1 Einleitung

Die Entwicklung professioneller Kompetenz von Mathematiklehrkräften beginnt an der Universität mit dem Aufbau eines fundierten Professionswissens (Baumert und Kunter 2011; Kleickmann und Anders 2013). Beim Übergang von der universitären zur praktischen Ausbildungsphase stehen angehende Lehrkräfte dann vor der Anforderung, das erlernte Wissen im Unterricht spontan und unter Zeitdruck anwenden zu müssen (Lindmeier 2011; Wahl 1991). Trotz zunehmender Praxisanteile im Lehramtsstudium wird das an der Universität erworbene Wissen von den angehenden Lehrkräften oft als zu theoretisch und nur wenig hilfreich bei der Bewältigung der unterrichtlichen Anforderungen empfunden (Bromme und Tillema 1995; Stender et al. 2015). Dieses Theorie-Praxis-Problem führt unter anderem zu einer hohen Belastung angehender Lehrkräfte beim Berufseinstieg (Klusmann et al. 2012; König et al. 2018).

Aktuelle Modelle zur professionellen Kompetenz von Lehrkräften fokussieren zunehmend nicht nur professionelles Wissen als Kompetenzkomponente, sondern auch die Anwendung des Professionswissens in Handlungssituationen (Baumert und Kunter 2011; Kaiser und König 2019; Knievel et al. 2015). Jedoch lässt sich aus diesen Modellen bislang kaum ableiten, welche Lernprozesse den Lehrkräften die Anwendung von Professionswissen ermöglicht. So wird unter Einbezug der Kognitionsforschung teilweise zwischen deklarativem Wissen (Faktenwissen) und prozeduralem Wissen (Handlungswissen), unterschieden (z. B. Baumert und Kunter 2011; vgl. Anderson 1983), allerdings bleibt zumeist unklar, wie angehende Lehrkräfte deklaratives Professionswissen in prozedurales Professionswissen umwandeln können.

Als zentrale Tätigkeit, die aufbauend auf dem an der Universität erworbenen deklarativen Wissen die Generierung von prozeduralem Wissen ermöglicht, wurde bei Lehrkräften die Unterrichtsreflexion (d. h. die Vorbereitung, Analyse sowie Nachbereitung von Unterricht) vermutet (Borko et al. 1990; Stender et al. 2015). Demnach dient die Unterrichtsreflexion nicht nur direkt dazu, Fähigkeiten zur Strukturierung von anstehenden Unterrichtsstunden oder zur Auswahl und Aufbereitung von Unterrichtsmaterialien zu erwerben, sondern sie soll indirekt auch dazu beitragen, dass das an der Universität erlernte deklarative Wissen zur Generierung von Handlungsoptionen in Unterrichtssituationen genutzt werden kann (vgl. Meyer 2007; Peterson et al. 1978). Empirische Hinweise, inwieweit eine Befähigung zur Unterrichtsreflexion zwischen deklarativem Wissen und der Kompetenz zum Handeln im Unterricht vermittelt, gibt es jedoch kaum. Insbesondere fehlt es an quantitativen Studien, die das praktische fachspezifische Handeln von angehenden Lehrkräften in unterrichtlichen Situationen einbeziehen (König und Rothland 2018).

In der vorliegenden Studie wird mithilfe videobasierter Untersuchungsmethoden die professionelle Kompetenz von Mathematiklehrkräften bezüglich der Unterrichtsreflexion sowie bezüglich des Handelns im Unterricht situationsnah erfasst. Es wird sowohl bei Lehramtsstudierenden, als auch bei Lehrkräften im Schuldienst untersucht, wie das deklarative mathematische Professionswissen mit der Kompetenz zur Unterrichtsreflexion sowie mit der Kompetenz zum Handeln im Unterricht zusammenhängt. Insbesondere wird geprüft, inwieweit der Zusammenhang von deklarativem mathematischem Professionswissen und der Kompetenz zum Handeln in Unterrichtssituationen von der Kompetenz zur Unterrichtsreflexion mediiert wird.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Modellierung professioneller Kompetenz von Mathematiklehrkräften

Die Modellierung und Operationalisierung professioneller Kompetenz von Lehrkräften ist eine zentrale Voraussetzung für die Erforschung und Verbesserung der Lehramtsausbildung. Frühe Modellierungen legten hierbei einen Schwerpunkt auf das professionelle Wissen von Lehrkräften (z. B. Hill et al. 2004), wobei mathematisches Professionswissen oft in Form des mathematischen Fachwissens (content knowledge, CK) und fachdidaktischen Wissens (pedagogical content knowledge, PCK) modelliert wurde (Shulman 1986). Diese häufig mit Paper-Pencil-Tests erfassten Konstrukte beschränken sich meistens auf deklaratives Wissen, wie es an der Universität erworben wird (Baer et al. 2011; Depaepe et al. 2013; Krauss et al. 2017), und eignen sich daher insbesondere zur Abbildung des Ausbildungsverlaufs an der Universität (Blömeke et al. 2014; Buchholtz und Kaiser 2013; Hoth et al. 2019). In einigen Studien konnte das deklarative Professionswissen von Lehrkräften als Prädiktor für die Unterrichtsqualität und den Lernerfolg von Lernenden nachgewiesen werden (Baumert et al. 2010; Hill et al. 2005).

Trotz dieser Befunde und des offensichtlichen Anwendungsnutzens besteht weitestgehend Konsens, dass eine standardisierte Erfassung des Professionswissens nur begrenzte Hinweise darauf liefern kann, wie das Wissen zur Bewältigung von praxisrelevanten Anforderungen genutzt wird (vgl. Besser und Krauss 2009; Charalambous 2020; Kersting 2008; Knievel et al. 2015). Alternative Ansätze fokussieren die Fähigkeiten von Lehrkräften, professionelle Anforderungen bewältigen zu können (z. B. Blömeke et al. 2014; Charalambous 2020; Lindmeier 2011). Eine standardisierte Kompetenzerfassung wird dabei durch computergestützte Formate wie Videovignetten (Bartels et al. 2019; Kersting 2008) oder Unterrichtssimulationen realisiert (z. B. Artelt und Gräsel 2009). Dies ermöglichte beispielsweise Blömeke et al. (2014) die Untersuchung der Rolle kognitiver Prozesse (Wahrnehmung, Interpretation, Entscheidungsfindung), die für das Handeln von Mathematiklehrkräften in unterrichtlichen Situationen als wichtig erachtet werden.

Um sowohl das in der Universität erworbene Professionswissen als auch die Handlungsfelder der Unterrichtsreflexion und des Handelns im Unterricht einer differenzierten Analyse zu unterziehen, wird der hier berichteten Studie das Modell professioneller Kompetenz von Lindmeier (2011) zugrunde gelegt. Darin wird zwischen drei Komponenten unterschieden (Knievel et al. 2015; Lindmeier 2011; s. Abb. 1):

  1. 1.

    Mathematisches Professionswissen: Dies bezeichnet fachspezifisches Wissen, das einer Lehrkraft in dekontextualisierter Form (d. h. nicht an einen bestimmten Kontext wie die Unterrichtsvorbereitung oder das Handeln in einer Unterrichtssituation gebunden) zur Verfügung steht. Es enthält somit insbesondere das relevante CK sowie das PCK (z. B. Wissen über schülergerechte Repräsentationen, fachbezogene Schülerkognitionen und das kognitive Potential von Aufgaben; vgl. Krauss et al. 2011).

  2. 2.

    Reflexive Kompetenz (Reflective Competence, RC): Diese beinhaltet alle kognitiven Fähigkeiten und motivational-affektiven Merkmale, die eine Lehrkraft zur Bewältigung der Anforderungen der Unterrichtsvorbereitung und -nachbereitung befähigt. RC wird benötigt, um beispielsweise eine konkrete Unterrichtsstunde zu planen, vergangenen Unterricht zu analysieren oder für eine gegebene Situation geeignete Materialien auszuwählen.

  3. 3.

    Aktionsbezogene Kompetenz (Action-Related Competence, AC): Diese beinhaltet alle kognitiven Fähigkeiten und motivational-affektiven Merkmale, die eine Lehrkraft zur Bewältigung der konkreten Anforderungen des Unterrichtens unter Zeitdruck befähigt. AC wird benötigt, um beispielsweise während einer konkreten Unterrichtssituation eine Fehlvorstellung in einer Schüleraussage zu identifizieren, geeignete Rückmeldung auf eine Schülerfrage zu geben oder spontan alternative Erklärungen zu präsentieren.

Abb. 1
figure 1

Vereinfachte Darstellung fachspezifischer Kognition und Performanz bei Mathematiklehrkräften (nach Lindmeier 2011)

Charakteristische Anforderungen des Unterrichtens sind im Gegensatz zu den Anforderungen der Reflexion vor oder nach dem Unterricht vor allem durch Zeitdruck gekennzeichnet: Im Unterricht muss schnell und spontan entschieden und gehandelt werden (z. B. Wahl 1991). Die Bewältigung dieser beiden Anforderungstypen bedarf laut etablierter Kognitionstheorien unterschiedlicher kognitiver Prozesse („Dual Processing Theory“, Evans et al. 2009), was die konzeptuelle Trennung von AC und RC stützt (Lindmeier et al. 2020).

Operationalisierungen für AC berücksichtigen dies mit Hilfe kurzer Videovignetten, um die typischen Anforderungsmerkmale des Unterrichtens wie Spontanität (durch Einsatz von Zeitbegrenzung), Komplexität (durch authentische Videosituationen) und Unmittelbarkeit (durch direkte Sprachantwort per Mikrofon) möglichst valide abzubilden (Jeschke et al. 2019a; Lindmeier 2011). Operationalisierungen von RC nutzen neben Videovignetten (z. B. um Anforderungen der Unterrichtsanalyse abzubilden) auch Textvignetten (z. B. um Anforderungen der Materialauswahl abzubilden), die gemäß der Konzeptualisierung ohne Beschränkung der Ressource Zeit bearbeitet werden können.

Empirische Ergebnisse weisen auf die Trennbarkeit von AC und RC gegenüber deklarativem Professionswissen hin (Jeschke et al. 2019a; Knievel et al. 2015) sowie auf die Trennbarkeit von AC und RC untereinander (Knievel et al. 2015; Lindmeier et al. 2020). Mathematisches Professionswissen, RC und AC sind somit (auch empirisch) unterscheidbare Konstrukte, die aber keinesfalls als unabhängig voneinander zu verstehen sind (vgl. Abb. 1). Per Definition enthalten AC und RC alle kognitiven und affektiv-motivationalen Ressourcen, die zur Bewältigung der jeweiligen Anforderungsfelder (Fachunterricht reflektieren bzw. im Fachunterricht handeln) beitragen. Sie umfassen somit insbesondere das erforderliche mathematische Professionswissen, aber darüber hinaus auch Aspekte wie Motivation, Selbstregulation und Beliefs, die zur zielgerichteten Anwendung des Wissens notwendig sind (vgl. Abb. 1; Baumert und Kunter 2011; Blömeke et al. 2015a).

2.2 Vom Professionswissen zum kompetenten Handeln

Das an der Universität erlernte Wissen gilt als notwendige Voraussetzung für kompetentes Handeln im Unterricht (Baumert und Kunter 2011; Bromme 1997; Stender et al. 2015). Eine mögliche Sichtweise auf individuelles Wissen und dessen Verfügbarkeit für Anwendungssituationen liefern die kognitionspsychologische ACT-R-Theorie („Adaptive Control of Thought-Rational“; Anderson 1983; Anderson et al. 2018).

Im zugrundeliegenden Kognitionsmodell enthält das Gedächtnis ein hierarchisch geordnetes deklaratives Wissen. Deklaratives Wissen ist dabei Faktenwissen, das ohne Ausführung einer Handlung erlernt werden kann (Anderson 1983). Nach der ACT-R-Theorie kann deklaratives Wissen in Anforderungssituationen jedoch nicht direkt in Handlungen überführt werden, sondern muss zunächst eine Prozeduralisierung durchlaufen. Genauer gesagt müssen Produktionen (engl. „productions“) erzeugt werden, die auf dem deklarativen Wissen operieren und dieses mit Handlungen verbinden (Anderson 1983, S. 215). Produktionen sind spezifische Bedingungs-Aktions-Paare, die deklaratives Wissen unter Beachtung von Randbedingungen (u. a. Ziele, Vorwissen) mit Aktionen verbinden (vgl. Ohst et al. 2019): Wenn „Bedingung A“ erfüllt ist (z. B. wenn ein Ereignis mit bestimmten Merkmalen wahrgenommen wurde), so führe „Aktion B“ aus. Je elaborierter eine Produktion ist, desto komplexere Handlungen können bei geringerer kognitiver Auslastung ausgeführt werden.

Betrachtet man beispielsweise den Abbiegevorgang beim Autofahren, so entspricht deklaratives Wissen einem Wissen darüber, dass beim Abbiegen ein Blinker zu setzen und ein Schulterblick zu tätigen ist. Für die korrekte Ausführung des Abbiegevorgangs müssen jedoch Produktionen vorliegen, die das Auftreten bestimmter Bedingungen (z. B. Annäherung an eine Kreuzung) mit unter anderem dem Setzen des Blinkers und dem Schulterblick sowie dem Schalten der Gänge und dem Lenken in einer bestimmten Reihenfolge verknüpft (Anderson 1983; Ohst et al. 2019). Ist die Person im Abbiegevorgang ungeübt, ist dies für sie eine Kette von einzelnen einfachen Produktionen. Mit zunehmender Übung kann sich die Anzahl der für das Abbiegen nötigen Produktionen reduzieren, wobei die einzelnen Produktionen dadurch jedoch an Komplexität gewinnen (z. B. könnten Schulterblick, schalten und lenken in einer Produktion zusammengefasst werden).

Produktionen werden nach der ACT-R-Theorie in drei Schritten auf Basis von deklarativem Wissen entwickelt, die Anderson (1983) als Interpretation, Kompilierung und FeinabstimmungFootnote 1 bezeichnet. Wird eine Person einer Anforderungssituation ausgesetzt, zu der sie noch keine Produktionen gebildet hat, wird das deklarative Wissen im ersten Schritt (Interpretation) anhand von allgemeinen oder domänenspezifischen Problemlöseproduktionen im Anforderungskontext interpretiert. Sofern vorhanden, können auch Produktionen aus analogen oder ähnlichen Anforderungskontexten herangezogen werden. Damit diese interpretierenden Produktionen (sowie ggf. Produktionen aus anderen Kontexten) zur Anforderungsbewältigung ausgeführt werden können, werden sie im nächsten Schritt (Kompilierung) sortiert und zu komplexeren Produktionen zusammengefasstFootnote 2. Nach Anderson (1983) sind die kompilierten Produktionen zunächst anforderungsspezifisch und lassen sich nur stark eingeschränkt auf ähnliche Anforderungssituationen übertragen. Erst in der letzten Phase (Feinabstimmung) werden die kompilierten Produktionen durch wiederholte Anwendung modifiziert und optimiert. Dadurch können sie einerseits effizienter ausgeführt und andererseits für die Anwendung in analogen oder ähnlichen Handlungssituationen bereitgestellt werden (vgl. Schritt Interpretation). Erweist sich eine Produktion als ineffizient (z. B. weil die gegebene Anforderung nicht hinreichend bewältigt werden konnte), kann sie in diesem Schritt auch teilweise oder vollständig verworfen werden. Insbesondere die Schritte Interpretation und Kompilierung werden von Anderson (1983, 2013) als zeitintensive Prozesse beschrieben, die in der Regel nicht unter Zeitdruck erfolgen können.

Überträgt man diese Annahmen aus der ACT-R-Theorie auf die Lehramtsausbildung, so kann angenommen werden, dass auch angehende Lehrkräfte ihr deklaratives Professionswissen zuerst in Produktionen umwandeln müssen. Anschließend können die Produktionen als Teil von aktionsbezogener Kompetenz (AC) für das Handeln im Unterricht wirksam werden.

2.3 Reflexive Kompetenz vermittelt bei der Wissensumwandlung

Die zuvor genannten Überlegungen bildeten den Ausgangspunkt des Modells von Stender et al. (2015), in dem die Umwandlung von deklarativem Professionswissen in Produktionen für das Unterrichten hauptsächlich während der Unterrichtsreflexion erfolgt. In diesem Modell dient die Unterrichtsvorbereitung nicht nur dazu, äußerlich sichtbare Planungshandlungen (z. B. Zeitplanung, Auswahl von Methoden und Medien) zu vollziehen, sondern auch dazu, zukünftige Unterrichtssituationen und -handlungen zu antizipieren (vgl. Borko et al. 1990; Shavelson und Stern 1981). So kann eine (angehende) Lehrkraft, die zu einer bestimmten unterrichtlichen Anforderungssituation zwar deklaratives Wissen, aber noch keine Produktionen besitzt, durch Antizipation dieser Situation die Schritte Interpretation und Kompilierung bereits vor der Konfrontation mit der realen Anforderung durchlaufen. Für das darauffolgende Handeln im Klassenraum bedeutet dies, dass der Problemlöseprozess für erwartete Anforderungen bereits begonnen wurde und die erforderlichen Produktionen eher als Handlungsoptionen zur Verfügung stehen (vgl. Bromme 1981; Meyer 2007).

Der letzte Schritt zur Erzeugung von Produktionen (Feinabstimmung) erfolgt während des Unterrichtens (durch Anwendung der Produktionen; vgl. Anderson 1983), kann aber auch teilweise während der Unterrichtsnachbereitung (durch reflektierte Evaluierung der eigenen Unterrichtshandlungen) ablaufen. Vor allem können Lehrkräfte im Rahmen der Unterrichtsnachbereitung nicht erwartete Anforderungssituationen vor dem Hintergrund ihres eigenen deklarativen Wissens reflektieren, sodass auch hierzu Produktionen erzeugt werden.

Ähnliche Annahmen wurden bereits früher in Arbeiten zum „reflective teaching“ (z. B. Schön 1983) formuliert. Weitere theoretische Argumente und qualitativ-empirische Belege lieferten beispielsweise Artzt und Armour-Thomas (1998). Sie zeigten, dass eine Kompetenz zur Unterrichtsreflexion es unerfahrenen Mathematiklehrkräften ermöglichen kann, im Unterricht ähnlich wie erfahrene Lehrkräfte zu denken und zu reagieren.

Aus diesen theoretischen Annahmen folgt für die Komponenten professioneller Kompetenz nach Lindmeier (2011), dass das für die Unterrichtsreflexion verwendete deklarative Professionswissen Bestandteil der reflexiven Kompetenz (RC) ist, da es sich auf ihr Handeln bei der Unterrichtsreflexion auswirkt (vgl. Definition von RC). Die im Rahmen der Unterrichtsvorbereitung und -nachbereitung für das Unterrichten erzeugten Produktionen sind aus demselben Grund ebenfalls Bestandteil von RC, können sich aber auch auf das Handeln im Unterricht auswirken und somit Teil der aktionsbezogenen Kompetenz, AC, sein. Somit nimmt RC beim Erwerb von AC aus dem deklarativen Professionswissen eine Mediatorrolle ein. Diese vermittelnde Rolle könnte insbesondere für angehende Lehrkräfte (z. B. Lehramtsstudierende), die durch die universitäre Ausbildung zwar bereits deklaratives Professionswissen, aber noch wenig AC erworben haben, bedeutsam sein.

Aus der ACT-R-Theorie kann jedoch auch abgeleitet werden, dass sich die vermittelnde Rolle von RC bei Lehrkräften mit zunehmender Unterrichtserfahrung abschwächt. So durchlaufen Lehrkräfte den letzten Schritt zur Erzeugung von Produktionen – die Feinabstimmung – durch die Anwendung der Produktionen während des Unterrichtens. Die anfänglich durch RC erzeugten Produktionen können daher mit zunehmender Unterrichtspraxis abgewandelt werden, sodass Handlungsoptionen insbesondere optimiert werden können (z. B. kann eine Erklärstrategie leicht verändert werden, weil sie nicht den gewünschten Effekt hatte). Dies entspricht einem Erwerbsprozess für AC, bei dem kein (neues) deklaratives Wissen herangezogen werden muss, sodass hier der Unterrichtreflexion auch nicht die oben beschriebene vermittelnde Rolle zukommt. Solche Erwerbsprozesse für professionelle Kompetenz von Lehrkräften wurden beispielsweise in Form des „Erfahrungslernens“ bereits in der Literatur diskutiert (z. B. Baer et al. 2011). Da jedoch zumindest ein Teil der in AC enthaltenen Produktionen aus dem deklarativen Professionswissen hervorgegangen sein sollten und sich mit den Produktionen der Unterrichtsreflexion überschneiden, sollte es auch bei Lehrkräften Zusammenhänge zwischen dem deklarativen mathematischen Professionswissen, RC und AC geben.

2.4 Forschungsfrage und Hypothesen

Zusammenfassend kann angenommen werden, dass angehende Mathematiklehrkräfte während der universitären Ausbildungsphase mathematisches Professionswissen (CK und PCK) in deklarativer Form erwerben. Damit dieses deklarative Professionswissen für das Handeln im Unterricht als Teil der aktionsbezogenen Kompetenz (AC) wirksam werden kann, muss es prozeduralisiert (d. h. in Produktionen umgewandelt) werden. Auf Basis des Modells von Stender et al. (2015) wird angenommen, dass eine Prozeduralisierung des Professionswissens bei Lehrkräften vor allem während der Unterrichtsreflexion (Unterrichtsvorbereitung und -nachbereitung) stattfindet. Zurzeit gibt es für diese theoretischen Annahmen und insbesondere für die angenommene vermittelnde Rolle der reflexiven Kompetenz (RC), die sich auf Unterrichtsvorbereitung und -nachbereitung bezieht, jedoch kaum quantitative empirische Hinweise.

Vor diesem Hintergrund wird in der vorliegenden Studie die folgende Forschungsfrage untersucht:

Welche Zusammenhänge gibt es zwischen dem deklarativen mathematischen Professionswissen (CK und PCK), der reflexiven Kompetenz (RC) und aktionsbezogenen Kompetenz (AC) bei Mathematik-Lehramtsstudierenden und Mathematiklehrkräften?

In diesem Zusammenhang kann vermutet werden, dass deklaratives mathematisches Professionswissen sowohl für die Unterrichtsreflexion als auch (mittels Prozeduralisierung) für das Handeln im Unterricht relevant ist. Dies sollte sich somit in Zusammenhängen zwischen deklarativem mathematischem Professionswissen und RC beziehungsweise AC niederschlagen.

Hypothese 1:

RC und AC korrelieren bei Lehramtsstudierenden und Lehrkräften jeweils signifikant mit deklarativem CK und PCK in mindestens schwacher HöheFootnote 3 (Korrelation r>0,10).

Weiterhin wird während der Unterrichtsreflexion das Handeln im Unterricht vor- oder nachbereitet. Es sollte folglich sowohl bei Lehramtsstudierenden als auch bei Lehrkräften Zusammenhänge zwischen RC und AC geben. Es kann vermutet werden, dass diese Zusammenhänge stärker sind als die in Hypothese 1, da durch die Unterrichtsreflexion Produktionen für das Handeln im Unterricht bereitgestellt werden (nach dem Modell von Stender et al. 2015).

Hypothese 2:

RC und AC korrelieren bei Lehramtsstudierenden und Lehrkräften mindestens moderat miteinander (r>0,30).

Auf Basis des dargestellten theoretischen Hintergrundes wird angenommen, dass sowohl Lehramtsstudierende als auch Mathematiklehrkräfte einen substanziellen Teil ihrer für das Unterrichten benötigten AC mittels Unterrichtsreflexion aus dem deklarativen mathematischen Professionswissen erzeugt haben, weswegen RC eine vermittelnde Rolle zukommt.

Hypothese 3a:

Der Zusammenhang von deklarativem mathematischem Professionswissen zu AC wird mindestens partiell durch RC mediiert.

Da bei Lehramtsstudierenden kaum alternative Erwerbsmöglichkeiten für AC vorliegen, wird angenommen, dass sie AC exklusiv aus dem deklarativen mathematischen Professionswissen, vermittelt über die Unterrichtsreflexion (bzw. über RC), erwerben. Es wird daher vermutet, dass der Zusammenhang zwischen dem mathematischen Professionswissen und AC bei Lehramtsstudierenden vollständig durch RC vermittelt wird.

Hypothese 3b:

Für Lehramtsstudierende wird der Zusammenhang von deklarativem CK und PCK zu AC vollständig durch RC mediiert.

Auch Lehrkräfte sollten einen substanziellen Anteil der AC über die Unterrichtsreflexion (bzw. über RC) aus dem deklarativen mathematischen Professionswissen erworben haben. Jedoch wird angenommen, dass sich durch zunehmende Unterrichtserfahrung das prozeduralisierte Wissen für das Unterrichten abwandeln kann (z. B. durch Erfahrungslernen). Die Lehrkräfte erwerben AC somit möglicherweise auch durch alternative Erwerbsprozesse und nicht allein aus dem deklarativen Professionswissen vermittelt über RC. Solche alternativen Erwerbsprozesse können sich bereits im Vorbereitungsdienst zeigen, sobald Mathematiklehrkräfte eigenständig unterrichten. Es wird daher vermutet, dass der Zusammenhang zwischen dem deklarativen mathematischen Professionswissen und AC bei Lehrkräften nur mehr teilweise durch RC vermittelt wird.

Hypothese 3c:

Für Lehrkräfte wird der Zusammenhang von deklarativem CK und PCK zu AC partiell durch RC mediiert.

3 Methode

3.1 Anlage und Stichprobe

Zur Untersuchung der Hypothesen wurde ein Datensatz zum deklarativen mathematischen Professionswissen sowie zu RC und AC von insgesamt N = 251 angehenden und praktizierenden Mathematiklehrkräften herangezogen. Die Gesamtstichprobe umfasst n = 116 Mathematik-Lehramtsstudierende, n = 85 Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst und n = 50 ausgebildete Lehrkräfte (Details s. Tab. 1). Die Daten wurden im Rahmen des ELMaWi-ProjektsFootnote 4 zwischen 2016 und 2018 an Universitäten, Studienseminaren und Schulen in Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Baden-Württemberg erhoben. Eine (laufende oder abgeschlossene) Lehramtsausbildung für die Sekundarstufen I und II war Voraussetzung für die Teilnahme an der Studie. Da fachdidaktische Lehrveranstaltungen zum Teil erst in höheren Semestern angelegt sind, wurden nur Lehramtsstudierende in der zweiten Hälfte der Gesamtregelstudienzeit (d. h. ab dem letzten Jahr des Bachelorstudiums) einbezogen. Die Teilnahme war freiwillig und es wurde eine finanzielle Aufwandsentschädigung gezahlt. Die Testungen fanden jeweils vor Ort in Gruppen von maximal 20 Personen und unter Aufsicht von geschultem Testpersonal statt.

Zur Prüfung der Hypothesen 3b und 3c (RC als Mediator bei Lehramtsstudierenden bzw. Lehrkräften) wurden zwei geeignete Substichproben festgelegt, die sich vor allem in ihrer Erfahrung im selbst durchgeführten Unterricht unterschieden. Für die Mathematik-Lehramtsstudierenden (n = 116) wurde angenommen, dass sie kaum mehr als sporadische Unterrichtserfahrung (z. B. durch Praktika) gesammelt haben und der Erwerb von AC daher eng an das deklarative Professionswissen und RC gekoppelt ist. Die Substichprobe der Lehrkräfte mit eigener Unterrichtserfahrung setzt sich aus den ausgebildeten Lehrkräften sowie einem Teil der Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst zusammen. Da in einigen Bundesländern im ersten Schulhalbjahr des Vorbereitungsdienstes hauptsächlich Hospitationsphasen stattfinden, ist es für den Zweck dieser Studie (Kontrastierung zwischen Lehrkräften mit eigener Unterrichtserfahrung und Studierenden) nicht sinnvoll, Lehrkräfte zu Beginn des Vorbereitungsdiensts in diese Substichprobe aufzunehmen. Deswegen wurden hier nur die Teilnehmenden berücksichtigt, die sich mindestens seit 5 Monaten (ca. einem Schulhalbjahr) im Vorbereitungsdienst befinden. Aus unserer Stichprobe erfüllten n = 60 Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst dieses Kriterium (mittlere Dienstzeit 11,6 Monate, SD = 3,57; mittleres Alter 30,5 Jahre, SD = 4,75; 46,7 % weiblich; mittlere Abiturnote 2,30, SD = 0,54). Zusammen mit den ausgebildeten Lehrkräften bilden sie die Substichprobe von n = 110 Lehrkräften mit eigener Unterrichtserfahrung.

Tab. 1 Stichprobenkennwerte: Arithmetisches Mittel, Standardabweichung (runde Klammer) und Anzahl fehlender Angaben (eckige Klammer)

3.2 Instrumente

Als Indikatoren für professionelle Kompetenz wurden in dieser Stichprobe standardisierte Instrumente für deklaratives mathematisches Professionswissen (papierbasiert) sowie für RC und AC (computerbasiert) eingesetzt. Die Bearbeitungszeit betrug für jedes der drei Instrumente ca. 30 min.

Die Skala zum Professionswissen (24 Items) setzt sich dabei aus einer Kurzskala zum schulbezogenen Fachwissen (school-related content knowledge, SRCK)Footnote 5 und einer Kurzskala zum fachdidaktischen Wissen (pedagogical content knowledge, PCK) zusammen. Die Subskala zum SRCK enthält 11 Items zur Sekundarstufen-Arithmetik und -Algebra (5), -Analysis (4), -Stochastik (1) und -Geometrie (1). Items zu SRCK erfordern typischerweise nicht nur Wissen über die Schulmathematik, sondern auch ein Wissen über dessen Zusammenhänge zur akademischen Mathematik (für eine Beschreibung des Konstrukts und der Items s. Dreher et al. 2018; Heinze et al. 2016). Die Subskala zum PCK enthält 13 Items zum Wissen über fachbezogene Schülerkognitionen (z. B. Fehlvorstellungen), kognitives Potential von Aufgaben und das Erklären und Repräsentieren mathematischer Inhalte zu Inhaltsbereichen der Sekundarstufen-Arithmetik und -Algebra (8), -Analysis (3), -Stochastik (1) und -Geometrie (1) (s. Jeschke et al. 2019b). Beide Subskalen enthalten Items mit offenem (SRCK: 5, PCK: 3) und geschlossenem Aufgabenformat (single-choice oder multiple-choice; SRCK: 6, PCK: 10). Beispielitems für beide Subskalen sind in Abb. 2 dargestellt.

Zur Erfassung von RC wurde eine bereits bestehende und erprobte Skala von Lindmeier (2011) weiterentwickelt. Sie umfasst 9 offene Items zu den Inhaltsgebieten Arithmetik und Algebra (6) sowie Analysis (3). Die Items zielen auf die Anforderungsgebiete Materialauswahl (4 Items; z. B. mögliche Probleme bei unterschiedlichen Darstellungen oder Aufgaben), Reflexion von Schülerbearbeitungen (2 Items) sowie Analyse und Planung von Unterricht (3 Items; s. Abb. 3). Für die Facetten Materialauswahl und Reflexion von Schülerbearbeitungen werden Textvignetten verwendet (schriftliche Antwort). Items der Facette Analyse und Planung von Unterricht enthalten jeweils einen Videoclip (1–2 min; z. B. Ende einer Unterrichtsstunde), für den jeweils der darauffolgende Unterricht geplant werden soll. Um eine ausführliche Beantwortung dieser Items zu erleichtern, wurde die verbale Antwort der Teilnehmenden aufgezeichnet.

Zur Erfassung von AC wurde eine erprobte Skala aus 9 offenen Items zu den Inhaltsgebieten Arithmetik und Algebra (6) sowie Analysis (3) eingesetzt (Jeschke et al. 2019a; Lindmeier 2011; Lindmeier et al. 2013). Die Items beinhalten jeweils einen Videoclip mit einer authentischen, für den Mathematikunterricht der Sekundarstufe typischen Anforderungssituation (ca. 1–2 min Länge). Die Items erfordern die Formulierung von Rückmeldung in folgenden Fällen: wenn Lernende mathematikbezogene Schwierigkeiten bei der Bearbeitung von Aufgaben haben, die einen inhaltlichen Hinweis der Lehrkraft erfordern (4 Items; s. Abb. 4), wenn eine Äußerung der Lehrkraft zu unterschiedlichen, korrekten Schülerlösungen gefordert ist (2 Items) und wenn Lernende ein Verständnisproblem zeigen, das eine mathematikbezogene Erklärung durch die Lehrkraft erfordert (3 Items; z. B. inhaltliche Antwort auf eine Schülerfrage oder eine falsch vorgerechnete Aufgabe an der Tafel). Teilnehmende können das Video nur einmal abspielen, haben jeweils nur begrenzt Zeit für ihre Antwort (Zeitdruck) und sind aufgefordert, die Lernenden in der Situation direkt zu adressieren (Sprachaufnahme), als wären sie Teil der Situation.

Alle Aufgaben für SRCK, PCK, RC und AC wurden jeweils zu Scores von 0, 1 oder 2 kodiert. Die Auswertung der offenen Aufgaben erfolgte durch jeweils zwei geschulte Personen pro Skala anhand eines detaillierten Kodiermanuals mit spezifischen Bewertungskriterien für jedes Item. Bei den Tests für deklaratives mathematisches Professionswissen spiegeln die Scores jeweils eine vollständig richtige Antwort (Score 2), in Teilen richtige Antwort (Score 1) sowie falsche oder ausgelassene Antwort (Score 0) wider. Bei den anforderungsbezogenen Tests (RC und AC) wurde ein Score von 2 vergeben, wenn die Antwort sowohl unter fachlichen als auch unter fachdidaktischen Aspekten die Anforderung der Aufgabe angemessen adressiert. Ein Score von 1 wurde für Antworten mit geringfügigen Mängeln (z. B. bei AC: inhaltliche Klarheit oder Adressatengerechtheit der Antwort beeinträchtigt) vergeben. Durch den Einbezug dieses partial-credit-Scores können auch suboptimale Angaben (z. B. durch weniger erfahrene Lehramtsstudierende) berücksichtigt werden. Ein Score von 0 wurde vergeben, wenn die Anforderung nicht oder mit einer fachlich falschen Antwort adressiert wurde.Footnote 6

Eine Analyse der Interrater-Reliabilität (Cohens Kappa) auf Basis von mindestens 20 % der offenen Antworten (zufällig gezogen) ergab akzeptable Übereinstimmungen (SRCK und PCK: κ = 0,70–1,0, M = 0,86, SE = 0,03; RC: κ = 0,80–1,0, M = 0,92, SE = 0,03; AC: κ = 0,77–0,90, M = 0,84, SE = 0,02). Die drei Skalen zeigten in der verwendeten Stichprobe eine interne Konsistenz von (Cronbachs) α = 0,70 für das deklarative mathematische Professionswissen (Subskalen: αSRCK = 0,60; αPCK = 0,60), α = 0,68 für RC und α = 0,60 für AC. Die geringe Reliabilität von AC sowie der Subskalen SRCK und PCK ist angesichts der geringen Skalenlänge für den Zweck der vorliegenden Studie grenzwertig, aber noch akzeptabel. Ähnlich niedrige interne Konsistenzen wurden bereits früher für ähnliche Konstrukte berichtet (Blömeke et al. 2015b; Hill et al. 2004). Um mögliche Scheinkorrelationen durch den Effekt kognitiver Fähigkeiten zu kontrollieren, wurde zusätzlich zu den oben genannten Skalen eine Kurzskala zur figuralen Intelligenz eingesetzt (I-S-T-2000 R; 20 single-choice Items; α = 0,79; Liepmann et al. 2007).

Abb. 2
figure 2

Beispielitems für deklaratives mathematisches Professionswissen. Oben ein SRCK-Item (multiple-choice) zur Analysis (Heinze et al. 2016, S. 334). Unten ein PCK-Item (offen) inklusive Beispielantwort und Lösungskriterien zum Erklärungswissen im Gebiet der Bruchrechnung (Heinze et al. 2016, S. 337)

Abb. 3
figure 3

Beispielitem für RC. Die Teilnehmenden sind dazu aufgefordert, zunächst die Kontextbeschreibung zu lesen (links), dann das Video anzuschauen (rechts) und schließlich (ohne Zeitdruck) verbal zu antworten (Mikrofonaufnahme). (Abbildung für die Publikation angepasst.)

Abb. 4
figure 4

Beispielitem für AC zum Thema Bruchrechnung. Teilnehmende lesen zunächst die Kontextbeschreibung (links), spielen dann die Videosituation ab (geht genau einmal bei AC) und antworten anschließend unter Zeitdruck mit ihren eigenen Worten auf die Situation. (Abbildung für die Publikation angepasst.)

3.3 Datenanalyse

Als Indikator für das deklarative mathematische Professionswissen (SRCK, PCK) sowie für RC, AC und die kognitiven Fähigkeiten wurde jeweils der Summenscore über die Items der Instrumente gebildet. Zur Prüfung der Mediationshypothesen wurden sechs Mediationsmodelle (Pfadmodelle) geschätzt. In jedem dieser Modelle wurden die Standardfehler mit dem Bootstrapping-Verfahren (10.000 Ziehungen) berechnet. Fehlende Skalenwerte (SRCK: 3, PCK: 0; RC: 3; AC: 16; kognitive Fähigkeiten: 0) wurden mit dem Full-Information-Maximum-Likelihood-Verfahren (FIML) geschätzt. Für die Analysen wurde das „lavaan“-Paket (0.6–4; Rosseel 2012) für R (3.6.0) verwendet.

Sämtliche Pfadmodelle wurden jeweils einmal mit und einmal ohne kognitive Fähigkeiten als Prädiktor für AC, RC und deklaratives mathematisches Professionswissen (SRCK und PCK) berechnet, wodurch sich jedoch nur geringfügige Änderungen in den geschätzten Pfadkoeffizienten ergaben (Mittelwert ∆β = 0,01, SD = 0,01). Insbesondere bei den für die Mediationsanalysen relevanten direkten und indirekten Pfaden zwischen deklarativem mathematischem Professionswissen (SRCK bzw. PCK) und AC waren die Unterschiede vernachlässigbar (∆β < 0,03) und führten zu keinen anderen Erkenntnissen. Daher wurden im Rahmen dieser Studie die sparsameren Mediationsmodelle aus mathematischem Professionswissen, RC und AC (ohne Skala zu kognitiven Fähigkeiten) bevorzugt.

4 Ergebnisse

4.1 Hypothesen 1 und 2: Zusammenhänge zwischen mathematischem Professionswissen, RC und AC

Tab. 2 zeigt die bivariaten Pearson-Korrelationen zwischen allen in dieser Studie betrachteten Variablen bezüglich der Gesamtstichprobe (N = 251) sowie der Substichproben der Lehramtsstudierenden und Lehrkräften mit eigener Unterrichtserfahrung (n = 116 bzw. n = 110). Das aggregierte deklarative mathematische Professionswissen (Summe der Scores für CK und PCK) korreliert darin signifikant mit RC und AC, sowohl für die Lehramtsstudierenden (RC: r = 0,66, p < 0,001; AC: r = 0,44, p < 0,001) als auch für Lehrkräfte mit eigener Unterrichtserfahrung (RC: r = 0,48, p < 0,001; AC: r = 0,33, p < 0,001). Auch bei Differenzierung der Subskalen des deklarativen mathematischen Professionswissens korrelieren beide Subskalen (SRCK und PCK) signifikant mit RC und AC in beiden Substichproben. Dabei korreliert das SRCK jeweils höher mit AC und RC als das PCK, diese Unterschiede sind jedoch nicht signifikant (die größten Unterschiede sind jeweils in der Gesamtstichprobe zu finden; Unterschied bzgl. RC: ∆r = 0,07, z = 1,11, p = 0,13; Unterschied bzgl. AC: ∆r = 0,10, z = 1,44, p = 0,08). Zwischen AC und RC zeigt sich eine Korrelation von tendenziell großer Höhe (r = 0,48, p < 0,001). Um diese Zusammenhänge hinsichtlich möglicher Mediationseffekte zwischen den betrachteten Variablen (vgl. Hypothesen 3a–c) abzusichern, werden im Folgenden die entsprechenden Pfadmodelle berichtet.

Tab. 2 Pearson-Korrelationen, Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD) und Maximalwerte der untersuchten Skalen. In der Korrelationstabelle beziehen sich die Werte oberhalb der Diagonalen auf die Substichprobe der Lehramtsstudierenden (n= 116, links) bzw. der Lehrkräfte mit eigener Unterrichtserfahrung (n = 110, rechts). Werte unterhalb der Diagonalen sowie die Werte für M, SD und die Maximalwerte der Skalen beziehen sich auf die Gesamtstichprobe (N = 251)

4.2 Hypothesen 3a–c: Mediationsanalysen

Zur Untersuchung der Mediationshypothese 3a wurde die Gesamtstichprobe (N = 251) herangezogen. In einem ersten Schritt wurde ein Mediationsmodell mit dem deklarativen mathematischen Professionswissen (aggregierte Skala) als unabhängige Variable, AC als abhängige Variable und RC als Mediator für die Gesamtstichprobe geschätzt (Abb. 5). Die Ergebnisse zeigen erstens einen signifikanten Zusammenhang zwischen Professionswissen und RC (β = 0,55, p < 0,001), zweitens einen moderaten Zusammenhang zwischen RC und AC (β = 0,39, p < 0,001) und drittens eine partielle Mediation des Zusammenhangs zwischen dem deklarativen mathematischen Professionswissen und AC (β = 0,17, p = 0,015). Der indirekte EffektFootnote 7 ist 0,22 (p < 0,001). Es wird demnach ein Großteil des totalen Effektes vom deklarativen mathematischen Professionswissen zu AC (β = 0,38, p < 0,001) durch die Hinzunahme von RC aufgeklärt. In diesem Modell wurden 31 % der Varianz in RC und 25 % der Varianz in AC aufgeklärt.

Abb. 5
figure 5

Standardisierte Regressionskoeffizienten für den Zusammenhang zwischen deklarativem mathematischem Professionswissen und AC partiell mediiert durch RC (N = 251). Totaler Effekt in Klammern. * p < 0,05, *** p < 0,001

Um diesen partiellen Mediationseffekt differenzierter zu analysieren, wurden in einem zweiten Schritt die Subskalen SRCK und PCK in der Mediationsanalyse getrennt betrachtet. Zunächst zeigten sich in einer Regressionsanalyse ohne RC (SRCK und PCK als unabhängige Variablen und AC als abhängige Variable) – trotz eines substanziellen Zusammenhangs zwischen SRCK und PCK (β = 0,37, p < 0,001) – signifikante Zusammenhänge zwischen SRCK und AC (β = 0,31, p < 0,001) sowie zwischen PCK und AC (β = 0,14, p = 0,03). Ohne Einbezug der RC liefert das PCK somit über das SRCK hinaus einen Beitrag zur Aufklärung der Varianz in AC. In einem Mediationsmodell mit Einbezug von RC als Mediator für den Zusammenhang zwischen den beiden Wissensfacetten und AC (Abb. 6) zeigte sich eine vollständige Mediation des PCK (direkter Effekt: β = 0,04, p = 0,62) und eine partielle Mediation des SRCK (direkter Effekt: β = 0,15, p = 0,024). Für beide Subskalen ist der indirekte Effekt signifikant (PCK: 0,11, p < 0,001; SRCK: 0,15, p < 0,001).

Abb. 6
figure 6

Standardisierte Regressionskoeffizienten für den Zusammenhang zwischen deklarativem SRCK, PCK, RC und AC (N = 251). * p < 0,05, *** p < 0,001

Zur Untersuchung der Hypothesen 3b und 3c wurden die oben dargestellten Mediationsmodelle jeweils für die Substichproben der Lehramtsstudierenden (n = 116) und Lehrkräfte mit eigener Unterrichtserfahrung (n = 110) wiederholt. Ohne Einbezug von RC zeigt Tab. 2 sowohl für die Lehramtsstudierenden als auch für die Lehrkräfte mit eigener Unterrichtserfahrung signifikante Korrelationen zwischen dem aggregierten deklarativen mathematischen Professionswissen und AC. Im Mediationsmodell mit RC wird dieser Zusammenhang nicht mehr signifikant, weder für die Lehramtsstudierenden (Abb. 7 links oben; β = 0,10, p = 0,29) noch für die Lehrkräfte mit eigener Unterrichtserfahrung (Abb. 7 rechts oben; β = 0,20, p = 0,057). Der indirekte Effekt beträgt für die Lehramtsstudierenden 0,34 (p < 0,001) und für die Lehrkräfte mit Unterrichtserfahrung 0,14 (p = 0,008). Somit zeigen die Ergebnisse für beide Substichproben eine vollständige Mediation. Es ist jedoch zu bemerken, dass bei den Lehrkräften mit eigener Unterrichtserfahrung der direkte Effekt nur knapp über dem 5‑%-Signifikanzniveau liegt. Betrachtet man die Größe des direkten Effektes (β = 0,20, p = 0,057) im Vergleich zu den direkten Effekten bei der Gesamtstichprobe und bei den Lehramtsstudierenden, erreicht der direkte Effekt in der Substichprobe der Lehrkräfte mit eigener Unterrichtserfahrung womöglich aufgrund der reduzierten Stichprobengröße nicht das 5‑%-Signifikanzniveau.

Abb. 7
figure 7

Zusammenhänge zwischen deklarativem mathematischem Professionswissen (SRCK und PCK), RC und AC für Mathematik-Lehramtsstudierende und Mathematiklehrkräfte mit eigener Unterrichtserfahrung (≥5 Monate im Schuldienst). ** p < 0,01, *** p < 0,001

Auch die differenzierteren Mediationsmodelle, die zwischen SRCK und PCK unterscheiden (Abb. 7 unten), zeigen sowohl für die Lehramtsstudierenden als auch für die Lehrkräfte mit eigener Unterrichtserfahrung keine signifikanten Zusammenhänge zwischen SRCK und AC (Studierende: β = 0,10, p = 0,29; Lehrkräfte mit Unterrichtserfahrung: β = 0,17, p = 0,10) sowie zwischen PCK und AC (Studierende: β = 0,001, p = 0,99; Lehrkräfte mit Unterrichtserfahrung: β = 0,07, p = 0,54). Die indirekten Effekte sind dabei jeweils signifikant, sowohl für den Zusammenhang von SRCK zu AC über RC (Studierende: 0,23, p < 0,001; Lehrkräfte mit Unterrichtserfahrung: 0,09, p = 0,02) als auch für den von PCK zu AC über RC (Studierende: 0,19, p < 0,001; Lehrkräfte mit Unterrichtserfahrung: 0,08, p < 0,05). Es ist jedoch anzumerken, dass in den korrespondierenden Regressionsmodellen ohne RC (SRCK und PCK als unabhängige Variablen und AC als abhängige Variable) zwar die Zusammenhänge zwischen SRCK und AC signifikant werden (Studierende: β = 0,34, p < 0,001; Lehrkräfte mit Unterrichtserfahrung: β = 0,25, p = 0,008), die Zusammenhänge zwischen PCK und AC jedoch das 5‑%-Signifikanzniveau erneut teilweise knapp verfehlen (Studierende: β = 0,17, p = 0,07; Lehrkräfte mit Unterrichtserfahrung: β = 0,15, p = 0,12). Im Gegensatz zur Gesamtstichprobe ist hier die Substichprobe möglicherweise nicht groß genug, als dass die Unsicherheit der Schätzung sich in breiten Konfidenzintervallen für den vergleichsweise schwachen partialisierten Zusammenhang zwischen PCK und AC niederschlägt.

5 Diskussion

Ziel der vorliegenden Studie war die empirische Untersuchung von Zusammenhängen zwischen dem deklarativen mathematischen Professionswissen, der Kompetenz zur Vor- und Nachbereitung von Mathematikunterricht (reflexive Kompetenz, RC) und der Kompetenz zum Handeln in mathematikbezogenen unterrichtlichen Anforderungssituationen (aktionsbezogene Kompetenz, AC) bei Lehramtsstudierenden und Lehrkräften für Mathematik. Insbesondere zielte die Studie auf die Prüfung von Mediationshypothesen, gemäß der RC für die Vermittlung zwischen deklarativem mathematischem Professionswissen und AC eine zentrale Rolle spielt.

Die Ergebnisse zeigen in der Gesamtstichprobe für das deklarative mathematische Professionswissens eine starke Korrelation mit RC sowie eine moderate Korrelation mit AC. Auch in den Substichproben, den Lehramtsstudierenden und Lehrkräften mit eigener Unterrichtserfahrung (d. h. ausgebildete Lehrkräfte oder Lehrkräfte mit mindestens 5 Monaten im Vorbereitungsdienst), zeigen sich ähnliche Zusammenhangsmuster zwischen den drei Variablen. Die Zusammenhangsmuster sind somit zwischen den Substichproben vergleichbar, wobei bei den Studierenden erwartungsgemäß die Zusammenhänge tendenziell stärker ausgeprägt sind. Bei getrennter Betrachtung der Wissensfacetten SRCK und PCK und Kontrolle der Korrelation zwischen diesen Teilfacetten ist der partielle Zusammenhang zwischen PCK und AC allerdings lediglich in der Gesamtstichprobe signifikant. Mit dieser Einschränkung wird Hypothese 1 bestätigt. Zwischen RC und AC zeigt sich erwartungsgemäß eine Korrelation von moderater (Lehrkräfte mit eigener Unterrichtserfahrung) bis großer Höhe (Lehramtsstudierende). Auch unter Kontrolle des deklarativen mathematischen Professionswissens in den Mediationsmodellen bleiben diese Zusammenhänge zwischen RC und AC bestehen. Hypothese 2 wird somit bestätigt. Die Mediationsmodelle zeigen, dass der direkte Pfad zwischen dem deklarativen mathematischen Professionswissen und AC substantiell durch RC mediiert wird. Für die Gesamtstichprobe verbleibt nur ein schwacher signifikanter direkter Pfad (partielle Mediation), wodurch Hypothese 3a bestätigt wird. Für die Teilstichprobe der Studierenden ist die Mediation vollständig, wodurch Hypothese 3b bestätigt wird. Für Mathematiklehrkräfte mit eigener Unterrichtserfahrung ist die Mediation ebenfalls vollständig, wobei der direkte Zusammenhang zwischen dem deklarativen mathematischen Professionswissen und AC nur knapp nicht signifikant wird. Eine differenziertere Analyse mit einer Trennung zwischen SRCK und PCK zeigt, dass die Tendenz zur partiellen Mediation hauptsächlich auf das SRCK zurückgeht, wo der direkte Zusammenhang ebenfalls nur knapp das 5‑%-Signifikanzniveau verfehlt. Hypothese 3c kann mit den Daten dieser Studie also nicht bestätigt werden.

Die gefundenen Beziehungen zwischen deklarativem Professionswissen, RC und AC stützen insgesamt weitestgehend die theoretischen Annahmen über die professionelle fachspezifische Kompetenz von Mathematiklehrkräften. Die teilweise starken positiven Korrelationen zwischen dem deklarativen professionellen Wissen zu RC und AC, vor allem bei Lehramtsstudierenden, passen zur Annahme, dass diese Konstrukte wissensbasiert sind. Die starke positive Korrelation von RC und AC unterstützt die Annahme, dass die Kompetenz zur Unterrichtsreflexion die Kompetenz zum Handeln in unterrichtlichen Anforderungssituationen unter Zeitdruck begünstigt. Damit bestätigen diese Ergebnisse die Befunde von Knievel et al. (2015), bei denen sich ähnliche Ergebnisse in einer Stichprobe von Grundschul-Mathematiklehrkräften zeigten. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Jeschke et al. (2019a) ist somit die Zusammenhangsstruktur fachspezifischer Kompetenz von Lehrkräften nicht nur über ähnliche Schulfächer (z. B. Mathematik und Wirtschaftswissenschaften), sondern auch über verschiedene Schulformen innerhalb eines Schulfaches hinweg vergleichbar (vgl. Knievel et al. 2015).

Die berichteten Mediationsanalysen unterstützen weitestgehend die angenommene vermittelnde Funktion von RC bezogen auf das deklarative mathematische Professionswissen und AC. Dies liefert erste quantitative empirische Hinweise für die theoretische Annahme, dass die durch die Unterrichtsreflexion aus dem deklarativen Professionswissen generierten Handlungsoptionen das Handeln in Unterrichtssituationen begünstigen (Modell von Stender et al. 2015). Auffällig ist hierbei, dass bei Personen mit mindestens fünf Monaten Tätigkeit im Schuldienst substantiell weniger Varianz in RC und AC durch das deklarative Professionswissen (und ggf. RC) aufgeklärt wird. Dies könnte darauf hinweisen, dass neben der Umwandlung von deklarativem mathematischem Professionswissen auch die Schulpraxis eine Lerngelegenheit für AC und RC darstellt (vgl. Baer et al. 2011; König und Rothland 2018). Insbesondere das eigenverantwortliche Unterrichten, das für angehende Lehrkräfte spätestens nach einem Schulhalbjahr im Vorbereitungsdienst anstehen sollte, könnte eine Lerngelegenheit für RC und AC bieten. Gemäß der ACT-R-Theorie wird das im Rahmen der Unterrichtsreflexion erzeugte prozeduralisierte Professionswissen durch dessen Anwendung in Anforderungssituationen zunehmend abgewandelt (Anderson 1983). Die ursprünglich beim Erwerb von RC erzeugten Produktionen könnten daher durch die unterrichtliche Praxis Veränderungen durchlaufen oder für immer mehr Unterrichtssituationen nutzbar werden, sodass die Vermittlerfunktion von RC und das deklarative Professionswissen mit wachsender Erfahrung für das AC an Relevanz verlieren. Ein Rückgriff auf das deklarative Professionswissen (im Rahmen der Unterrichtsreflexion) könnte für erfahrene Lehrkräfte daher vor allem dann nötig sein, wenn sie einen für sie fremden Inhalt unterrichten müssen, für den keine Unterrichtserfahrung vorliegt. In Form einer partiellen Mediation des Zusammenhangs zwischen deklarativem mathematischen Professionswissen und AC (Hypothese 3c) zeigte sich dies in dieser Studie jedoch nicht eindeutig.

Für die Interpretation der Ergebnisse sollte betont werden, dass die in dieser Studie eingesetzten Instrumente Wissen und Kompetenzen zu ähnlichen mathematischen Themengebieten (z. B. Bruchrechnung, irrationale Zahlen, Differentialrechnung, Integralrechnung) erfassen. Die Instrumente wurden jedoch so konzipiert, dass nicht gleichzeitig derselbe Detailinhalt (z. B. dieselbe Schülerfehlvorstellung) in zwei verschiedenen Instrumenten adressiert werden, um Wiederholungseffekte bei der Bearbeitung zu vermeiden (vgl. z. B. „Priming“; Forster und Davis 1984). Die gefundenen Zusammenhänge sind daher nicht darauf zurückzuführen, dass Wissen in verschiedenen Graden an Situierung getestet wird, sondern lassen sich als Zusammenhänge der übergeordneten Konstrukte des deklarativen mathematischen Professionswissen, RC und AC interpretieren. Aus einer (partiellen) Mediation kann entsprechend gefolgert werden, dass RC als Konstrukt mindestens dieselbe (bzw. einen Teil der) Varianz in AC aufklärt wie das deklarative mathematische Professionswissen.

Die obige Interpretation der Ergebnisse wurde vor allem mit Bezug auf die ACT-R-Theorie und dem darauf aufbauenden Modell von Stender et al. (2015) vorgenommen. Andere theoretische Ansätze bieten jedoch auch alternative Interpretationsmöglichkeiten. Folgt man beispielsweise dem insbesondere in den Naturwissenschaftsdidaktiken zunehmend rezipierten „Refined Consensus Model“ (Carlson und Daehler 2019), verfügen Lehrkräfte über ein normatives Collective Knowledge (u. a. das an der Universität gelernte Wissen), ein individuelles Personal Knowledge (das einer Lehrkraft zum Handeln zur Verfügung steht) und ein Enacted Knowledge (das tatsächlich für das Handeln wirksame Wissen). In diesem Modell könnte das reflektierte Handeln von Lehrkräften während der Unterrichtsvorbereitung und -nachbereitung dazu führen, dass Collective Knowledge in Personal Knowledge umgewandelt wird und so für unterrichtliche Anforderungssituationen zur Verfügung steht (vgl. Stender et al. 2017). Darüber hinaus beziehen sich eine Vielzahl von Arbeiten aus der Expertise- und Problemlöseforschung bei der Modellierung der Wissensanwendung weniger auf Wissensarten, sondern vielmehr auf die Assoziation von Wissen mit unterschiedlichen Kontexten. So wird beispielsweise von Encapsulated Knowledge (z. B. Schmidt und Rikers 2007), trägem Wissen (Renkl 1994) oder Wissenskompartmentalisierung (z. B. Kasztner 2009) gesprochen, wenn vorhandenes Wissen in einer bestimmten Anforderungssituation nicht angewendet werden kann. Empirische Befunde zeigten in diesem Zusammenhang, dass eine Person ihr Wissen für neue Anforderungen besser anwenden kann, wenn es vorher in möglichst vielen unterschiedlichen Kontexten genutzt wurde (z. B. Gentner et al. 2009). Auf ähnliche Weise könnte für Lehrkräfte die Kompetenz zur Anwendung von mathematischem Professionswissen in unterschiedlichen Kontexten der Unterrichtsreflexion (RC) die Anwendbarkeit des Wissens für unterrichtliche Anforderungen verbessern (d. h. zu einem Zuwachs in AC führen).

Die dargestellten Ergebnisse müssen stets unter Berücksichtigung der Grenzen dieser Studie interpretiert werden. Das verwendete querschnittliche Design erlaubt lediglich die Untersuchung korrelativer Hypothesen und gibt keine Information über kausale Wirkmechanismen. Die kontrastierenden Substichproben der Lehramtsstudierenden und der Lehrkräfte sind unter optimaler Nutzung vorhandener Daten bestimmt worden. Dabei bleibt offen, ob die Aufnahme der Lehrkräfte im (fortgeschrittenen) Vorbereitungsdienst in die Gruppe der Lehrkräfte die Ergebnisse beeinträchtigt. Zudem wiesen die eingesetzten Skalen für AC und die Subskalen für CK und PCK des mathematischen Professionswissens jeweils eine grenzwertige interne Konsistenz auf. Dies könnte die Genauigkeit der Parameterschätzung sowohl für die direkten als auch für die indirekten Pfade des mathematischen Professionswissens zu AC beeinträchtigt haben, wobei korrelative Zusammenhänge durch niedrige Skalenreliabilitäten prinzipiell unterschätzt werden. Die eingesetzten Instrumente stellen für RC und AC einen Kompromiss aus standardisierter psychometrischer Erfassung, Berücksichtigung typischer fachspezifischer Anforderungen des Schulalltags und den verfügbaren technischen Möglichkeiten dar (vgl. Lindmeier 2013). Auf konzeptioneller Ebene decken die holistisch definierten Kompetenzkonstrukte RC und AC sämtliche typischen Anforderungen der Unterrichtsreflexion in Vor- und Nachbereitung bzw. während des Unterrichtens ab. Eine Berücksichtigung aller dieser Anforderungen im Rahmen der Messung übersteigt jedoch derzeit die Möglichkeiten einer praktikablen standardisierten Kompetenzerfassung. Die eingesetzten Instrumente adressieren vielmehr die zentralen fachspezifischen Anforderungen einer Mathematiklehrkraft und sind entsprechend als Indikatoren für RC und AC auf den adressierten Themengebieten zu verstehen. Schließlich kann auch die verwendete Stichprobe nicht als repräsentativ für Mathematiklehrkräfte der Sekundarstufe in Deutschland angesehen werden, obwohl die Teilnehmenden an einer geographisch gut gestreuten Auswahl deutscher Standorte rekrutiert wurden.

6 Implikationen

Angesichts dieser Limitationen sind diese Ergebnisse in weiteren Studien auch für andere Schulformen und Unterrichtsfächer zu überprüfen. Experimentelle Studien können zudem einen Kausalzusammenhang zwischen RC und AC durch differenzielle Förderung von deklarativem Professionswissen bzw. RC untersuchen (Lindmeier et al. 2020). Sofern die Ergebnisse aus dieser Studie repliziert werden, können Implikationen für die Lehramtsausbildung abgeleitet werden. Insbesondere in der universitären Ausbildungsphase könnten zielgerichtete Lerngelegenheiten zur Unterrichtsvorbereitung und Nachbereitung bewirken, dass angehende Lehrkräfte das an der Universität erworbene deklarative Wissen nach Eintritt in den Schuldienst effektiv zur Bewältigung der komplexen Anforderungen des Unterrichtens anwenden können. Zentral für die Generierung von Handlungsoptionen für das Unterrichten ist dabei insbesondere die „Mikro-Ebene“ der Unterrichtsplanung, die im Gegensatz zu den sichtbaren Planungshandlungen (Strukturierung, Methodenauswahl) unter anderem die Antizipation von fachbezogener Schülerkognition beinhaltet (vgl. Stender et al. 2015). Videobasierte Lehr-Lern-Konzepte (z. B. spezifisch designte Videovignetten oder Rollenspiele) könnten als Lerngelegenheiten für RC genutzt werden, indem beispielsweise Aufgaben der beruflichen Praxis anforderungsnah bereits in der universitären Ausbildungsphase systematisch adressiert und theoriebasiert reflektiert werden (approximations of practice, Grossman et al. 2009). Auch die Praxisphasen in der universitären Ausbildungsphase könnten zielgerichteter auf den Kompetenzerwerb für RC und AC ausgerichtet werden. Ein weiterer Ansatz, der aus der ACT-R-Theorie und Befunden zum analogen Lernen abgeleitet werden kann, zielt dagegen auf einen effektiveren Erwerb von deklarativem Wissen ab. Die Aktivierung von deklarativem Wissen in Problemlösesituationen (z. B. für RC oder AC) kann demnach substantiell erleichtert werden, wenn das deklarative Professionswissen bereits unter Reflexion unterschiedlicher Handlungskontexte gelernt wird (Anderson 1983; Markman und Gentner 1993). Diese Hypothese wurde beispielsweise als „Variation Theory“ im Kontext des Mathematiklernens diskutiert (z. B. Runesson 2005), jedoch bislang kaum auf Lernprozesse von Lehrkräften übertragen. Der explizite Vergleich von zwei unterschiedlichen Handlungskontexten kann dabei die Entstehung von dekontextualisiertem und trägem Wissen bereits signifikant verringern (Gentner et al. 2009). Eine an den Erwerb des deklarativen Wissens gekoppelte Verarbeitung in unterrichtbezogenen Kontexten – auch hier zum Beispiel durch videobasierte Lehr-Lern-Aufgaben oder Unterrichtssimulationen – kann entsprechend auch die Anwendbarkeit von deklarativem Wissen in Anforderungssituationen fördern.

Vor diesem Hintergrund könnten die Ergebnisse dieser Studie zukünftig dazu beitragen eine bessere Passung zwischen universitärer Ausbildungsphase und schulpraktischen Anforderungen herzustellen, ohne dabei den Erwerb von universitärem Professionswissen in den Hintergrund zu stellen (vgl. König und Rothland 2018). Die beschriebenen Ansätze könnten bewirken, dass das an der Universität erworbene Wissen von angehenden Lehrkräften beim Berufseinstieg effektiver genutzt werden kann.