ist dort das Phänomen bekannt, dass es unter Druck zu Leistungseinbußen kommen kann (vgl. z. B. Baumeister 1984; Beilock 2011). Dabei wird angenommen, dass Leistungsdruck zu einer erhöhten Selbstaufmerksamkeit führt. Wissenspsychologisch und didaktisch sind solche Befunde sehr interessant, weil auch das Erinnern von urteils- oder handlungsrelevantem Ausbildungswissen zu einer erhöhten Selbstaufmerksamkeit führt. Masters zeigt, dass Personen, die Golfen implizit erlernt haben, im Gegensatz zu Personen, die über explizite Regeln des Golfens instruiert worden waren, unter Stressbedingungen keine Leistungseinbußen zeigen (Masters 1992). Er nimmt an, dass Stress dazu führt, dass die Versuchspersonen darüber nachzudenken beginnen, wie sie die betreffende Fertigkeit ausführen. Das spricht für Techniken impliziten Lernens, bei denen auf regelbasierte Instruktion verzichtet wird (Masters und Maxwell 2004, 2008).

Das Phänomen der Interferenz zwischen Denken und Performanz reicht weit über motorische Leistungen hinaus. Schooler, Ohlsson und Brooks vermuten beispielsweise, dass Verbalisierung sich nachteilig auswirkt, wenn an einer mentalen Leistung nicht-berichtbare Prozesse beteiligt sind, die durch Verbalisierung gleichsam „überschattet“ werden (Schooler et al. 1993). Ähnliche Phänomene werden für die Urteilsbildung nachgewiesen. Je analytischer eine Entscheidung getroffen wird, desto stärker kann sie von Expertenurteilen abweichen (vgl. Wilson und Schooler 1991). Erklärbar ist dies erneut dadurch, dass durch Analyse zum einen nur offensichtliche, nicht aber die ein intuitives Urteil mitbeeinflussenden, subtileren Faktoren in den Blick geraten; zum anderen verändert sich durch Analyse möglicherweise die Gewichtung der Faktoren. Schließlich weisen Schooler, Ohlsson und Brooks nachteilige Wirkungen der Verbalisierung auch für intuitives Problemlösen nach (Schooler et al. 1993). Im Gegensatz zu logisch und schrittweise bearbeitbaren Problemstellungen zeigt sich für einsichtiges Problemlösen, dort also, wo es um kreative Neurahmungen von Problemen geht und wo typischerweise „Aha-Erlebnisse“ auftauchen, dass dieses durch Verbalisierung beeinträchtigt wird.

Die lehrerbildungsdidaktische Brisanz des damit angesprochenen Problemkomplexes ist eine zweifache. Zum einen scheint internale Aufmerksamkeit die Performanz bei Menschen zu beeinträchtigen, die etwas bereits gut können. Zum anderen und entscheidender noch effektiviert eine externale Aufmerksamkeit unter bestimmten Bedingungen offenbar auch den Prozess des Kompetenzerwerbs, während eine internale Aufmerksamkeit ihn beeinträchtigt (vgl. zum impliziten Lernen auch Neuweg 2000). Für die Forschung zum Lehrerberuf ergibt sich daraus ein wichtiges Desiderat. Während die Unterrichtsforschung große Fortschritte in Bezug auf die Frage erzielt hat, wie guter Unterricht von außen aussieht, wissen wir wenig über die aufmerksamkeitsregulatorischen Prozesse derer, die ihn halten, und noch weniger darüber, welche aufmerksamkeitssteuernden Hinweise in der Lernphase jeweils hilfreich und welche kontraproduktiv sind (Neuweg 54,55,a, b). Bekannt ist, dass die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler erst spät in den Aufmerksamkeitsfokus der Lehrpersonen geraten – zunächst nämlich wird ihnen die Klassenführung und dann das eigene Unterrichtsverhalten zum Problem (Fuller und Bown 1975) –, und es ist umstritten, ob diese Prozesse der erfahrungsbedingten Aufmerksamkeitsverlagerung beschleunigt werden können und sollen (Kagan 1992).

2.2 Die Verfügungsgesinnung und das Problem des Dienstes nach Vorschrift

Der Einwand, es könne zu handlungslähmenden Effekten in situ kommen, trifft vor allem reflection-in-action. Der Reflexion wird ihr Platz in der Regel aber dort zugewiesen, wo es um die gedankliche Nachbereitung des Handelns, um reflection-on-action geht. Die im Folgenden dazu zu entfaltenden Bedenken beziehen sich nun nicht auf die wünschenswerte Fehleranalyse im Misserfolgsfall, sondern auf Versuche, sich gelingendes Können als Wissen verfügbar zu machen, also die Regel zum Tun zu finden, um Letzteres fortan regelanwendend ausüben zu können. Diese Versuche werden durch die Unterrichts- und Lehrerforschung gleichsam institutionell betrieben, insofern es dort darum geht, Merkmale effektiven Lehrerverhaltens zu identifizieren und in der Ausbildung zu vermitteln. Wir finden sie aber auch dort, wo die einzelne Lehrperson analysiert, warum etwas gut gelungen ist und worin genau es bestand, um das Gelingen fortan reproduzieren zu können.

Bourdieu hat davor gewarnt, in den Hervorbringungen des „Habitus“ nach mehr Logik zu suchen, als sie aufweisen, denn: „Die Logik der Praktik besteht darin, nicht weiter als bis zu jenem Punkt logisch zu sein, ab dem die Logik nicht mehr praktisch wäre“ (Bourdieu 1992, S. 102 f.) Deshalb müsse, an die Adresse des Ethnologen gerichtet, die Arbeit des Kodifizierens einhergehen mit einer Theorie der Effekte des Kodifizierens, wenn man verhindern will, dass unbemerkt die Logik der Sachen (der Praktik) durch die Sache der Logik (den Kode) ersetzt wird. Diese etwas gespreizte Darstellung trifft einen wichtigen Punkt: Können aktualisiert sich immer neu in der Besonderheit der jeweiligen Situation. Wissen dagegen bildet die Prozessualität dieses Könnens notwendig auf die Starrheit und Sterilität einer Struktur ab und verändert es in diesem Abbildungsprozess wesentlich. „Eine der Stärken (und zugleich Schwächen) der Formalisierung“, analysiert Bourdieu, „liegt darin, dass sie – wie jede Rationalisierung – einem erspart, sich Neues ausdenken, improvisieren, schöpferisch tätig sein zu müssen“ (Bourdieu 1992, S. 108). Zugespitzt formuliert: Im Versuch, die Handlungsgüte durch Wissen zu kodifizieren, wird Wesentliches von dem zerstört, was diese Güte in ihrem Kern ausmacht.

Heinrich von Kleist schildert einen interessanten Fall in seinen Betrachtungen Über das Marionettentheater. Ein badender Jüngling erkennt beim Blick in den Spiegel Ähnlichkeiten zwischen sich und einer kurz zuvor gesehenen Statue und muss beim Versuch, die Anmut seiner Haltung zu reproduzieren, feststellen, dass er darob seine Anmut verloren hat. Nicht obwohl, gerade weil er reflexiv befestigt, was ohne Reflexion gelungen ist, begibt er sich seines Könnens. Wer einmal versucht hat, eine gelungene Unterrichtsstunde zu protokollieren, das Gesagte und Getane festzuhalten, um es als Besitz wieder und wieder verausgaben zu können, sein Bedürfnis nach Wiederholbarkeit also zu befriedigen versucht hat und daran gescheitert ist, mag sich im Kleistschen Jüngling wiedererkennen. Es ist die Unzulänglichkeit einer Verfügungsgesinnung über sich und die Welt, an der wir hier scheitern, weil wir verkennen, dass es Dinge gibt, die verschwinden, wenn wir die Hand zu direkt nach ihnen ausstrecken und sie zwingen wollen (Elster 1979).

Wiederholt hat man gelingendes Lehrerhandeln mit dem Künstlerischen in Verbindung gebracht. Ein solches verliert sich aber bald, wenn es zu sehr gewollt wird. Häufig, so Frankl, „wird die forcierte Selbstbeobachtung, der Wille zum bewussten ‚Machen‘ dessen, was sich wie von selbst in unbewusster Tiefe vollziehen müsste, zu einem Handikap des schaffenden Künstlers“ (Frankl 1956, S. 101). Das macht, wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, die Doppelung der Ausführung durch ihre Beschreibung zu einem potenziell gefährlichen didaktischen Unternehmen: „Schon die bloße Absicht beispielsweise, spontan und natürlich zu sein, schließt ihre Umsetzung aus, und deshalb können Bücher über die Kunst der Erotik unerotisch, Bücher über Intuition befangen, Benimmbücher taktlos, Bücher über Humor humorlos und Bücher über den ‚Flow‘ unglücklich machen. In dem Ausmaß, in dem etwas wesentlich Nebenprodukt ist, kann derjenige mehr, der in einem gewissen Sinne nicht weiß, was er weiß […]“ (Neuweg 2002, S. 13).

2.3 Reflection-instead-of-action

Herzog hat die Befürchtung geäußert, dass die herkömmliche Lehrerbildungsdidaktik die Erfahrungsbildung womöglich behindert, weil sie Sicherheitsbedürfnisse bedient und die Fähigkeit zum situativen Agieren nicht ausbildet. „Wer“, so Herzog, „in komplexen Situationen überleben will, dem können Normen und Gesetze allein nicht helfen. Es bedarf zusätzlicher Kompetenzen, wie etwa der Fähigkeit, Ambiguität zu ertragen, rasch Urteile zu fällen und situativ zu lernen“ (Herzog 2002, S. 569).

Tatsächlich kann sich die oben beschriebene Verfügungsgesinnung als state zu einem trait verdichten, wenn der Mensch gleichsam habituell versucht, die Lebendigkeit des Könnens und seiner Bewährung in nie gänzlich voraussehbaren Situationen in das Prokrustesbett des sicheren und statischen Wissens zu pressen. Tiefenpsychologisch gedeutet werden das Bedürfnis des Festhaltens, die Sehnsucht nach Dauer, Wiederholbarkeit und Kontrolle übermächtig. Wissen wird dann zum Lernhindernis, denn der solcherart Zwanghafte wird „an Meinungen, Erfahrungen, an Einstellungen, Grundsätzen und Gewohnheiten eisern festhalten und sie nach Möglichkeit zum immer gültigen Prinzip, zur unumstößlichen Regel, zum ‚ewigen Gesetz‘ machen wollen. Neuen Erfahrungen wird man ausweichen, oder, wenn das nicht möglich ist, sie umdeuten und versuchen, sie an das schon Bekannte und Gewusste anzugleichen“ (Riemann [1961] 1999, S. 106). Die Welt des Wissens und des Denkens wird dann zur Fluchtstätte, in die sich zurückzieht, wer das Sicheinlassen auf Unsicherheit scheut, und der Reflektierende droht zum „Trockenkursler des Lebens“ (Riemann [1961] 1999, S. 107) zu werden. Reinhard Sprenger beschreibt das so:

Ich weiß genau, jetzt muss ich handeln. Aber bevor ich handle, lese ich lieber noch mal ein Buch … oder besuche ein Seminar … oder gehe zum Therapeuten. Ein billiger Schlupfwinkel, um Verantwortung zu vermeiden. Die Energie fließt ins Erklären, ins interessante Wissen. Das kluge Anhäufen von Wissenswertem gaukelt Handeln vor. Dadurch glaubt man, passiv bleiben zu können: Verstehen statt Bewegen. Die Folge: ein entschiedenes „Vielleicht!“ […] Wie Hamlet suchen viele im klügelnden Hin-und-Her-Wägen Sicherheit, wo Mut verlangt wird; Entlastung, wo Einmischung nötig wäre; Aufschub, wo Handeln ansteht. Und so drehen sie sich im Kreis. Wer aber zu handeln zögert, weil er Angst hat oder mehr wissen will, als zum nächsten Schritt nötig ist, versäumt die Klärung. (Sprenger 1998, S. 51 f.)

3 Die Alternative zum Reflexionsparadigma: Studieren statt reflektieren

Die Analyse hat deutlich gemacht, dass in keiner Weise gesichert ist, dass sich Lehrerinnen und Lehrer entlang ihrer Erfahrung alleine professionell weiterentwickeln können, und der Anspruch, in der Lehrerbildung Reflexivität grundzulegen, daher berechtigt ist. Es ist aber auch deutlich geworden, dass Erfahrungslernprozesse als implizite Lernprozesse vor hypertrophen und permanenten Reflexionsanforderungen geschützt werden müssen. Die zeitgenössischen Bemühungen um eine wirksame Lehrerbildung antworten auf die damit aufgespannte Herausforderung häufig so, dass sie Praxisphasen in die Erstausbildung integrieren, die dann mit reflexionsstimulierenden Ausbildungselementen verkoppelt werden.

Nun ist unstrittig, dass sich angehende Lehrpersonen in der Vorbereitung auf ihre beruflichen Aufgaben einerseits auf Praxis einlassen und sich andererseits zu ihr in reflexive Distanz setzen müssen. Die Frage ist aber, ob das gleichzeitig geschehen kann. Nirgendwo kann man gegenwärtig anschaulicher studieren, was geschieht, wenn Distanz und Einlassung vergleichzeitigt werden, als in der Praxis der „Praxissemester“ in Deutschland (vgl. dazu Gröschner und Klaß 2020; Rheinländer und Scholl 2020; Ulrich und Gröschner 2019), wo Studierende zwischen den Anforderungen der Berufswahlüberprüfung, der Unterrichtsplanung und -durchführung, dem Umgang mit Unterrichtsstörungen, der Erschütterung ihrer idealistischen Vorstellungen von Schule, Schüler und Unterricht, der Anpassung an die ungeschriebenen Regeln der schulischen Praxisgemeinschaft, den wirklichen und von ihnen selbst empfundenen, aber oft schamhaft verschwiegenen Reflexionsanlässen, der universitär veranlassten „Reflexion“ und dem „forschenden Lernen“ förmlich aufgerieben zu werden drohen.

Wer Praxisbezüge in die erste Phase einlädt und um sie herum Reflexionsimpulse gruppiert, über die sich das Studium dann als solches behaupten können soll, läuft Gefahr, die Idee des Studiums und die Idee des Erfahrungslernens gleichzeitig zu verfehlen. Gerade die Erfindung des „Forschenden Lernens“ ist ein Musterbeispiel für die Bearbeitung des Theorie-Praxis-Problems durch das Erwecken des Scheines der Praxisbedeutsamkeit (vgl. Wernet 2016), dessen Preis nicht nur in der Nichteinlösung der berufsqualifizierenden Ansprüche, sondern vor allem in der wissenschaftlichen Entwertung des Studiums besteht – im schlimmsten Fall wird nämlich weder gelernt noch geforscht und das Bild von der Zweitklassigkeit des Lehramtsstudiums befestigt. „Wer“, so fragt Wernet mit einigem Recht, „käme als Adressat bzw. Akteur des ‚forschenden Lernens‘ noch in Frage außer der Lehramtsstudierende?“ (Wernet 2016, S. 311).

Auch an der „reflexiven Lehrerbildung“, so könnte man sagen, fällt eine Verfügungsgesinnung auf: Sie will Reflexivität „herstellen“ und sehr direkt ansteuern. Vielleicht aber würde eine Reflexivität, die die spätere Berufsbiographie nachhaltig durchwirkt, weitaus effektiver indirekt angesteuert – durch das, was man Studium im engeren Sinne des Wortes nennt. Die Universität würde sich dann nicht an der Praxis der Schulpraxis orientieren, sondern an einer Praxis, die sie nicht simulieren muss, weil sie sie selbst modellhaft verwirklicht. Es ist dies „die Praxis des Neugierigseins und der Suche danach, wie die Dinge wirklich sind oder auch sein könnten, die Praxis des Zweifelns und des Aushaltens von Zweifeln und die Praxis des präzisen Denkens und begründeten Argumentierens“ (Neuweg 2005, S. 218). An ihr entlang können sich jene Fähigkeit und Bereitschaft des Hinausdenkens über den Tellerrand der unmittelbaren Betroffenheit durch Handlungszwänge entwickeln, die wir Reflexivität nennen.