1 Einleitung

Kognition spielt sich ausschließlich im Kopf ab – diese Auffassung wurde für lange Zeit in der Erforschung menschlicher Denk- und Lernprozesse vertreten, insbesondere in Bezug auf die Mathematik (Gerofsky 2014). In den letzten 20 Jahren jedoch greift die mathematikdidaktische Forschung zunehmend auf Theorien der embodied cognition zurück. Hiernach spiegelt sich unser Denken im körperlichen Ausdruck nicht nur wider, vielmehr formt unsere körperliche Interaktion in und mit der physischen und kulturellen Welt auch was und wie wir denken (können) (Shapiro 2014; Varela et al. 1991).

Gesten als implizite und zum Teil unterbewusste Ausdrucksformen kommt im Rahmen der embodied cognition eine besondere Aufmerksamkeit zu. Vor allem in internationaler mathematikdidaktischer Forschung wird ihre Rolle in und für mathematikbezogene Lernprozesse erforscht (Arzarello et al. 2009; Radford 2003; Sabena 2007); auch in Deutschland wächst das Interesse daran, besser zu verstehen, wie Gesten mathematische Lehr‑, Lern- und Denkprozesse beeinflussen, sowohl im Primar- (Huth 2010) und Sekundarbereich (Behrens & Bikner-Ahsbahs 2016; Krause 2016; Krause und Salle 2018) als auch bei Universitätsstudierenden (Krause und Salle 2016; Salle 2015).

In der mathematikdidaktischen Forschung werden Gesten schwerpunktmäßig in ihrer Funktion als semiotische Ressourcen betrachtet (siehe Arzarello et al. 2009); im Kern steht hierbei die Frage, wie Gesten als Bestandteile instruktionaler Erklärungen (Alibali et al. 2019; Arzarello und Paola 2007) und als Teil der Interaktion in kollaborativen Settings das Mathematiklernen mitgestalten und beeinflussen (u. a. Rasmussen et al. 2004; Sabena et al. 2016; Yoon et al. 2011). Hierbei wird ihnen neben einer Repräsentations- ebenfalls eine Erkenntnisfunktion zugesprochen, die sowohl in Bezug auf die individuelle wie auch die soziale Konstruktion mathematischen Wissens bereits untersucht wurde (Dreyfus et al. 2014; Krause 2016). Im Hinblick auf die Theorie der embodied cognition stellt sich über diese Aspekte hinaus jedoch vor allem die Frage nach möglichen kognitiven Funktionen von Gesten in mathematischen Kontexten.

1.1 Hinweise auf kognitive Funktionen von Gesten im Kontext Mathematik

In experimentellen Studien stellte die Arbeitsgruppe um Goldin-Meadow unter anderem heraus, welchen Einfluss der Gebrauch von Gesten in instruktionalen Erklärungen auf individuelle Lösungsstrategien beim Bestimmen von Unbekannten in Gleichungen der Art \(7+5+4=\_ \_ \_ +4\) haben kann (siehe auch Goldin-Meadow 2003). So indizierte beispielsweise die Lehrperson die beiden ersten Summanden auf der linken Seite der Gleichung mit zwei Fingern einer Hand und zog anschließend die Hand gestisch auf die Lehrstelle der rechten Seite; bei den Probandinnen und Probanden konnte daraufhin die Reproduktion dieser Gruppierungs-Strategie beobachtet werden (Goldin-Meadow et al. 2009). In einer ähnlichen Studie schließen Goldin-Meadow et al. (2001) darauf, dass die Probandinnen und Probanden durch einen solchen Gebrauch von Gesten beim Lösen verwandter Aufgaben kognitiv entlastet werden, was im Weiteren das konzeptuelle Verständnis unterstützen kann (Novack et al. 2014).

Die kognitive Entlastung wird in diesem Fall speziell durch eine Funktion hervorgerufen, die Kita et al. (2017) in einer Zusammenschau von psychologischen Studien, welche Rückschlüsse auf kognitive selbst-gerichtete FunktionenFootnote 1 von Gesten zulassen, als „packaging“ bezeichnen. Genauer hilft der Gebrauch von Gesten hier möglicherweise dabei, die für das Lösen einer Aufgabe relevanten räumlich-motorischen Informationen zu strukturieren, was sich in der Versprachlichung der Lösungsstrategie im Nachtest zeigte (Goldin-Meadow et al. 2009, S. 269–270; Kita et al. 2017, S. 250). Räumlich-motorische Informationen beziehen sich dabei u. a. auf räumliche Anordnungen, oder räumliche Beziehung von Objekten und Bewegungen.

Zudem extrahierten Kita et al. (2017) neben dem Packaging drei weitere selbst-gerichtete Funktionen von Gesten: das Aktivieren, das Manipulieren und das ExplorierenFootnote 2 räumlich-motorischer Informationen. Nach ihrer – aus experimentellen Studien gewonnenen – Gesture-for-Conceptualization-Hypothesis können Gesten solche Informationen schematisieren, d. h. einen strukturierten Fokus auf im Moment relevante Informationen richten, was sich in den vier Funktionen zeigt. Ist diese Hypothese tragfähig, so sollten sich die vier kognitiven selbst-gerichteten Funktionen wie von Kita et al. (2017) beschrieben auch in nicht-experimentellen, bestenfalls in natürlichen Settings rekonstruieren und wiederfinden sowie auf beliebige Kontexte übertragen lassen.

In Krause und Salle (2019) konnten wir in einer Fallstudie im Inhaltsbereich der Bruchrechnung bereits beschreiben, welche Rolle diese vier kognitiven Funktionen in einer mathematikbezogenen Interviewsituation spielen können. Durch den kommunikativen Charakter des Interviewsettings zeigten sich jedoch methodologische Schwierigkeiten. Zwar betonen Kita et al., dass Gesten, die kommunikative Zwecke erfüllen, ebenfalls in selbst-gerichteten Funktionen auftreten können (Kita et al. 2017, S. 261) – insbesondere auch dann, wenn die Gesten offensichtlich kommunikativ motiviert sind. Eine solche Verschränkung von Kommunikation und Kognition erschwert allerdings eine Fokussierung auf die kognitiven selbst-gerichteten Aspekte der Gesten in nicht-experimentellen Settings. Dies führte uns in Krause und Salle (2019) zu methodologischen und inhaltlichen Fragen in Bezug auf passende Settings zur Erforschung und Re-Konstruktion kognitiver Funktionen von Gesten. Die Fragen beziehen sich zum einen auf den Zusammenhang zwischen Materialnutzung und kognitiven Funktionen von Gesten. Zum anderen steht die Operationalisierung der Analyse kognitiver Funktionen von Gesten in mathematischen Kontexten – und damit der Übertragbarkeit auf weitere Settings und Kontexte – im Fokus.

Anschließend an die erste mathematikbezogene Exploration des Frameworks in Krause und Salle (2019) wird im Folgenden ausführlicher untersucht, welches Potential die Gesture-for-Conceptualization-Hypothesis zu kognitiven Funktionen von Gesten für ein besseres Verständnis mathematischen Denkens und Arbeitens hat. Auf diese Weise wollen wir einerseits besser verstehen, wie Gesten zu kognitiven Prozessen im Kontext der Mathematik beitragen und andererseits, wie das Modell allgemeiner als Werkzeug in Analysen mathematischer Lernprozesse genutzt werden kann. Hierfür re-analysieren wir vorhandene Videodaten aus zwei Studien mit Hochschulstudierenden beim Arbeiten im Inhaltsbereich Trigonometrie, in denen die Methode des lauten Denkens genutzt wurde. Auf diese Weise soll die kommunikativ motivierte Gestenproduktion im Vergleich zu Interviewdaten oder sozialen Settings möglichst reduziert werden.

2 Die Gesture-for-Conceptualization-Hypothesis und ihre Hintergründe

Dieser Abschnitt folgt im Wesentlichen Kita et al. (2017).

Grundlage für die Gesture-for-Conceptualization-Hypothesis (GFCH, Kita et al. 2017) ist die Annahme, dass der Produktion von Gesten die gleichen Mechanismen zugrunde liegen wie der Ausführung physischer Handlungen (Chu und Kita 2016; Hostetter und Alibali 2008; Hostetter und Alibali 2018). Hiernach gründet sich Gestenproduktion auf das Zusammenspiel zwischen Wahrnehmung und Handlung (action and perception), durch das nach Theorien der Embodied Cognition unser Denken auch dann geprägt ist, wenn die konkrete Handlung nicht (mehr) präsent ist. Gesten werden somit als motorische Simulation von Handlungen verstanden. Dabei werden hier speziell repräsentierende Gesten (representational gestures) betrachtet, also Gesten, die Handlungen, Bewegungen und Formen darstellen sowie Orte oder Bewegungsverläufe indizieren und nachzeichnen. Aufgrund der engen Interaktion jener Systeme, die für Handlungsausführung und Sprachproduktion zuständig sind, sind Gesten darüber hinaus semantisch und syntaktisch mit Sprache koordiniert (Kita und Özyürek 2003), wodurch sprachliche Äußerungen einen zusätzlichen kontextuellen Rahmen zur Interpretation dessen bieten können, was genau die Gesten darstellen (siehe Abschn. 4.2.2).

Kita et al. (2017) verweisen auf mehrere Hypothesen, nach denen repräsentierende Gesten selbst-gerichtete Funktionen erfüllen, durch die sie das Sprechen erleichtern können (S. 246). Gleichzeitig merken sie an, dass zunehmend mehr Forschung darauf hinweist, wie Gesten durch das Erfüllen selbst-gerichteter Funktionen zum Lernen und Problemlösen beitragen können. Hierbei spielen neben rede-begleitenden Gesten (co-speech gestures) auch solche Gesten eine wichtige Rolle, die in Abwesenheit von Lautsprache genutzt werden (co-thought gestures; hier: denk-begleitende Gesten).

Kita et al. (2017) bringen in der GFCH beide Ansätze zusammen und erfassen auf diese Weise, wie Gesten zur Konzeptualisierung von Informationen beitragen und so das Denken und Sprechen unterstützen. Die Darstellung der Informationen erfolgt in Gesten dabei jedoch nicht detailliert, sondern wird auf den Kern der Sache reduziert, d. h. schematisiert:

The key theses of the gesture-for-conceptualization hypothesis are (a) gesture activates, manipulates, packages, and explores spatio-motoric information for the purposes of speaking and thinking and (b) gesture schematizes information, and this schematization process shapes these four functions. (Kita et al. 2017, S. 246)

Gesten schematisieren Informationen also in dem Sinne, dass sie die Informationsmenge auf diejenigen Informationen reduzieren, die konkret relevant für das Lösen des vorliegenden Problems in der vorliegenden Situation sind oder potenziell sein könnten. Kita et al. sehen hierfür nicht nur einen Vorteil für das Lösen der konkreten Aufgabe, sondern auch Potenzial für die mögliche Generalisierung und Adaption von Informationen zum Gebrauch in anderen Kontexten (vgl. Kita et al. 2017, S. 257). Die Schematisierung durch Gesten formt die vier selbst-gerichteten Funktionen, die im Folgenden näher vorgestellt werden sollen.

2.1 Gesten aktivieren (räumlich-motorische Information)

Gesten können räumlich-motorische Repräsentationen (und die in ihnen repräsentierten Informationen) wachrufen oder temporär „festhalten“, um dem Gestenproduzenten zu ermöglichen, (länger) damit zu arbeiten. Genauer heißt es bei Kita et al. (S. 247):

First, gesture can help maintain the activation of spatio-motoric representations that are already active, so that these representations do not decay during speaking or thinking […]. Second, gestures can activate new spatio-motoric representations—ones that were not previously active—and this can, in turn, change the content of speech and thought.

Wir werden im Folgenden die erste von Kita et al. beschriebene Art der Aktivierung – das Aufrechterhalten – mit {A1} bezeichnen und die zweite – die Neu-Aktivierung – mit {A2}.

Die Schematisierung in einer Geste trägt Kita, Alibali und Chu zufolge dazu bei, zusätzliche räumlich-motorische Aspekte der statischen Darstellung eines Problems zu aktivieren oder komplett neue räumlich-motorische Darstellungen zu erschaffen. Hierdurch helfen die Gesten, auf die räumlich-motorischen Aspekte einer Situation oder eines Problems zu fokussieren und andere so in den Hintergrund treten zu lassen (vgl. Kita et al. 2017, S. 258). So wurde beispielsweise beobachtet, dass das Gestikulieren von Kindern bei Versuchen, die sich auf die Volumengleichheit verschiedener Gefäße beziehen, zu einer deutlich erhöhten Nennung wahrnehmbarer Eigenschaften der Gefäße führt, als dies bei nicht gestikulierenden Kindern der Fall ist (Alibali und Kita 2010).

2.2 Gesten manipulieren (räumlich-motorische Information)

Gesten können dabei helfen, statische Objekte virtuell zu manipulieren und so einen Zustand imaginär herzustellen ({M}). „For example, one might need to rearrange, translate, rotate, invert, or take a new perspective on the objects one is speaking or thinking about.“ (Kita et al. 2017, S. 248) Dabei begünstigen Gesten die Manipulation durch Schaffen eines Fokus zur Analyse der räumlich-motorischen Information, „because schematization via gesture reduces the amount of information to be processed“ (vgl. S. 258).

Kita et al. verweisen hier vor allem auf Studien mit zwei konkreten Situationen: das Arbeiten mit vorgestellten bzw. „mentalen“ Rotationen (vgl. S. 248) und das Rechnen mit einem Abakus (S. 248). In beiden Fällen hat sich gezeigt, dass bei anspruchsvollen Aufgaben eine höhere Anzahl an Gesten mit Ähnlichkeiten zu Handlungen des Rotierens bzw. zur Manipulation des Abakus zu beobachten war. Zudem führte die Aufforderung zum Gestikulieren beim Lösen von Aufgaben zu mentalen Rotationen bzw. zum Rechnen mit dem Abakus zu signifikant höheren Leistungen im Vergleich zu einer Gruppe, der das Gestikulieren untersagt wurde.

2.3 Gesten strukturieren (räumlich-motorische Information)Footnote 4

Gesten können dabei helfen, komplexe Information aufzugliedern ({S1}) oder zusammenzufassen ({S2}) und diese somit zugänglicher für das Denken und Sprechen über diese Information zu machen. Im ersten Fall {S1} kann komplexe Information auf mehrere Gesten verteilt werden, die alle einen bestimmten Aspekt der Gesamtinformation repräsentieren. Kita et al. (2017) führen als Beispiel die Beschreibung einer Vase an, bei der eine Geste beispielsweise die Kontur darstellt, eine andere die Öffnung der Vase (S. 249). Übertragen auf die Mathematik könnte man sich die Beschreibung eines Zylinders denken, bei der zunächst die Kreisumrandung der Grundfläche gestisch dargestellt wird und daran anschließend die Mantelfläche „modelliert“ (Müller 1998, S. 117) und die Höhe durch eine Geste angezeigt wird. Der zweite Fall {S2} bezieht sich auf die bereits in der Einleitung beschriebene Situation der gestischen Zusammenfassung dargestellter Komponenten, bei der im konkreten Fall zwei Summanden in einer arithmetischen Gleichung als zusammengehörig wahrgenommen werden (Goldin-Meadow et al. 2009). Die schematische gestische Darstellung einer Situation ermöglicht es, hierbei jeweils eine Teilmenge der räumlich-motorischen Information zu einem Zeitpunkt zu verarbeiten. Kita et al. (2017) führen aus, wie sich die Strukturierung von Informationen durch Gesten vor allem in der Sprache auswirkt und beispielsweise die Sprachproduktion beeinflusst.

2.4 Gesten explorieren (räumlich-motorische Information)

Gesten können helfen, vor allem komplexere Situationen zu explorieren. So können Informationen, die zur Lösung einer Aufgabe relevant sind, von weniger relevanten Informationen unterschieden werden. Wir werden, ausgehend von den Studien, auf die sich Kita et al. in diesem Kontext beziehen, auf zwei verschiedene Arten der selbst-gerichteten Funktionen des gestischen Explorierens verweisen: Zum einen kann die Geste in einem sogenannten mismatch (Goldin-Meadow 2003) etwas anderes darstellen als sprachlich ausgedrückt wird, wobei im Folgenden die gestische Information aufgegriffen wird ({E1}). Zum anderen geben Gesten die Möglichkeit, in einer Art „trial and error“-Verfahren Handlungen imaginär auszuführen und somit eine Option auf ihren Erfolg oder Misserfolg hin zu explorieren ({E2}). So eine Exploration kann mit oder ohne Abbruch einer GesteFootnote 5 einhergehen. Auf eine Exploration der Art {E2} durch eine abgebrochene Geste sollte Kita et al. zufolge bestätigend ein Wechsel der Strategie deutlich werden, entweder in der Handlung oder im sprachlichen Ausdruck. In der Mathematik ist eine solche Exploration denkbar im Bereich der Bruchrechnung, wenn durch simulierte Zerteilung einer Kreisdarstellung Teile des Ganzen zur Erkundung ihrer Größe mit Gesten abgefahren werden (Krause und Salle 2019).

Die Schematisierung von Information durch eine Geste formt das Explorieren wie folgt:

People use gesture to explore different ways of conceptualizing a situation. Because gesture schematizes information, this search is efficient and effective. That is, schematization via gesture reduces the amount of information being considered at any given moment. This „distilled“ information can be more easily focused on and evaluated for its relevance to the current goal. (Kita et al. 2017, S. 258)

Insgesamt bringen Gesten eine Reduktion der Informationen auf das im Moment Wesentliche mit sich, was zu einer Fokussierung führt und je nach geforderter Aufgabe die vier vorgestellten Funktionen ermöglicht. Kita et al. erwähnen ausdrücklich, dass diese Funktionen auch kombiniert auftreten können (Kita et al. 2017, S. 253), was Krause und Salle (2019) in mathematischen Kontexten bestätigen konnten. Neben dieser Fallstudie ist allerdings wenig bekannt darüber, wie sich selbst-gerichtete kognitive Funktionen speziell im Falle des mathematischen Arbeitens und in nicht-experimentellen Settings zeigen.

3 Forschungsfragen

Bezogen auf mathematische Denkprozesse wird das Potenzial des vorgestellten Frameworks hinsichtlich zweier Aspekte gesehen, die der GFCH inhärent sind: Repräsentationen spielen sowohl beim Lernen von Mathematik wie auch allgemein beim mathematischen Arbeiten eine zentrale Rolle. In der GFCH kommt der Zusammenhang zu Repräsentationen durch den Fokus auf räumlich-motorische Informationen zum Tragen, also Informationen, wie wir sie auch beim Umgang mit und bei der DarstellungFootnote 6 mathematischer Inhalte betrachten. Zudem liegt der GFCH eine Auffassung von Gesten als motorische Simulation von Handlungen zugrunde, die auch abgerufen werden, wenn die Handlung nicht tatsächlich durchgeführt wird, und somit an aktiv Erfahrenes erinnern können. Dieser prägende Einfluss von Erfahrungen, Wahrnehmungen und Handlungen auf unser mathematisches Denken wird von verschiedenen theoretischen Konzepten betont: In der Mathematikdidaktik wird dies durch Bruners E‑I-S-Prinzip (siehe Bruner 1974) aufgegriffen, aus der Perspektive der kognitiven Linguistik basiert unser Verständnis grundlegender mathematischer Ideen auf Metaphern, die in der konkreten Handlung mit und Wahrnehmung der physischen Umwelt begründet sind (grounding metaphors, Lakoff und Núñez 2000, S. 52). Die GFCH schafft somit einen geeigneten Rahmen für die Betrachtung der Korrespondenz zwischen realen Erfahrungen und Handlungen, mathematischen Aktivitäten und Kognition, vermittelt durch die Betrachtung der Gesten und ihrer möglichen kognitiven Funktionen.

Um diese Korrespondenz empirisch zu untersuchen, stellen wir ausgehend von vorhandenen Daten von Studierenden, die unter der Methode des lauten Denkens im Themengebiet Trigonometrie arbeiteten, folgende Fragen:

  1. 1.

    In welchen Formen treten kognitive Funktionen von Gesten beim lauten Denken in mathematischen Lern- und Problemlösesituationen auf?

  2. 2.

    Inwieweit lassen sich Zusammenhänge zwischen den vier Funktionen und allgemeinen mathematikspezifischen – d. h. für das mathematische Arbeiten typischen – Aktivitäten, identifizieren?

Darüber hinaus diskutieren wir, hypothetisch abstrahierend von dem konkreten Themengebiet, methodologische und theoretische Konsequenzen für die Adaption des Frameworks für die mathematikdidaktische Forschung und Praxis.

4 Methode

4.1 Datenkorpus

Grundlage für die Auswertung bilden Re-Analysen von bestehenden Daten aus zwei Studien. In allen Daten sind multimodale Lernprozesse videographisch festgehalten, in denen sprachliche und gestische Äußerungen auftreten, Inskriptionen (d. h. fixierte bildliche und schriftliche Darstellungen) genutzt und erstellt werden sowie zum Teil mit digitalen Darstellungen interagiert wird. Für die Untersuchung der Gesten ist dies von besonderer Relevanz, da so der Kontext für eine sinnvolle Interpretation der Gesten durch die Einbeziehung der weiteren Modalitäten ausgeschärft werden kann.

In beiden Studien wurde mit der Methode des lauten Denkens gearbeitet (orientiert an den Richtlinien von Ericsson und Simon (1993) sowie Greene et al. (2011)). Beide Studien beschäftigen sich mit Inhalten der Trigonometrie. Die Daten wurden jeweils mit Studierenden des Mathematik-Lehramts der Sekundarstufe I und II erhoben. Die Auswahl der Daten erfolgt auf Grundlage theoretischer Überlegungen. Durch das laute Denken reduziert sich der kommunikative Charakter der Gesten: Lernt nur eine Person, müssen die Gesten nicht im Kontext der Kommunikation mit anderen Lernenden gedeutet werden und die selbst-gerichteten Funktionen treten deutlicher hervor. Darüber hinaus ermöglicht die Auswahl eine hohe Vergleichbarkeit zweier Datensätze durch die Ähnlichkeiten der Erhebungsmethode, der mathematischen Thematik und der Lernendengruppe; dennoch ist durch unterschiedliche Settings (Datensatz A: Lösungsbeispiele und Datensatz B: Problemlösen) eine Variation zwischen den Daten gegeben, die eine erste Ablösung vom konkreten Datum möglich macht.

4.1.1 Datensatz A: Erarbeitung des Zusammenhangs verschiedener Darstellungen komplexer Zahlen durch Lösungsbeispiele

In dieser Studie wurden die Arbeitsprozesse 33 Bachelor-Studierender (22 weibliche, 11 männliche) für das Lehramt Mathematik der Sekundarstufe I untersucht, die Mathematik als Fach gewählt hatten und sich im vierten oder fünften Fachsemester befanden. Die Studierenden wurden dazu aufgefordert, sich auf Basis dreier Lösungsbeispiele die Übersetzung komplexer Zahlen in verschiedenen Formen sowie Verfahren und inhaltliche Bedeutung der Multiplikation komplexer Zahlen anzueignen. In zwei Lösungsbeispielen wurden jeweils zwei komplexe Zahlen in kartesischer Form in die trigonometrische Form übersetzt, anschließend multipliziert und gemeinsam mit dem Produkt in einem Koordinatensystem graphisch dargestellt (s. Abb. 18, Szene 6 in Abschn. 5.3). Im dritten Lösungsbeispiel wurde mit komplexen Zahlen in trigonometrischer Form begonnen (Krause und Salle 2016; Salle 2015).

Während der Erarbeitung wurden die Studierenden zum lauten Denken aufgefordert und dabei videographiert. Die Teilnehmenden wurden gebeten, die vorliegenden Lösungsbeispiele nachzuvollziehen. Dabei wurde ihnen keine Maximalzeit vorgegeben. Sie sollten signalisieren, sobald sie mit dem Nachvollziehen fertig waren, und während der Bearbeitung laut denken. Nach 20 Sekunden Stille wurden die Studierenden erinnert, laut zu denken. Vor der Bearbeitung der Lösungsbeispiele wurde mit jeder Teilnehmerin und jedem Teilnehmer ein kurzes Laut-Denken-Training absolviert, in dem zusätzlich deutlich gemacht wurde, dass die Studierenden insbesondere keine ausformulierten Erklärungen für einen Hörer geben sollten. Die Kamera wurde auf dem Bildschirm positioniert, um sowohl den Oberkörper der Studierenden als auch die vor Ihnen liegenden Materialien filmen zu können. Zusätzlich wurde der Bildschirminhalt synchronisiert von einer Software aufgezeichnet.

Die Ergebnisse in Krause und Salle (2016) geben neben der Bedeutung von Gesten für die Interpretation der lautsprachlichen Äußerungen ebenfalls Hinweise auf mögliche kognitive Bedeutungen von Gesten, ohne dass hier jedoch auf spezifische kognitive Aktivitäten fokussiert wurde. So deutet sich in den Analysen des zitierten Artikels bereits das Potenzial dieser Daten für die aktuelle Fragestellung an.

4.1.2 Datensatz B: Bearbeitung von Problemen bei der Erweiterung trigonometrischer Funktionen auf alternative definierende Objekte

Im Rahmen einer bisher nicht veröffentlichten Erhebung zu Lernendenvorstellungen bei Sinusfunktionen beschäftigten sich fünf Studierende verschiedener Studiengänge (3 weibliche, 2 männliche) mit einer Klasse verallgemeinerter trigonometrischer Funktionen. Dabei handelte es sich um zwei Studentinnen des Grundschullehramtes mit Fach Mathematik, einen Studenten des Gymnasiallehramts Mathematik sowie zwei Studenten von Anwendungsstudiengängen (Biologie und Betriebswirtschaftslehre). Analog zum Einheitskreis wurden die funktionalen Zusammenhänge anhand alternativer geometrischer Formen definiert (Darstellung der inhaltlichen Hintergründe in Salle und Frohn 2020). Zuerst wurde den Studierenden ein Lösungsbeispiel mit folgender Aufgabenstellung gegeben (bezeichnet als Aufgabe 1): „Es soll der Y‑Wert eines Punktes auf dem dargestellten Rechteck in Abhängigkeit von der bis dahin (entgegen dem Uhrzeigersinn) zurückgelegten Randlänge vom Startpunkt S = (1|0) untersucht werden. Skizzieren Sie den Funktionsgraphen.“ In Abb. 1a sind der Punkt \(Q\), die Strecke \(\sin _{1}(x)\) und die Berandungslänge \(x\) zusätzlich eingezeichnet – im Gegensatz zur Aufgabenstellung, die den Lernenden vorlag. Im nebenstehenden Koordinatensystem (Abb. 1b) ist der entsprechende Funktionsgraph des funktionalen Zusammenhangs zwischen der Berandungslänge \(x\) zwischen dem Punkt (1|0) und \(Q\) sowie der \(y\)-Koordinate von \(Q\) eingezeichnet und als \(\sin _{1}\) bezeichnet. Aufbauend auf diesem Lösungsbeispiel folgten verschiedene Problemvariationen. So sollen der Graph zu einem Quadrat mit Kantenlänge 2 erstellt (Aufgabe 2), Kriterien für definierende Ausgangsformen bestimmter Graphen aufgestellt (Aufgabe 3) und auf verallgemeinerte Zusammenhänge zwischen der definierenden Form – bzgl. ihrer Rotation (Aufgabe 4) und ihrer Symmetrien (Aufgabe 5) – und dem resultierenden Graphen geschlossen werden.

Abb. 1
figure 1

Definierende Form der alternativen trigonometrischen Funktion und resultierender Graph

Die Vorgaben für das laute Denken folgten den für Datensatz A beschriebenen Leitlinien. Die Kamera filmte die Gestik und die verwendeten Lernmaterialien. Die Lernvorlagen und Aufgaben wurden auf zwei großformatigen Tablets präsentiert, auf denen die Studierenden mit einem interaktiven Stift notieren konnten. Die Lernvorlagen bestanden aus pdf-Dokumenten mit verschiedenen statischen Darstellungen funktionaler Zusammenhänge; dynamische Darstellungen wie Animationen o. ä. wurden nicht verwendet. Der ursprüngliche Fokus der Erhebung lag auf der Rekonstruktion multimodaler Lern- und Problemlöseprozesse sowie methodischer Fragen bzgl. der zeitlich synchronisierten Aufzeichnung von Inskriptionen und ihres Mehrwertes für die qualitative Analyse der Videos. Aufgrund des Einbezugs verschiedener Darstellungen, vorhandener Lernmaterialien und der Erfassung der verschiedenen Modalitäten eignen sich die Fallstudien für die Untersuchung kognitiver Funktionen von Gesten.

4.2 Analyse

4.2.1 Methodologische Vorüberlegungen

Im Unterschied zu den Studien, auf die sich Kita et al. (2017) beziehen und in denen zumeist hypothesenprüfend experimentell gearbeitet wird, nähern wir uns den Daten qualitativ-deduktiv: Wir legen die vier in der Literatur formulierten kognitiven Funktionen zugrunde und identifizieren darauf basierend Ausprägungen dieser Funktionen in den vorliegenden Daten. Zudem lassen sich so Lernprozesse in den Blick nehmen, die der Realität näherkommen als in experimentellen Studien.

Ziel der vorliegenden Studie ist zunächst die empirische Erfassung der durch Kita et al. vorgeschlagenen kognitiven Funktionen von Gesten in den vorliegenden Daten. Dies soll dann als Grundlage dafür dienen, die Untersuchung kognitiver Funktionen von Gesten in mathematischen Kontexten in einer allgemeineren Form zu fassen und hierdurch eine Operationalisierung in zukünftigen Studien vorbereiten.

4.2.2 Methodisches Vorgehen

Bei einer ersten Sichtung wurden Szenen identifiziert, in denen Gesten vorkommen und in denen aus dem Kontext eine mathematische Referenz der Geste rekonstruiert werden konnte. Der Kontext ergibt sich hierbei aus einer a priori Analyse der Aufgaben bzw. Lösungsbeispiele, den (vorherigen und folgenden) sprachlichen Äußerungen und dem Zusammenspiel der Gesten mit schriftlichen Zeichen (d. h. vorgegebenem Material wie auch selbst produzierten Inskriptionen).

Aus dieser ersten Datenauswahl gehen Szenen hervor, die in mehreren Schritten tiefer analysiert werden:

1. Schritt:

Prüfung der Gesten auf mögliche kognitive Funktionen nach der GFCH im Rahmen des Kontextes.

2. Schritt:

Beschreibung der spezifischen Ausprägungen der kognitiven Funktionen für den jeweiligen Fall.

3. Schritt:

Ständiger Vergleich der einzelnen Fälle nach dem Prinzip der Komparation (angelehnt an Krummheuer und Naujok (1999) sowie Krummheuer und Brandt (2000), dort bezogen auf soziale Interaktionen)Footnote 7 führt zu einer Ausschärfung der mathematiktypischen Manifestation der kognitiven Funktionen von Gesten beim Arbeiten im mathematischen Inhaltsbereich Trigonometrie.

In den vorgestellten Fallbeispielen werden die Analysen in komprimierter Form hinsichtlich der Beantwortung der ersten Forschungsfrage dargestellt. Die Fallbeispiele werden in drei Unterkapiteln vorgestellt, die jeweils auf eine mathematikspezifische Tätigkeit fokussieren und damit die zweite Forschungsfrage adressieren.

5 Fallbeispiele zu mathematikspezifischen Ausprägungen kognitiver Funktionen von Gesten

Im Laufe der Komparation traten drei spezifische Aktivitäten auf, die über den trigonometrischen Kontext hinaus typisch für mathematisches Arbeiten sind. Im ersten Unterkapitel wird auf das Validieren und Begründen von mathematischen Hypothesen und Aussagen eingegangen, im zweiten Unterkapitel wird funktionales Denken in den Mittelpunkt gestellt und im dritten Unterkapitel werden typische Situationen beim Umgang mit verschiedenen mathematischen Darstellungen und Darstellungswechseln vorgestellt. Werden Ausschnitte des Lernmaterials zur Darstellung der Gesten herangezogen (Abb. 21617 und 18), so kennzeichnen Pfeile Bewegungen in die ausgezeichnete Richtung, gestrichelte Kreise symbolisieren ein Zeigen auf diese Stelle. Die Kennzeichnung „#1-L“ referenziert eine Position im Lernmaterial; die Zahl gibt den Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens im Vergleich zu den weiteren Kennzeichnungen an, „‑L“ zeigt die Hand an (‑L = linke Hand, -R für rechte Hand).

Abb. 2
figure 2

Birgers Gesten im Koordinatensystem

5.1 Prüfen und Begründen von Vermutungen und Aussagen

Typische Tätigkeiten beim Mathematiklernen und Problemlösen sind das Prüfen und Begründen von Vermutungen und Aussagen. Dabei stammen solche Aussagen einerseits aus Texten, aus Beispielen, von Lehrenden oder anderen Lernenden, andererseits kann es sich dabei auch um selbst formulierte Vermutungen bzw. selbst aufgeworfene Begründungsanlässe handeln. In beiden Fällen suchen Lernende nach Gründen für die Richtigkeit bzw. Gültigkeit der vorliegenden Aussage.

5.1.1 Szene 1: Birger exploriert beim Nachvollziehen einer Aussage

Im ersten Fallbeispiel bearbeitet Birger, ein Mathematik-Lehramtsstudent des vierten Semesters (Datensatz A), ein Lösungsbeispiel zur Multiplikation komplexer Zahlen in kartesischen Koordinaten (siehe auch Abb. 18). Er hat den Abschnitt der symbolisch repräsentierten Multiplikation bereits hinter sich und befasst sich in der folgenden Szene mit der graphischen Darstellung des berechneten Produkts \(a\cdot b=-3\sqrt{3}+i\cdot 3\). Birger versucht die im Material vorgegebene Korrespondenz zwischen der symbolischen und graphischen Darstellung des Produktes nachzuvollziehen. Dazu zerlegt er die beiden Darstellungen in die Komponenten Real- und Imaginärteil bzw. horizontale und vertikale Koordinate und prüft deren inhaltliche Passung.

Durch die hierbei genutzten Gesten werden räumlich-motorische Informationen zunächst im Sinne der in Kita et al. (2017) beschriebenen kognitiven Funktion aktiviert und diese aktivierte Information dann exploriert bzw. in ihrer Beschaffenheit erkundet. Diese Erkundung der Informationen scheint Birger in seinem Prozess der Überprüfung des Realteils zu unterstützen.

1: a [fährt mit dem Kugelschreiber Vektor a vom Ursprung ausgehend entlang] und b [fährt Vektor b analog entlang] hier multipliziert, [zeigt zuerst auf Ursprung des Ergebnisvektors (#1-L, Abb. 2), dann auf sein Ende (#2-L)] 2: abgetragen also [zeigt auf den ersten Teil der symbolischen Darstellung des Vektors a · b (#3-L)] 3: erstmal den ... realen Teil [zeigt auf den Ursprung (#1-L)] minus drei Drittel [fährt währenddessen die horizontale Achse zügig in negativer Richtung vom Ursprung aus entlang bis zur Stelle unterhalb der Vektorspitze (#4-L)], 4: ungefähr [fährt die horizontale Achse erneut langsamer bis zur gleichen Stelle ab (#4-L), hebt den Stift anschließend langsam] 5: (3s) ähm/äh minus dreimal Wurzel drei mein’ ich, 6: ähm kommen wir dann wohl hier [zeigt auf die Spitze des Zielvektors (#2-L)] raus, ok.

Birger versucht nachzuvollziehen, wie die symbolische Darstellung des Produkts mit der graphischen Darstellung in Zusammenhang steht. Nach der Identifikation der beiden Faktoren \(a\) und \(b\) – er fährt die jeweiligen Pfeile im Koordinatensystem mit dem Kugelschreiber ab und benennt sie (Transkriptzeile 1) – fokussiert er auf das Produkt, welches er als ebenfalls im Koordinatensystem „abgetragen“ identifiziert (2). Er prüft „erstmal“ wie der Realteil des Produkts \(a\cdot b\) die Position des eingezeichneten Vektors bestimmt (3) wobei er mit seinem Kugelschreiber auf den Realteil \(-3\,\sqrt{3}\) zeigt (#3-L). Seine Äußerung „minus drei Drittel“ stimmt dabei nicht mit dem dargestellten Realteil \(-3\sqrt{3}\) überein; ungeachtet dessen fährt er mit seinem Kugelschreiber die reelle Achse in negativer Richtung bis zu der Stelle entlang, die unterhalb der Vektorspitze von \(a\cdot b\) liegt (3, #4-L).

Hierbei simuliert Birgers Geste das Abtragen des Realteils auf der x‑Achse und aktiviert durch die gestische Simulation dieser Handlung neue räumlich-motorische Information {A2}. Hierdurch kann er auf die zu prüfende Korrespondenz zwischen dem symbolisch dargestellten Realteil (3, #3-L) und dem graphisch abzutragenden Realteil fokussieren. Dies führt möglicherweise zu einem ersten Erkennen einer Diskrepanz zwischen der Länge der aktivierten Strecke (\(-3\sqrt{3}\) und damit ca. 5,2 Einheiten) und der von ihm angenommen, bzw. verbal explizierten, Länge (\(3\frac{1}{3}\), also ca. 3,33 Einheiten).

Während sich diese Einsicht verbal zunächst vorsichtig in der Äußerung „ungefähr“ (4) zeigt, lässt sich seine Unsicherheit auch in seinen folgenden Handlungen erkennen: er wiederholt das Abfahren der \(x\)-Achse im gleichen Intervall, dieses Mal jedoch wesentlich langsamer (4, #4-L), möglicherweise zu einer genaueren Prüfung der Korrektheit des abzutragenden Realteils. Durch das langsame Entlangfahren kann das Abfahren der Strecke auf der horizontalen Achse – die aktivierte räumlich-motorische Information – exploriert werden; die einzelnen Bestandteile würden demnach räumlich erkundet und die Ergebnisse dieser Erkundung in der Problemlösung berücksichtigt. Hierbei scheint Birger der mismatch zwischen sprachlich Geäußertem und gestisch explorierter Information ({E1}) bewusst zu werden, woraufhin er sich auf Basis der Geste sprachlich zu korrigieren scheint – „minus dreimal Wurzel drei mein’ ich“ (5) statt „minus drei Drittel“ – und dies abschließend mit der graphischen Repräsentation des Vektors in Verbindung (6) bringt.

Während beim Nachvollziehen der Lösungsbeispiele vor allem die Prüfung bzw. das Nachvollziehen vorgegebener Aussagen im Vordergrund steht, verlangt das Lösen von Problemen das Aufstellen und Validieren eigener Vermutungen. Wie hierbei selbst-gerichtete Funktionen von Gesten die Validierung solcher Aussagen beeinflussen können, wird in den folgenden zwei Szenen verdeutlicht.

5.1.2 Szene 2a: Richard manipuliert zur Prüfung einer Hypothese

Richard bearbeitet eine Aufgabe aus dem Bereich alternativer Sinusfunktionen, in der nach der Auswirkung von Symmetrien der Ausgangsform auf den resultierenden Graphen gefragt wird (Aufgabe 4). Im Rahmen dieser Bearbeitung schreibt er eine Vermutung über diesen Zusammenhang auf, nach der Ausgangsformen mit zwei Symmetrieachsen zu einer „gleichen Auslenkung entlang der y‑Achse“ führen. Dabei nimmt er Bezug zu einer vorigen Aufgabe, in der als Ausgangsform das Quadrat aus Aufgabe 1 dient (vgl. Abb. 1)Footnote 8. Diese Ausgangsform wird auf dem von ihm aus gesehen linken der beiden Tablets dargestellt.

Zu Beginn der Szene geht er davon aus, dass das Quadrat zwei Symmetrieachsen hätte (was er auch notiert). Durch gestisches Manipulieren in Form imaginärer Falthandlungen kann er die beiden Symmetrieachsen bestätigen und kommt zu einer Erweiterung seiner Hypothese, so dass er die Zahl der Achsen auf vier korrigiert.

1: also das Beispiel, das wir hatten ... und dann hier [zeichnet ein Quadrat auf das Tablet (Abb. 3)] Pf, pf, pf, pf 2: hat ja diese Symmetrieachsen .. [zeichnet eine Strecke in das Quadrat] dit, dit, dit [zeichnet eine weitere Strecke in das Quadrat (Abb. 3)] 3: und die hier so’n Quadrat... ja sogar mehr [zeichnet zwei weitere Strecken in das Quadrat (Abb. 3)] 4: [schaut 3s auf das Tablet] 5: [macht mit den Händen drei gegenläufige Bewegungen (Abb. 4a und 4bb)] so, so, so 6: ja okay, dann sind’s sogar vier [korrigiert in seinen Notizen auf dem rechten Tablet „2 Spiegelachsen“ zu „4 Spiegelachsen“] ... vier

Richard wählt das ihm bekannte Beispiel des Quadrats, um seine Hypothese zu prüfen. Während er dieses mit zwei Symmetrieachsen zeichnet (1–2, Abb. 3), stellt er fest, dass das Quadrat nicht nur zwei, sondern „sogar mehr“ Symmetrieachsen aufweist. Diese zeichnet er in seine Skizze ein (3, Abb. 3). Anschließend hält er für drei Sekunden inne, betrachtet das Geschriebene und beginnt, die Hände in der Luft in schnellen kleinen Bewegungen aus verschiedenen Richtungen mehrmals aufeinander zu zu bewegen – Gesten, die an eine reduzierte schematische Darstellung mehrerer Falthandlungen erinnern (Abb. 4a,b).

Abb. 3
figure 3

Entwicklung einer von Richard erstellten Inskription

Abb. 4
figure 4

Zwei der drei gegenläufigen „Zusammenfaltbewegungen“

Seine Geste manipuliert hierbei virtuell räumlich-motorische Information in Form des auf dem Tablet dargestellten Quadrats ({M}) und trägt hierdurch möglicherweise dazu bei, seine gerade gemachte Entdeckung zur Anzahl der Symmetrieachsen zu verifizieren. Richard nutzt hierbei vermutlich die Eigenschaft einer Symmetrieachse, nach der beim Falten an dieser Achse die beiden Hälften der Form passgenau aufeinander zum Liegen kommen. Dass er nur dreimal (statt viermal) faltet, könnte bedeuten, dass er nicht jede der Symmetrieachsen überprüft; im Sinne einer Schematisierung durch Gesten könnte es demnach zeigen, dass er keine detailgetreue Darstellung des Vorgangs vornimmt, sondern diesen auf die Kernidee reduziert.

5.1.3 Szene 2b: Richard exploriert eine aktivierte Darstellung zur Spezifizierung einer eigenen Hypothese

Einige Minuten später notiert Richard zur genannten Aufgabe „Symmetrien sorgen für Periodizität & Betragsgleichheit in Steigungen“ und zieht zur genaueren Betrachtung dieser Hypothese eine gekrümmte Ausgangsform hinzu: Ein Ei. Nach Aktivierung der Ausgangsform in Geste ({A2}) exploriert er diese mit Bezug auf Steigungen auf dem Ei ({E2}).

1: Wenn man zum Beispiel [bewegt den Stift in der Luft über dem Tablet (Abb. 5a)] ein Ei hätte [hält kurz inne] 2: [bewegt den Stift weiter nach oben (Abb. 5b)] ja, dann läuft die Steigung 3: wenn man hoch, [macht über dem rechten Tablet eine Aufwärtsbewegung mit dem Stift, (Abb. 5c)] 4: und runter geht [macht über dem rechten Tablet eine Abwärtsbewegung mit dem Stift, (Abb. 5c)] 5: vom Hochpunkt, genau gleich also benachbarte ... benachbarte Steigungen gleich groß [schreibt auf] genau ... okay

Richard aktiviert die Darstellung eines Eies in einer Geste über dem Tablet (1, 2, Abb. 5a,b). Diese Aktivierung scheint eine anschließende Exploration dieser aktivierten Darstellung mit Blick auf die Steigung zu beeinflussen: Kurz nach dem „Zeichnen“ der zweiten Hälfte des Eies (Abb. 5b) erwähnt er die Steigung (2). Daraufhin wiederholt er die vorangegangene Bewegung und beschreibt verbalsprachlich die Bewegung am Ei entlang zur oberen Spitze des Eies („wenn man hoch [geht]“, 3, Abb. 5c) und am Ei entlang nach Passieren der Spitze („und runter geht“, 4, Abb. 5c). Die abschließende Bemerkung (5) schafft den expliziten Bezug zur Spitze als „Hochpunkt“. Zudem erwähnt Richard hier auch wieder den Zusammenhang zur Steigung und konkretisiert seine zuvor gemachte Hypothese mit „benachbarte Steigungen gleichgroß“ – eine Beobachtung, die aus der gestischen Exploration der aktivierten Repräsentation des Eies hinsichtlich der Steigung auf beiden Seiten der ‚Spitze‘ hervorgegangen sein könnte.

Abb. 5
figure 5

Richard aktiviert die Form eines Eies (ab) und fokussiert anschließend auf die Spitze des Eies (c)

5.1.4 Zusammenfassung

Alle in diesem Abschnitt dargestellten Szenen beschäftigten sich mit dem Überprüfen von Vermutungen in verschiedenen Ausprägungen. So prüft Birger in Szene 1 eine durch das Lösungsbeispiel vorgegebene Aussage auf Basis der vorgegebenen Repräsentation. Die falsche Annahme, die Birger zugrunde legt, führt nach einer ersten Aktivierung der entsprechenden Strecke auf der horizontalen Achse zu einer genaueren Exploration dieser Strecke während der Suche einer Erklärung für die Diskrepanz zwischen seiner Annahme und der vorgegebenen Aussage. Auch Richard sucht in Szene 2a nach Bestätigung für eine – hier selbst getroffene – Aussage. Sein gestischer Beitrag zur Prüfung der Symmetrieachsen zeigt sich in der Andeutung von Faltungen, durch die das zugrundeliegende Objekt virtuell manipuliert wird. Anders als bei Birger, bei dem die Erklärung einer vorgegebenen Aussage zum Realteil durch gestisches Abtragen auf der reellen Achse überdacht und exploriert wird, ist das Vorgehen zur Prüfung der Symmetrieaussage für Richard klar gegeben und kann daher schematisiert angewandt werden. Bei Birger steht also zunächst die Exploration des Prozesses (das graphische Abtragen des horizontalen Abschnitts) im Vordergrund, während Richard den Prozess (das Falten) nutzen kann, um durch Manipulation den Abgleich der Produkte zu unterstützen. Hierbei spielt zudem das Vorhandensein von adäquaten Darstellungen eine Rolle: Birger kann auf eine vorliegende Repräsentation zurückgreifen, während Richard eine solche im Gestenraum vor seinem Körper eigenständig wählt und verwendet.

Zudem werden auch selbstkreierte Darstellungen exploriert, wie bei Richard in Szene 2b zu sehen ist. Hierbei wird die aufgestellte Aussage durch die Betrachtung eines spezifischen Falls – dem Ei – validiert. Um diesen Fall darzustellen, aktiviert Richard die Ei-Repräsentation gestisch, bevor er in dieser fokussiert die Steigung um einen Grenzfall (den „Hochpunkt“) exploriert. Der Unterschied der gestischen Explorationen in Szene 1 und Szene 2b besteht in der Ausführung: Die Exploration eines Prozesses, der in irgendeiner Weise unklar oder fraglich ist, ist in Szene 1 manifestiert als {E2}; eine Exploration hinsichtlich eines teilweise ergebnisoffenen Produktes, zeigt sich in Szene 2b, ebenfalls manifestiert als {E2}.

5.2 Kovariation und funktionales Denken

Während das Prüfen und Begründen von Vermutungen eine typische allgemeine Tätigkeit beim mathematischen Arbeiten und Lernen beschreibt, zeigen sich kognitive Funktionen von Gesten auch bei einer spezifischer an den mathematischen Inhalt gebundenen Tätigkeit: dem Denken in funktionalen Abhängigkeiten. Die Frage, wie sich ein mathematischer Sachverhalt oder ein Objekt verändert, wenn sich eine Einflussgröße verändert, ist grundlegend u. a. für das Erlangen eines Problem- und Begriffsverständnisses als auch das Finden von mathematischen Vermutungen (u. a. Klein 1968 [1933]; Krüger 2000). Das Kovariieren verschiedener Objekte, Größen etc. tritt beim Erlernen mathematischer Sachverhalte nicht nur im Bereich von Funktionen, sondern weit darüber hinaus häufig auf (Krüger 2000; Roth 2005).

In den folgenden Szenen haben die beiden Lernenden (Datensatz B) die Lösung von Aufgabe 1 (s. Abschn. 4.1.2) bereits bearbeitet und widmen sich nun Aufgabe 4. Die konkrete Aufgabenstellung zu Aufgabe 4, die sowohl Szene 3 als auch Szene 4 zugrunde liegt, lautet:

Beschreiben Sie die Veränderung des Graphen, wenn die Ausgangsform rotiert wird (Anmerkung: Der Startpunkt liegt weiter im positiven Bereich der x‑Achse).

Hier wird bereits in der Aufgabenstellung das Denken in funktionalen Abhängigkeiten – Veränderung des Graphen bei Änderung der definierenden Ausgangsform – angeregt.

5.2.1 Szene 3: Richard manipuliert eine Ausgangsform und exploriert zweierlei Auswirkungen

Richard wählt bei der Bearbeitung der Aufgabe (dargestellt auf einem rechts vor ihm liegenden Tablet) das Quadrat mit der Seitenlänge \(\sqrt{2}\) und den Eckpunkten (1|0), (0|1), (−1|0) und (0|−1) aus Aufgabe 1 (Abb. 6) als Ausgangsform, um die Veränderung des entsprechenden Graphen zu untersuchen. Hierbei nimmt er die Darstellung dieses Quadrates und die schrittweise dargestellte Entwicklung des zugehörigen Graphen zur Hand, wie sie in Aufgabe 1 auf dem links vor ihm liegenden Tablet vorgestellt sind. Durch gestische Manipulation in Form einer imaginären Drehung des Quadrates deutet er eine Veränderung der unabhängigen Größe des funktionalen Zusammenhangs an und exploriert anschließend die potentielle Veränderung der abhängigen Größe als Verschiebung des resultierenden Graphen.

Abb. 6
figure 6

Ausgangsform des Quadrates auf dem von Richard aus gesehen linken Tablet

1: Wenn ich das hier rotiere, [zeigt mit allen Fingern der linken Hand auf die Abbildung auf dem linken Tablet und dreht die Hand dann um ca. 90° gegen den Uhrzeigersinn (Abb. 7a und 7b)] den Uhrzeigersinn (3s) [scrollt im von ihm aus linken Tablet etwas herunter] 2: daannn (1s) würde ... [bewegt linke Hand über dem Koordinatensystem von links nach rechts (Abb. 8a und 8b), schaut oben auf das linke Tablet und wieder nach unten] der ganze Graph (4s) 3: was’ [schaut auf das rechte Tablet] ach der Startpunkt [schaut auf das linke Tablet], 4: okay der Startpunkt muss nur im Po- .. okay alles klar, [währenddessen zeigt er mit dem Finger auf einen Punkt auf der x-Achse der Abbildung, rotiert die Fingerspitze um den Ursprung (Abb. 9)]

Richards verbale Äußerung „Wenn ich das hier rotiere“ (1), gemeinsam mit dem indexikalischen Verweis seiner Geste auf die Abbildung auf dem linken Tablet, lässt vermuten, dass er sich zuerst der Variation der Ausgangsform widmet: Er hält seine Finger knapp über die Ausgangsform auf dem Tablet, dreht Hand und Finger anschließend um ca. 90° gegen den Uhrzeigersinn (Abb. 7a,b) und manipuliert auf diese Weise die dargestellte Ausgangsform in seiner Geste ({M}).

Abb. 7
figure 7

a Rotation bzw. Manipulation der Ausgangsform. b Rotation bzw. Manipulation der Ausgangsform (Detail)

Seine folgende Äußerung leitet mit „daannn“ (2) den zweiten Teil der Wenn-Dann-Betrachtung ein, also hier die Auswirkungen der Drehung der Ausgangsform auf den resultierenden Graphen. Richard scrollt auf dem von ihm aus linken Tablet zu einem Koordinatensystem, welches in der Aufgabenlösung genutzt wurde, um einen Schritt bei der Erstellung des resultierenden Graphen – das Einzeichnen charakteristischer Punkte – darzustellen (Abb. 8a). Hier sind fünf charakteristische Punkte eingezeichnet, aus denen in der Aufgabenlösung der Graph erstellt wurde.

Abb. 8
figure 8

a Ausschnitt des Arbeitsblattes mit charakteristischen Punkten der alternativen Sinusfunktion. b Gestische Exploration auf Basis des resultierenden Graphen

Hierin betrachtet er nun die hypothetische Auswirkung, die die Rotation der Ausgangsform auf den Graphen haben könnte: Seine Worte, „würde … der ganze Graph“ (2), werden gestisch durch eine schnelle Bewegung parallel zur horizontalen Achse des Koordinatensystems nach rechts ergänzt (Abb. 8b). Die Geste exploriert die mögliche Auswirkung auf den Graphen bzw. seiner Punkte (2), schematisiert durch die Veränderung eines beispielhaften Punktes – und damit aller Punkte („der ganze Graph“) – nach rechts ({E2}).

Nach „der ganze Graph“ bricht Richard ab und geht sprachlich nicht weiter auf die Veränderung des Graphen ein. Nach ca. vier Sekunden äußert er fragend „Was“ (3) und schaut auf das von ihm aus gesehen rechte Tablet, wo die Aufgabenstellung inklusive der Anmerkung zu sehen sind. Seine Äußerung „ach der Startpunkt, okay, der Startpunkt muss nur im Po-…“ (3–4) lässt vermuten, dass er sich während der Pause nach dem Wort „Graph“ offenbar mit der Frage beschäftigt hat, wie sich einzelne Punkte verschieben. Er fokussiert vermutlich konkret auf den Startpunkt des Graphen, möglicherweise initiiert durch die Anmerkung zur Aufgabe, was durch seine verbale Aussage gestützt wird. Diese wird begleitet durch eine Geste: Er setzt seinen Finger in der Abbildung der Ausgangsform auf dem linken Tablet auf (0|1) – den Startpunkt – und bewegt ihn in einer leicht bogenförmigen Bewegung zu (1|0) (Abb. 9). Hierbei könnte seine Geste explorieren, wie sich bei der von ihm hypothetisch durchgeführten Drehung der Ausgangsform vom Punkt (1|0) auf den Punkt (0|1) drehen würde, so dass danach für ihn „alles klar“ (4) zu sein scheint.

Abb. 9
figure 9

Abschließende Exploration auf Basis der Ausgangsform

Neben dem bereits betrachteten funktionalen Zusammenhang, der sich repräsentationsübergreifend darstellt, deutet sich bei Richard hier ein weiterer funktionaler Zusammenhang an, der in nur einer Repräsentation verortet ist: Er scheint hierbei seinen ersten Ansatz, in dem er den ganzen Graphen betrachtet (2), auf einen einzelnen Punkt zu konkretisieren: Die unabhängige Größe ist demnach immer noch die Position des Quadrates und die abhängige nun die Position des Startpunktes.

5.2.2 Szene 4: Mats manipuliert eine Ausgangsform und exploriert die Auswirkungen auf den zugehörigen Graphen, unterstützt von einer Aktivierung der konkreten Änderung innerhalb der Ausgangsform

Mats bearbeitet die gleiche Aufgabe zur Auswirkung der Rotation der Ausgangsform auf die Gestalt des resultierenden Graphen. Anders als Richard wählt Mats jedoch das mit den Seiten parallel zur horizontalen Achse liegende Quadrat mit der Seitenlänge 2 und den Eckpunkten (1|1), (−1|1), (−1|−1) und (1|−1) aus Aufgabe 2 als Ausgangsform (siehe Abb. 11). Auch er manipuliert die Ausgangsform gestisch durch das Andeuten einer Drehung und exploriert, wie sich dies auf den resultierenden Graphen auswirken würde (Abb. 10).

Abb. 10
figure 10

Manipulation der Ausgangsform

Abb. 11
figure 11

Eingezeichnete Diagonale in der Ausgangsform

1: Im Prinzip, wenn ich [legt je zwei Finger an zwei Ecken des Quadrats (Abb. 10)] den hier rotier’ [bewegt Hände simultan ca. 25° gegen den Uhrzeigersinn in einem Kreisbogen um den Ursprung (Abb. 10), legt Hände ab] 2: dann isser nicht mehr bei Eins (3s) Und bei Eins kann ich versuchen, dreh bei Eins [–––] ... ok warte (4s) 4: Die Strecke is ja [fährt eine Diagonale des Quadrats von links oben nach rechts unten, zeichnet sie dann (Abb. 11)] [–––] (6s) 5: Zwei [fährt mit dem Stift in der Luft zwei Seiten des Quadrats ab] plus [–––] (15s) [schreibt Berechnung Länge Diagonale auf] [–––] (4s) 6: Im Prinzip würd’ dann ja dödömdödom (7s) [bewegt Stift langsam über die horizontale Achse des resultierenden Graphen, (Abb. 12)] (5s) [schreibt eine Antwort auf das Tablet (50s) und endet mit dem zweiten Aufzählungspunkt, (siehe Abb. 15)] 7: Und der hat halt diese ... [bewegt die rechte Hand vor sich in der Luft wiederholt von links nach rechts, Abb. 13] zwischen A wo zum Beispiel dieses öh 8: [legt Hand in Schreibhaltung auf das Tablet] wo die [hebt Hand wieder und bewegt die rechte Hand wiederholt vor sich in der Luft auf und ab, Abb. 14] keine Höhenveränderung hat [schreibt zweiten Teil der Antwort]

Durch die Äußerung „Im Prinzip, wenn ich den hier rotier“ (1) leitet auch Mats eine Wenn-Dann-Betrachtung ein. Hierbei manipuliert auch er die Ausgangsform durch gestisch angedeutete Rotation, allerdings nicht als Gesamtdrehung, sondern durch imaginäres Greifen der Eckpunkte \(B\)(−1|1) und \(D\)(1|−1) des Quadrates, die er dann gleichförmig etwas entgegen des Uhrzeigersinns bewegt. Diese gestische Manipulation lässt ihn möglicherweise eine Bewegung in das Quadrat im Sinne des beweglichen Denkens hineinsehen (Roth 2005) und könnte damit zu einer Erkenntnis bezüglich der Änderung der unabhängigen Größe mit Fokus auf den Punkt \(B\) („dann isser nicht mehr bei Eins“, 2) bzw. dessen \(y\)-Koordinate führen.

Nach der Bestimmung der Diagonalen des Quadrates (4–5) wendet er sich dem unteren Koordinatensystem zu, in dem der in Aufgabe 2 erstellte Graph abgebildet ist (6). Hier scheint er zu versuchen nachzuvollziehen, welche Auswirkungen die Variation der Ausgangsform auf den Graphen hat, der die \(y\)-Koordinaten aller Punkte des Quadrates abbildet. Dabei bewegt er zuerst den Stift auf der horizontalen Achse unterhalb des Punktes A und dann in positive Richtung etwas entlang der horizontalen Achse (Abb. 12). Seine lautsprachliche Äußerung „im Prinzip würd dann ja“ (6) legt nahe, dass er hier tatsächlich die Auswirkungen der vorgenommenen Rotation auf den Graphen exploriert ({E2}). Dies wird auch durch seine anschließende Verschriftlichung gestützt: Seine schriftliche Antwort (erster Aufzählungspunkt in Abb. 15) bestätigt, dass Mats mit dem Stift die Veränderung des Graphen bzw. einzelner Punkte entlang der horizontalen Achse nachvollzieht: In diesem Sinne würde das „in die Länge ziehen“ des Graphen durch eine Verschiebung jedes einzelnen Punktes erreicht (Abb. 15).

Abb. 12
figure 12

Gestische Exploration des resultierenden Graphen

Als letztes Zeichen des ersten Antwortteils setzt er den zweiten Aufzählungspunkt (Abb. 15), der vermuten lässt, dass Mats im Folgenden noch eine weitere Beobachtung notieren möchte (6). Seiner Äußerung „Und der hat halt diese …“ folgt die mehrfache Ausführung einer Handbewegung vor sich im Gestenraum: Er hält Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen zusammen und zeichnet mehrere Linien von links nach rechts (Abb. 13). Seine Äußerung „zwischen A wo zum Beispiel dieses öh“ (7) und die Thematisierung der Höhe zweier Punkte (schriftliche Antwort) lassen vermuten, dass er mit diesen Gesten die Verbindung zwischen den Punkten \(A\) und \(B\) referenziert: Mats zeichnet die Linie zwischen den beiden Punkten \(B\) und \(A\) der Ausgangsform nach, die nun nach der Drehung der Ausgangsform nicht mehr parallel zur \(x\)-Achse liegt, sondern gekippt ist, was in einer „ständigen Höhenänderung zwischen den Punkten“, eben \(B\) und \(A\), resultiert, während vorher zwischen \(B\) und \(A\) keine Höhenänderung zu finden war.

Abb. 13
figure 13

Gestische Aktivierung während des Verschriftlichungsprozesses, erster Teil

Die zeichnenden Gesten (Abb. 13) sowie die Begleitung der sprachlichen Äußerung durch das folgende Auf- und Ab-Bewegen der rechten Hand (Zeile 8, Abb. 14) erhalten hier eine räumlich-motorische Repräsentation aufrecht ({A1}), was dazu beitragen kann, passende Worte für das Aufschreiben der Antwort zu finden.

Abb. 14
figure 14

Gestische Aktivierung während des Verschriftlichungsprozesses, zweiter Teil

Abb. 15
figure 15

Zwei Aufzählungspunkte in Mats’ Beantwortung von Aufgabe 4

5.2.3 Zusammenfassung

Beide Szenen legen nahe, dass die Gesten hier ähnliche kognitive Funktionen erfüllen: Die Variation der Ausgangsobjekte wird durch Gesten unterstützt, mit denen die jeweiligen räumlich-motorischen Informationen manipuliert werden (zudem durch den Ausdruck „wenn“ begleitet). Die resultierenden Veränderungen werden mithilfe von Gesten exploriert, zum einen innerhalb derselben Repräsentation (Richard), zum anderen im Koordinatensystem des resultierenden Graphen (Richard und Mats). Im Fall von Mats werden die Ergebnisse der Exploration dann durch entsprechende Gesten im Sinne eines Aufrechterhaltens ({A1}) aktiviert.

Funktionales Denken erweist sich – insbesondere, wenn mehrere Repräsentationen und Objekte daran beteiligt sind – als komplexer Denkvorgang, in dem mehrere Dinge beweglich gedacht werden müssen. Kita et al. (2017) weisen darauf hin, dass komplexere Denkvorgänge generell den Gebrauch von Gesten und speziell die Funktionen des Manipulierens und Explorierens anregen (S. 248, S. 250–251). Dies lässt den Gestengebrauch in der Form, wie er in den Szenen 3 und 4 zu beobachten war, als eine mögliche typische Ausprägung beim Denken in funktionalen Abhängigkeiten vermuten.

5.3 Arbeiten in verschiedenen Darstellungen

In den obigen Szenen wurde in graphischen Darstellungen gearbeitet – eine Darstellungsform, in der Gestengebrauch häufig zu beobachten ist (z. B. Arzarello et al. 2009; Chen und Herbst 2013; Krause und Bikner-Ahsbahs 2012). Gesten treten jedoch auch bei der Beschäftigung mit der symbolischen Darstellungsform auf und scheinen hier sozial wie auch individuell eine Rolle beim Lernen von Mathematik zu spielen (Goldin-Meadow et al. 2009; Krause und Salle 2016; Kiesow 2016).

5.3.1 Szene 5: Kaja fasst zusammen und gliedert beim Nachvollziehen innerhalb der symbolischen Darstellung auf

Bei der Bearbeitung eines Lösungsbeispiels zu den komplexen Zahlen vollzieht Kaja die Multiplikation von komplexen Zahlen in Polarkoordinaten nach. In der mehrzeiligen Rechnung werden zwei komplexe Zahlen umgeformt und letztendlich in Polarkoordinatenform dargestellt. Kurz nachdem Kaja die Überschrift des Abschnitts vorgelesen hat, beginnt die folgende Szene, in der Kaja den Schritt von der zweiten zur dritten Zeile und den Schritt von der dritten zur vierten in den Blick nimmt. Hierbei spielen sowohl das Aufgliedern ({S1}) wie auch das Zusammenfassen ({S2}) dargestellter räumlich-motorischer Informationen durch Gesten eine zentrale Rolle beim Nachvollziehen der Rechnungen:

1: Dann wurde [linker kleiner Finger liegt auf #1-L, Spitze des Stifts in der rechten Hand zeigt auf #2-R] quasi t nach vorne [bewegt Spitze des Stifts von #2-R nach #1-L] gezogen (2s) [bewegt Stiftspitze schnell von #1-L zurück zu #2-R, dann zu #3-R] 2: [legt kleinen Finger der linken Hand auf #4-L, legt Stiftspitze auf (#5-R)] ach so [nimmt kleinen Finger weg und legt Mittel- und Zeigefinger der linken Hand auf (#4-L)] 3: (flüstert:) so [zeigt mit Stiftspitze auf (#3-R)] so [zeigt mit Stiftspitze auf (#5-R)] so [zeigt mit Stiftspitze auf (#6-R)] so [zeigt mit Stiftspitze auf (#7-R)] 4: äh ja, dann , öhm, werden die [setzt Zeigefinger der linken Hand auf (#8-L), Stiftspitze auf (#9-R)] eckigen [bewegt gleichzeitig Zeigefinger auf (#10-L) und Stiftspitze auf (#11-R)] Klammern ausgelöst (1s) .. aufgelöst [wiederholt diese Bewegung], 5: ja, öhm, nach der Regel, mit [bewegt Stiftspitze schnell und wiederholt in Bögen zwischen #4-L und dem Ende von Zeile 3 hin und her] jedem zu multiplizieren


Kaja identifiziert eine Umordnung der Faktoren von Zeile 2 nach Zeile 3, in der „t nach vorne gezogen“ wurde (1, siehe auch Abb. 16). Dabei indiziert sie zunächst die ursprüngliche Position des Faktors \(t=\sqrt{9,25}\) in Zeile 2 mit der rechten Hand (#2‑R) und gleichzeitig die neue Position in Zeile 3 mit der linken Hand (#1-L) bevor sie das ‚nach vorne ziehen‘ von t gestisch-virtuell durch ein Bewegen der rechten Hand von #2‑R zu #1‑L ausführt. Direkt hieran anschließend bewegt Kaja die rechte Hand zu #3‑R, wo zuvor \(\sqrt{9,25}\) (in Zeile 2) stand, durch das ‚nach vorne ziehen‘ jetzt jedoch nicht mehr ist. Dies könnte ihre Aufmerksamkeit auf den Summanden \(\cos (80,5^{\circ})\) in Zeile 3 lenken.

Abb. 16
figure 16

Ausschnitt des Lösungsbeispiels, das Kaja bearbeitet, mit den jeweiligen Positionen ihrer Hände (L für linke Hand, R für rechte Hand) bzw. des Stiftes

Sie scheint sich nun zunächst den Komponenten in den Zeilen 3 und 4 zuzuwenden, die mit \(\cos \left(45^{\circ}\right)\) multipliziert werden. Sie indiziert zunächst \(\cos (45^{\circ})\) in Zeile 3 (#4-L), dann den folgenden Faktor \(\cos (80,5^{\circ})\) (#5-R). Ihr verbaler Ausdruck „ach so“ (3), gemeinsam mit dem nun folgenden strukturierten Vorgehen, indem sie in Zeile 3 und 4 jeweils nacheinander gleiche Komponenten identifiziert, lässt vermuten, dass sie hier den in Zeile 1 indizierten Faktor \(\cos (80,5^{\circ})\) wiedererkennt. Mit der rechten Hand identifiziert sie nun, von wo nach wo der Faktor von Zeile 3 zu Zeile 4 ‚wandert‘, während sie gleichzeitig die linke Hand auf cos (45°) als gemeinsamen Faktor hält. Dies kann als Aufgliedern relevanter Informationen innerhalb der symbolischen Darstellung gesehen werden ({S1}): Das gesamte Ausmultiplizieren wird so in aufeinanderfolgende Schritte zerlegt, was Kaja durch das mehrfache „so“ (3) auch verbal ausdrückt. Dies ermöglicht ihr, den Prozess des Ausmultiplizierens visuell zu strukturieren und so die jeweiligen Schritte nacheinander zu fokussieren.

In der folgenden Äußerung wird deutlich, dass sie die Umformung auch allgemeiner nachvollzieht. Während sie verbal expliziert, dass „die eckigen Klammern […] aufgelöst“ (4) werden, fasst sie die Terme, die in Zeile 3 in den eckigen Klammern stehen, gestisch (4, siehe Abb. 17) im Sinne von {S2} zusammen. Anschließend daran bewegt sie ihre Hand mehrere Male über den beiden Termen hin und her, simultan zu ihrer verbalen Äußerung „mit jedem zu multiplizieren“ (5) und deutet hierbei gestisch die komponentenweise Multiplikation beim Ausmultiplizieren der Klammern an.

Abb. 17
figure 17

Ausschnitt des Lösungsbeispiels, das Kaja bearbeitet, mit den jeweiligen Positionen ihrer Hände (L für linke Hand, R für rechte Hand) bzw. des Stiftes

5.3.2 Szene 6: Julia gliedert Informationen bei der Verknüpfung graphischer und symbolischer Darstellungen auf

Julia vollzieht ebenfalls ein Lösungsbeispiel zu den komplexen Zahlen nach. Sie gelangt zum dritten Teil in diesem Beispiel, der geometrischen Darstellung des Produktvektors. Während des Bearbeitens dieses dritten Teils zieht Julia immer wieder Informationen aus den ersten beiden Teilen des Lösungsbeispiels heran und indiziert diese gestisch mit dem Stift. Diese Gesten gliedern Informationen zu den beiden Ursprungsvektoren \(s\) und \(t\) auf ({S1}), so dass diese Informationen mit Hinblick auf die Entstehung des Produktvektors einzeln verarbeitet und dann wieder miteinander verbunden werden können.

1: Geometrisch (4s) ham die hier wieder eingezeichnet einmal s [fährt Vektor s im Koordinatensystem mit dem Stiftende vom Ursprung aus entlang (#1) (Abb. 18)] 2: mit dem Winkel von Alpha [zeigt auf die im vorigen Teil des Lösungsbeispiels bestimmte Winkelgröße (#2)] 135 Grad 3: einmal t [fährt den Winkel 225° im unteren Koordinatensystem ab (#3)] mit dem Winkel von 225 Grad [fährt zweimal schnell hintereinander den Winkel 225° im oberen Koordinatensystem ab (#4)] 4: und genau, eben Gamma [zeigt auf den Vollwinkel im unteren Koordinatensystem (#5)] was man [bewegt Stiftende zwischen Vollwinkel (#5) und dem Ergebnis der Rechnung (#6) zweimal schnell hin und her] dann ja hier eben wieder sehen kann dass sich eben [fährt den Vollwinkel auf Pfad von #3 ab] das beides [bewegt den Stift mehrfach im Vollwinkel hin und her] zusammen ergänzt zu 360 Grad (4s) Ja

Um die geometrische Darstellung des Ergebnisvektors nachzuvollziehen, verknüpft Julia Informationen aus allen Teilen des Lösungsbeispiels. Sie identifiziert die einzelnen Pfeildarstellungen der Faktoren, „einmal \(s\)“ (1 und 2) und „einmal \(t\)“ (3) mit Angabe der entsprechenden zugehörigen Winkel (s. Abb. 18). Zunächst deutet sie den eingezeichneten Vektor \(s\) durch gestisches Abfahren (1, #1) an, um dann die zugehörige Winkelgröße von Alpha zu benennen und durch ihre Geste den Rückbezug auf das Ergebnis der Rechnung im ersten Teil des Lösungsbeispiels zu explizieren (2, #2). Mit Bezug auf den Vektor \(t\) fährt sie den Winkelbogen des Vektors in der geometrischen Darstellung ab (#3), bevor sie die konkrete Winkelgröße benennt und gleichzeitig den Winkelbogen analog im oberen Koordinatensystem abfährt (#4). Den resultierenden Vektor \(s\cdot t\) benennt Julia nicht, sondern geht direkt auf die Winkelgröße Gamma ein (4): Sie zeigt auf den resultierenden Vollwinkel (#5), springt dann gestisch zwischen dem Vollwinkel und dem Ergebnis der längeren Berechnung des Produkts hin und her (#5, #6) und bemerkt, dass „man eben wieder sehen kann dass sich eben das beides zusammen ergänzt zu 360 Grad“ (4).

Abb. 18
figure 18

Julias Bearbeitung des Lösungsbeispiels, inkl. der Positionen, auf die sie mit dem Stift in der rechten Hand zeigt

Julias Gesten identifizieren somit Informationen zu den Winkelgrößen aus zwei verschiedenen symbolischen und zwei verschiedenen graphischen Darstellungen und gliedert diese auf ({S1}). Ähnlich wie bei dem Beispiel des Zylinders (siehe Abschn. 2.3), bei dem verschiedene Gesten jeweils auf verschiedene Komponenten des Zylinders verweisen und somit die Beschreibung gliedern, verweisen Julias Gesten auf verschiedene darstellungsübergreifende Ressourcen – jeweils nur eine Geste bzw. Ressource zu einem Zeitpunkt – die die Darstellung der Vektoren im Koordinatensystem begründen.

5.3.3 Zusammenfassung

In den Szenen 5 und 6 werden räumlich-motorische Informationen innerhalb der symbolischen Darstellungsform und zwischen symbolischer und graphischer Darstellungsform koordiniert. In den hier betrachteten Beispielen, aber auch in weiteren betrachteten Fällen, scheinen die kognitiven Funktionen des Zusammenfassens und Aufgliederns auf zwei Arten eine Rolle beim Nachvollziehen dieser Vorgänge zu spielen:

Durch Aufgliedern und Zusammenfassen von relevanten Informationsbestandteilen (Kaja) können Zusammenhänge in verschiedenen Zeilen der Rechnung miteinander in Beziehung gesetzt und verfolgt werden. Solche Strukturierungen lassen sich in dieser Studie häufig beobachten, wenn Studierende symbolisch dargestellte Umformungen nachvollziehen. Das Aufgliedern scheint hierbei hilfreich zu sein, indem es Komponenten zerlegt, die relevant sind innerhalb eines Prozesses, während das Zusammenfassen Informationen vereint, bei denen die gleichzeitige Betrachtung im Vordergrund steht.

Allgemeiner sind aber auch darstellungsübergreifende Verknüpfungen, wie wir sie bei Julia gesehen haben, beim Lernen mit Lösungsbeispielen dieser Art häufig zu beobachten. Dabei wird oft die Entwicklung der mathematischen Objekte während der dargestellten Aufgabenlösung – in gewisser Hinsicht deren „Geschichte“ – am Ende gestisch nochmals aufgegriffen und zusammengefasst.

6 Fazit, Diskussion und Ausblick

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit selbst-gerichteten kognitiven Funktionen von Gesten beim mathematischen Denken. Auf Basis der Gesture-for-Conceptualization-Hypothesis (Kita et al. 2017) konnten hierbei in exemplarischen Szenen aus zwei Studien typische Manifestationen der im GFCH-Framework beschriebenen kognitiven Funktionen Aktivieren, Manipulieren, Strukturieren und Explorieren im Kontext des mathematischen Arbeitens rekonstruiert werden. Dies umfasst das Aufrechterhalten bereits aktiver {A1} und die Aktivierungen neuer räumlich-motorischer Informationen {A2}, das Manipulieren {M}, Aufgliedern {S1} und Zusammenfassen {S2} solcher Informationen sowie das Explorieren räumlich-motorischer Informationen zur Gewinnung neuer Einsichten {E1} und die Exploration von Ideen hinsichtlich ihres Erfolgs oder Misserfolgs {E2}. Zudem konnten deutliche Hinweise für die Rolle der Schematisierung bei der Organisation von Denkprozessen in Kombination mit den vier Funktionen aufgezeigt werden.

Kita et al. gehen davon aus, dass Gestenproduktion stets alle vier Funktionen in sich tragen kann, wobei auch im Zusammenspiel jedoch oft eine Funktion in den Vordergrund tritt, die besonders hilfreich hinsichtlich der auszuführenden Aufgabe sein könnte (2017, S. 253). Diese auszuführenden Aufgaben stehen in unserem Fall in starkem Zusammenhang mit drei mathematischen Tätigkeiten, die sich im Schritt der Komparation der analysierten Fälle zeigten und in denen die beschriebenen Funktionen in jeweils ähnlichen Konstellationen rekonstruiert werden konnten:

  1. 1.

    Beim Prüfen und Begründen von mathematischen Vermutungen und Aussagen zeigen sich deutliche Hinweise auf die Aktivierung räumlich-motorischer Informationen, die für das Nachvollziehen des zugrundeliegenden Sachverhalts bzw. einer vorliegenden Aussage eingesetzt werden (Szene 1). Hypothesen, bei denen die Beantwortung offen ist, sowie vorgegebene Aussagen können exploriert werden, um herauszufinden, welche Auswirkungen eine Handlung hinsichtlich der Hypothese hat (Szene 2b) und welche Schritte zu einer falschen Aussage geführt haben (Szene 1). Besteht in diesem Rahmen bereits eine starke Vermutung, wie ein mathematischer Sachverhalt beschaffen ist, so lassen sich Manipulationen von räumlich-motorische Informationen rekonstruieren, bei denen beispielsweise Eigenschaften oder das Endprodukt eines mathematischen Vorgangs überprüft werden (Szene 2a). Die Exploration durch Gesten kann so dazu beitragen, sich mit räumlich-motorischen Informationen in vorgegebenen Aussagen zunächst vertraut zu machen. Liegen diesen Informationen eigene Vermutungen zugrunde, können die räumlich-motorischen Informationen zur Prüfung solcher Vermutungen zielgerichtet gestisch manipuliert werden.

  2. 2.

    Das Denken in funktionalen Zusammenhängen ist geprägt von der Kovariation zweier Größen, die voneinander abhängig sind. Veränderungen der unabhängigen Größe zeigen sich in den Szenen 3 und 4 als Manipulation der jeweiligen räumlich-motorischen Informationen durch Gesten. Sind die Auswirkungen der Manipulation der Ausgangsgröße nicht unmittelbar klar, können Gesten zunächst eine Auswirkung der Änderung der unabhängigen Größe innerhalb der Darstellung explorieren, um Fragen zu beantworten wie ‚Wie verändert ein spezieller Punkt auf dem Quadrat seine Position, wenn ich das Quadrat drehe?‘ (Szene 4). Mit der Kenntnis dieser Auswirkungen kann dann die Exploration der räumlich-motorischen Informationen in der eigentlichen Zielgröße bzw. ihrer Darstellung durchgeführt werden (Szene 3 und 4). Durch die hohe kognitive Anforderung an das funktionale Denken wird hier vermutlich nicht nur der Gestengebrauch gefördert, der sich durch Explorieren und Manipulieren auf das Denken auswirkt; die selbst-gerichteten Funktionen des Aktivierens der explorierten Auswirkung auf räumlich-motorische Informationen in Szene 4 könnten auch die Sprachproduktion im Sinne des Findens einer passenden Formulierung betreffen. Durch die Schematisierung und die damit zusammenhängende Aktivierung bestehender räumlich-motorischer Informationen könnten Gesten so möglicherweise die kognitive Komplexität und den Inhalt der sprachlichen Äußerung verändern (Wagner et al. 2004).

  3. 3.

    Beim Erfassen von und Arbeiten mit vorliegenden graphischen oder symbolischen Darstellungen können räumlich-motorische Informationen mithilfe von Gesten zusammengefasst bzw. aufgegliedert werden. Dies kann beispielsweise die Strukturierung in Form eines Zusammenfassens von verschiedenen Referenzen auf dasselbe mathematische Objekt u. a. in verschiedenen Darstellungsweisen betreffen (Szene 6) oder die Aufgliederung als Zerlegung von Umformungen in symbolischen Ausdrücken (Szene 5). Dies korrespondiert mit den eingangs beschriebenen Studien von Goldin-Meadow, Kolleginnen und Kollegen (z. B. Goldin-Meadow 2003). Die Anordnung der Komponenten in symbolischen Darstellungen definiert die Bedeutung eines Ausdrucks und stellt räumlich-motorische Informationen dar. Diese spielen eine wesentliche Rolle beim symbolischen Arbeiten, wodurch eine Schematisierung dieser räumlich-motorischen Informationen hinsichtlich des Strukturierens begünstigt werden könnte.

Kita et al. (2017) arbeiten vor allem die Rolle des packaging (Strukturieren) für die Verbalisierung von Sachverhalten heraus. In den vorgestellten Fallstudien wird darüber hinaus deutlich, wie das Strukturieren von räumlich-motorischen Informationen – also das Aufgliedern und Zusammenfassen – ebenfalls Einfluss auf die kognitiven Prozesse haben könnte, beispielsweise auf das Integrieren verschiedener Darstellungen oder das Nachvollziehen symbolischer Rechnungen. Die mathematischen Tätigkeiten sind nicht trennscharf. So spielen funktionale Zusammenhänge beispielsweise auch in Szene 2b eine Rolle, wenn Richard die Position auf dem Ei mit der Steigung in Verbindung bringt. Zudem können die kognitiven Funktionen der Gesten in den Szenen 3 und 4 im Zusammenhang mit dem Wechsel von Darstellungen im gleichen Darstellungssystem betrachtet werden

Das Zusammenspiel verschiedener Funktionen deutet sich insbesondere in den Szenen zum funktionalen Denken an. Dem Manipulieren von Informationen im Zusammenhang mit der Ausgangsgröße folgte ein Explorieren der jeweiligen Auswirkungen. Auch wenn diese Abfolge hier lediglich in Bezug auf eine Aufgabe dargestellt wurde, gibt die Analogie zwischen Gesten-Funktionen und Inhalt Anlass zu der Vermutung, dass es sich hierbei um eine typische Sequenz bei funktionalen Zusammenhängen handelt.

Die Analysen geben zudem Hinweise darauf, dass das Aktivieren von Informationen in mathematischen Lern- und Denkprozessen eine wichtige Rolle einnimmt. So arbeitet Richard in Szene 2b auf Basis der Aktivierung des Eies zentrale Eigenschaften bezüglich des resultierenden Graphen heraus. Mathematisches Arbeiten befasst sich jedoch insbesondere im Rahmen universitärer Bildung und Forschung vor allem mit Objekten und Konzepten, die zwar in einer graphischen Repräsentation darstellbar sind, oftmals jedoch lediglich symbolisch dargestellt werden. In diesem Rahmen könnte dem Aktivieren räumlich-motorischer Informationen eine wichtige Bedeutung beim mathematischen Denken zukommen. Inwieweit sich dies bestätigen lässt, müssen jedoch weitere Studien zeigen.

Im Rahmen der durchgeführten Studie fiel auf, dass Episoden, die eine Rekonstruktion kognitiver Funktionen von Gesten zuließen – vor allem auch abseits des Strukturierens –, mehrfach beim Arbeiten mit geometrischen Darstellungen beobachtet werden konnten. Eine sich diesen Ergebnissen anschließende Frage ist, inwieweit räumlich-motorische Informationen beim Arbeiten mit symbolischen Ausdrücken aktiviert, manipuliert und exploriert werden, d. h. in welchen Situationen solche Funktionen identifiziert werden können und wie sie hierbei zum mathematischen Denken beitragen. Ein erster Ansatz hierzu kann am Ende von Szene 5 vermutet werden, wenn Kaja gestisch die komponentenweise Multiplikation beim Ausmultiplizieren der Klammern durch Nachzeichnen von Bögen andeutet, durch die sie möglicherweise kurzfristig eine ihr bekannte Darstellung aktiviert.

Die Methode des Lauten Denkens bietet eine Möglichkeit, Einblicke in die Ansätze und Gedankengänge der Lernenden zu erlangen; dabei muss allerdings beachtet werden, dass die Aufforderung zum Lauten Denken auch selbst bereits Einfluss auf den Denkprozess und auf den Gestengebrauch haben kann. So entsteht hierdurch eine zusätzliche kognitive Belastung (vgl. Ericsson und Simon 1993; Pouw et al. 2014), die die Gestenproduktion anregen und somit die Frequenz der auftretenden Gesten beeinflussen kann.

Eine Möglichkeit, selbst-gerichtete kognitive Funktionen noch stärker zu isolieren, wäre die Methode des stimulated recall (siehe Kagan et al. 1963). Lässt man die Probandinnen und Probanden ihre eigenen aufgezeichneten Lernprozesse im Nachhinein kommentieren, könnten so zentrale Stellen fokussiert und die selbst-gerichteten Funktionen von den Probandinnen und Probanden selbst beschriebenen werden. Offen bleibt dabei, inwieweit auch unterbewusst eingesetzte Gesten von den Probandinnen und Probanden im Nachhinein eingeordnet werden können.

Im Kontrast zu den experimentellen Studien, die Kita et al. (2017) bei der Formulierung der GFCH heranziehen, konnten wir zeigen, wie Gesten in Denkprozessen auch außerhalb vollständig kontrollierter Settings die vier dort vorgeschlagenen Funktionen übernehmen können. Durch detaillierte Darstellung der Szenen und Beschreibung der gewählten Lesarten haben wir versucht, die Rekonstruktionen und Interpretationen intersubjektiv möglichst nachvollziehbar zu machen. Obwohl die Methode des Lauten Denkens zur Erhebung der Daten zu teilweise kontrollierten Lernsettings führt, können die Ergebnisse dieser Studie erste Anhaltspunkte für die Untersuchung natürliche(re)r Settings bieten. Während die Methode des lauten Denkens in der vorliegenden Studie ermöglichen sollte, auf die selbst-gerichteten kognitiven Funktionen im Sinne einer analytischen Trennung zu fokussieren, wird hierdurch eine Sensibilisierung für diese Funktionen in komplexeren Lernsituationen geschaffen.

Der Fokus der obigen Analysen liegt auf der Identifikation von kognitiven Funktionen bei verschiedenen Personen und in verschiedenen Denkprozessen. Dabei zeigen sich unterschiedliche Manifestationen der kognitiven Funktionen bei den unterschiedlichen Individuen. Ob und inwieweit sich individuelle Ausprägungen oder Muster beim Einsatz von Gesten hinsichtlich der Schematisierung und der kognitiven Funktionen zeigen, geht jedoch über diese Studie hinaus und bleibt eine offene Frage für weitere Untersuchungen.

Langfristig soll der vorliegende Beitrag zu einem besseren Verständnis der Auswirkungen von Gesten auf das Lehren und Lernen von Mathematik führen (vgl. Alibali und Nathan 2011). Dieses Verständnis kann in die Entwicklung von Lehr- und Lernansätzen, insbesondere in instruktionalen Settings einfließen (z. B. Gerofsky 2011) oder die tatsächliche Entwicklung von Lernmaterialien beeinflussen. Weiterhin kann es ebenfalls eine Grundlage für Ansätze bieten, die das Handeln von Lehrkräften hinsichtlich des produktiven Einsatzes von Gesten betreffen (vgl. Goldin-Meadow 2003), auch mit Blick auf den Zusammenhang zwischen kognitiven Funktionen und Repräsentationsfunktionen (vgl. Krause 2016) von Gesten in sozialen Lernsettings. Vor allem bietet es aber auch ein zusätzliches diagnostisches Werkzeug, das auf praktischer Ebene wie auch im Kontext weiterer Forschung zu einem tieferen Verständnis mathematischer Lern- und Denkprozesse beitragen kann.

7 Transkriptionslegende

  • Fetter Text: Gesprochene Worte

  • [–––]: Unverständliche gesprochene Worte

  • [Text in eckigen Klammern]: Beschreibung der weiteren Tätigkeit

  • (4s): Gibt eine Pause von 4 s Länge an

  • (Abb. 3): Verweis auf eine Abbildung

  • #1-L: Referenz auf eine Position im Lernmaterial, Zahl gibt die Reihenfolge des erstmaligen Auftretens an und -L die Hand (hier linke Hand, -R für rechte Hand)