Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund der gegenwärtig vertretenen Annahme, dass Religion – im Gegensatz zu dem bis in die 1980er-Jahre dominant vertretenen Konzept der Säkularisierung – mit der Moderne grundsätzlich kompatibel ist und auch unter modernen Bedingungen eine hohe Prägekraft besitzt, wird untersucht, ob Prozesse eines erneuten religiösen Bedeutungszuwachses tatsächlich beobachtet werden können. Hierzu werden zunächst einige theoretische Überlegungen vorangestellt, indem die Grundaussagen der Säkularisierungs- und Individualisierungstheorie wie auch des ökonomischen Marktmodells dargestellt werden. Um die Signifikanz von Religion auf der individuellen (Mikro-)Ebene zu untersuchen, werden verschiedene empirische Befunde hinsichtlich der Zugehörigkeitsdimension, der religiösen Praxis sowie der Dimension religiöser Überzeugungen und Erfahrungen dargestellt. Hierbei zeigt die Untersuchung einen Rückgang des Mitgliederbestands der Kirchen ebenso wie einen sich beschleunigenden Rückgang des Gottesdienstbesuches. Gleichzeitig nimmt auch der Glaube an Gott ab. Als Erklärungen werden Prozesse der Wohlstandsanhebung ebenso beschrieben wie Prozesse der funktionalen Differenzierung und Prozesse der Individualisierung und der religiösen Pluralisierung.
Abstract
Before the 1980’s, secularization was a dominant concept. The author analyzes the opposing theory of an increase in the importance of religion in modernity. For this he presents the quintessence of the secularization theory, the individualization theory and the economic market model. The empirical results relating to the dimension of membership, the religious practice and religious beliefs are presented to analyze the significance of religion on an individual level. It is shown that the rate of people leaving the church has increased while attendance at church has decreased progressively. Simultaneously, fewer people believe in God. Increasing wealth, functional differentiation, individualization and religious pluralization can be seen as explanation for these processes.
Notes
Dies verkennt Hans G. Kippenberg (2007), der merkwürdigerweise davon ausgeht, dass das ökonomische Marktmodell die rechtlichen Rahmenbedingungen religiöser Entwicklungen ignoriere.
Statistisches Bundesamt, Statis (1950); Kirchliches Jahrbuch (1958); Liedhegener (2006) Bischofskonferenz (1990); Bischofskonferenz (2010); IKSE (1997); IKSE (1995); Kirchliches Jahrbuch (1987); Evangelische Kirche in Deutschland (1997); Evangelische Kirche in Deutschland (2006); Evangelische Kirche in Deutschland (2011).
Von 1950 bis 1990 mit West-Berlin und Saarland, von 1995 bis 2010 ohne Berlin. In leeren Rubriken sind verlässliche Zahlenangaben nicht verfügbar.
Deutschland: bis 1945 Reichsgebiet nach dem jeweiligen Gebietsstand; ab 1945 Bundesgebiet; 1990–2010 früheres Bundesgebiet (Kuphal 1979; Kirchliches Handbuch 1962; IKSE 1997; Evangelische Kirche in Deutschland 2006; Evangelische Kirche in Deutschland 2006; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2014).
Für den Bereich der katholischen Kirche sind detaillierte Befragungsergebnisse nicht verfügbar.
Vgl. KMU IV (2002).
Wahrscheinlich verhält sich dies bei den Evangelischen ähnlich; freilich fehlen uns hier verlässliche Vergleichszahlen für die 1950er und 1960er-Jahre.
Maddison Historical GDP Data http://www.worldeconomics.com/Data/MadisonHistoricalGDP/Madison%20Historical%20GDP%20Data.efp. Zugegriffen am 28. Februar 2014.
World social security report, EVS (2008).
ALLBUS (2012); 7er-Skala (1 unwichtig, 7 sehr wichtig); Mittelwerte.
ISSP (2008).
Vielleicht ändert sich das jetzt. Jedenfalls liegt die Gottesdienstbesucherrate (Anteil der regelmäßigen Kirchgänger an der Gesamtzahl der Kirchenmitglieder) im Osten inzwischen über der im Westen (Pollack 2009).
Persönlicher Gott: „Es gibt einen persönlichen Gott.“; höheres Wesen: „Es gibt irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht.“; agnostisch: „Ich weiß nicht richtig, was ich glauben soll.“; skeptisch: „Ich glaube nicht, dass es einen Gott, irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt.“; Konfessionszugehörigkeit: Anteil der Konfessionszugehörigen; religiöse Selbsteinschätzung: 3er-Skala („religiöse Person“ – „keine religiöse Person“ – „überzeugter Atheist“), Anteil derjenigen, die von sich selbst sagen, dass sie eine religiöse Person sind; Glaube an Gott: dichotom, Anteil derjenigen, die mit „ja“ antworten; Wichtigkeit von Religion: 4er-Skala, Anteil derjenigen, die Religion in ihrem Leben für „ziemlich wichtig“ beziehungsweise „wichtig“ halten; alle Angaben in Prozent (EVS 2008).
Die Befunde werden in einem Vergleich mit osteuropäischen Ländern bestätigt. Im stark entkirchlichten Estland etwa antworten 19 % derjenigen, die bei der differenzierten Frage nach den Transzendenzvorstellungen mit „Ich weiß nicht, was ich darüber denken soll“ votieren, bei der dichotomen Frage zum Gottesglauben mit „ja“, 66 % mit „nein“; in der Tschechischen Republik, die ebenfalls zu den am stärksten säkularisierten Ländern Europas gehört, lautet das Verhältnis elf zu 64 %. In den kirchlich-religiös geprägten Gesellschaften Ostmittel- und Osteuropas kehrt sich dieses Verhältnis dagegen um: In Polen lautet die Relation 72 % („ja“) zu 16 % („nein“), in der Slowakei 53 zu 22, in Rumänien 90 zu fünf Prozent. Von denjenigen, die nicht an einen persönlichen Gott, aber an ein höheres Wesen oder an eine geistige Kraft glauben, bezeichnet sich bei der einfachen Frage nach dem Glauben an Gott in Estland (55 %) und in der Tschechischen Republik (59 %) nur etwa jeder zweite als gläubig, in Polen (94 %), in der Slowakei (88 %) und in Rumänien (98 %) ordnet sich dagegen nahezu jeder aus dieser Gruppe den Gottesgläubigen zu. Auch hier ist es also so, dass diese beiden Gruppen, wenn sie sich bei der einfachen Frage nach dem Glauben an Gott vor die Entscheidung gestellt sehen, sich entweder als gläubig oder als nicht gläubig einzuschätzen, in den Ländern, deren Kultur stark kirchlich-religiös geprägt ist, unter dem „Druck“ der Mehrheit mit „ja“ antworten, während sie in den Ländern, in denen nennenswerte Teile der Bevölkerung säkulare Positionen vertreten, eher die Option „nein“ wählen (vgl. Müller 2013).
Literatur
ALLBUS (Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften) (1996; 2002; 2012). Drei Wellen einer langfristig angelegten Umfrageserie zu Einstellungen, Verhaltensweisen und Sozialstruktur der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. Datensatz. Köln: Gesis.
Allensbacher Institut für Demoskopie (ab 1978). Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse.
Arbeitshilfen (2007). Statische Daten 2005. In Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Arbeitshilfen Nr. 207. Bonn: Katholische Kirche in Deutschland.
Berger, P. L (1973). Zu Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bruce, S. (1992). Religion and Modernization: Sociologists and Historians debate the Secularization Thesis. Oxford: Clarendon Press.
Bruce, S. (2002). God is Dead. Secularization in the West. Oxford: Oxford University Press.
Bruce, S. (2011). Secularization: In Defence of an Unfashionable Theory. Oxford: Oxford University Press.
C&R (2006). Church and Religion in an Enlarged Europe: Codebook. Frankfurt an der Oder: Europa-Universität.
Comte, A. (1891). Katechismus der positiven Religion. Leipzig: Wigand Verlag.
Davie, G. (2002). Europe: the exceptional case: parameters of faith in the modern world. London: Darton, Longman and Todd.
Dobbelaere, K. (1982). Secularization: A Multidimensional Concept. London: Sage Publications.
Durkheim, É. (2007) [1912]. Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main: Verlag der Weltreligionen.
Evangelische Kirche in Deutschland (ab 1990): Statistik über Äußerungen des kirchlichen Lebens in den Gliedkirchen der EKD. Statistische Beilage zum Amtsblatt der EKD. Hannover: EKD.
Evangelische Kirche in Deutschland (1997). Statistik über Äußerungen des kirchlichen Lebens in den Gliedkirchen der EKD in den Jahren 1993 und 1994. Statistische Beilage es Amtsblatts der EKD, 91(2). Hannover: EKD.
Evangelische Kirche in Deutschland (2006). Statistik über die Äußerungen des kirchlichen Lebens in der EKD in den Jahren 1980 bis 2005. Hannover: Kirchenamt der EKD.
Evangelische Kirche in Deutschland (2009). Statistik über die Äußerungen des kirchlichen Lebens in der EKD im Jahr 2007. Hannover: Kirchenamt der EKD..
Evangelische Kirche in Deutschland (2011). Statistik über Äußerungen des kirchlichen Lebens in den Gliedkirchen der EKD im Jahr 2010. Hannover: Kirchenamt der EKD.
EVS (European Values Study) (1981–2008): Internationale Bevölkerungsumfrageserie, vier Wellen (1981, 1990, 1999, 2008). Datensatz. Köln: Gesis.
Gabriel, K. (1992). Christentum zwischen Tradition und Postmoderne. Freiburg: Herder.
Graf, F. W. (2004). Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München: C. H. Beck.
Hervieu-Léger, D. (2004). Pilger und Konvertiten: Religion in Bewegung. Würzburg: Ergon.
Huber, W., Friedrich, J., & Steinacker, P. (2006). Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge: Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
Iannaccone, L. (1991). The consequences of religious market structure: Adam Smith and the economics of religion. Rationality and Society, 3(2), 156–177.
Iannaccone, L. R. (1994). Why strict churches are strong. American Journal of Sociology, 99(5), 1180–1212.
IKSE, Institut für kirchliche Sozialforschung des Bistums Essen (1997 und 1999). Statistische Daten der deutschen Bistümer in Zeitreihen: Daten der Statistischen Jahreserhebungen ab 1960. Essen: IKSE.
Inglehart, R., & Baker, W. E. (2000). Modernization, globalization and the persistence of tradition: Empirical evidence from 65 societies. American Sociological Review, 65(1), 19–55.
ISSP (International Social Survey Programme) (1991, 1998 und 2008). Drei Wellen mit Schwerpunkt Religion einer internationalen Bevölkerungsumfrageserie. Datensatz. Köln: Gesis.
Kippenberg, H. G. (2007). Europäische Religionsgeschichte: Schauplatz von Pluralisierung und Modernisierung der Religionen. In F. W. Graf & K. Grosse Kracht (Hrsg.), Religion und Gesellschaft: Europa im 20. Jahrhunder (S. 45–71). Köln; Weimar; Wien: Böhlau.
Kirchenamt der EKD (2003). Kirche: Horizont und Lebensrahmen: Vierte Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Hannover: Kirchenamt der EKD.
Kirchliches Handbuch (verschiedene Jahre). Statistisches Jahrbuch der Bistümer im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. In Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.). Rheinbreitbach: Plump.
Kirchliches Jahrbuch (ab 1949). Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland. Gütersloh: Bertelsmann, Gütersloher Verlagshaus.
KMU IV: Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft von 2002. Datensatz. Hannover: Sozialwissenschaftliches Institut.
KMU V: Fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft von 2012. Datensatz. Hannover: Sozialwissenschaftliches Institut.
Knoblauch, H. (1999). Religionssoziologie. Berlin und New York: Walter de Gruyter.
Knoblauch, H. (2009). Populäre Religion: Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Frankfurt am Main und New York: Campus.
Köcher, R. (1987). Religiös in einer säkularisierten Welt. In E. Noelle-Neumann & R. Köcher (Hrsg.), Die verletzte Nation: Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern (S. 164–281). Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.
Kuphal, A. (1979). Abschied von der Kirche: Traditionsabbruch in der Volkskirche. Gelnhausen: Burckhardthaus-Laetare.
Liedhegener, A. (2006). Macht, Moral und Mehrheiten: Der politische Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland und den USA USA seit 1960. Baden-Baden: Nomos.
Luckmann, T. (1991). Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Müller, O. (2013). Kirchlichkeit und Religiosität in Ostmittel- und Osteuropa: Entwicklungen – Muster – Bestimmungsgründe. Wiesbaden: Springer VS.
Norris, P., & Inglehart, R. (2004). Sacred and secular: religion and politics worldwide. Cambridge: Cambridge University Press.
Pollack, D. (2009). Rückkehr des Religiösen?: Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II. Tübingen: Mohr.
Pollack, D. (2012). Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland I. Tübingen: Mohr.
Pollack, D., & Rosta, G. (2015). Religion in der Moderne: Ein internationaler Vergleich. Frankfurt am Main und New York: Campus.
Religionsmonitor (2012). Repräsentative Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zu Religion und Religiosität, durchgeführt in 13 Ländern. Datensatz. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
Rohde, D. (1987). Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben. Lieferung 3 des Kirchlichen Jahrbuchs für die Evangelische Kirche. Kirchliche Statistik, 114, 267–453.
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (ab 1990): Eckdaten des kirchlichen Lebens in den Bistümern Deutschlands. Homepage der Deutschen Bischofskonferenz http://www.dbk.de/zahlen-fakten/kirchliche-statistik/?tx_igmedienkatalog_pi1%5Bshow%5D=1&tx_igmedienkatalog_pi1%5Bcatsearch%5D=120&cHash=f4db78d0dfdaf4b195c5f00b1b851ef8. Zugegriffen: 6. August 2016.
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (2007). Katholische Kirche in Deutschland. Statistische Daten 2005. http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/arbeitshilfen/AH_207.pdf
Stark, R., & Finke, R. (2000). Acts of faith: explaining the human side of religion. Berkeley, Los Angeles: University of California Press.
Statistisches Bundesamt (2013). Statistisches Jahrbuch. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt.
Wallis, R., & Bruce, S. (1992). Secularization: The Orthodox Model. In R. Wallis & S. Bruce (Hrsg.), Religion and modernization: sociologists and historians debate the secularization thesis (S. 8–30). Oxford: Oxford University Press.
Weber, M. (1920). Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen.
Wilson, B. R. (1966). Religion in Secular Society. A Sociological Comment. London: Pelican.
Wuthnow, R. (1998). After heaven: spirituality in america since the 1950s. Berkeley, Los Angeles: University of California Press.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Pollack, D. Wiederkehr der Religion oder Rückgang ihrer Bedeutung: Religiöser Wandel in Westdeutschland. Soz Passagen 8, 5–28 (2016). https://doi.org/10.1007/s12592-016-0231-4
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s12592-016-0231-4