Zusammenfassung
Als erster Artikel überhaupt führt dieser Aufsatz die in Deutschland vernachlässigte Strategielehre ein. Nach einem Überblick, warum es einen Mangel an Strategielehre gibt, legt der Artikel ihr antagonistisches Verständnis internationaler Politik dar. Internationale Konflikte sind deshalb der Ausgangspunkt für Strategielehre. Aufbauend auf klassischen Einsichten in die Dynamik solcher Konflikte erläutert der Artikel dann die kognitionspsychologischen Grundlagen moderner Strategieforschung, die langfristige Konfliktplanung und Parameter von Top-down-Entscheidungspraktiken als Grundlagen für eine moderne Definition von Strategie betrachtet. Abschließend werden sechs Vorschläge für strategisches Denken in Deutschland skizziert und die Einrichtung eines Internationalen Strategiekollegs am Wissenschaftszentrum Berlin gefordert.
Abstract
The purpose of this article is to introduce the subject of Strategic Studies to Germany. Following an overview of why there has been a longstanding deficit in Strategic Studies, the article outlines the key components of international politics’ antagonistic nature. It is for this reason that international conflicts serve as the starting point for Strategic Studies. Based on classical insights into the dynamics of conflicts, the article lays out the key foundations of modern Strategic Studies with its reliance on the research results in cognitive psychology. It concludes by providing six practical pieces of advice in regard to Germany’s future strategic thinking.
Notes
Im vorliegenden Artikel wird, abweichend vom ZfAS-Standard, bei personenbezogenen Substantiven die männliche grammatikalische Form verwendet. Der Autor schließt damit Personen weiblichen wie männlichen Geschlechts gleichermaßen ein.
Zur Kritik am Fach Strategielehre siehe John Baylis et al. (2017, S. 8-12, 319-336) und speziell mit Blick auf Fragen der internationalen Ordnung siehe Bradley S. Klein (1994, S. 1-38). Strategielehre versteht sich nicht als Kriegs- bzw. Militärwissenschaft. Der rein militärische Fokus der letzteren widerspricht der von Carl von Clausewitz erarbeiteten Zentralität von Politik für Strategiebildung, wie sie sich seit dem Ersten Weltkrieg in der Wissenschaft durchgesetzt hat. Genauso wenig entspricht Strategielehre den angelsächsischen Security Studies. Diese tangieren zwar mit Blick auf das Problem des Sicherheitsdilemmas die Strategielehre, lassen aber aufgrund ihrer kontinuierlich breiter definierten Kaprizierung auf Subkontexte wie Wasser, Umwelt oder Cyber sowie auf eine kulturell globale und genderspezifizierte Reflektion von Theorien zu Sicherheit den Kern von Strategie außen vor.
Ontologische und epistemologische Fragen werden in einem späteren Aufsatz vertieft werden; hier mag der Hinweis genügen, dass die klassisch realistisch inspirierte neuere Forschung zum Thema Strategie der Ontologie von Friedrich Kratochwil folgt (2008, S. 80-98).
Die Autoren können allerdings zeigen, dass Deutschland seit Mitte der 1960er Jahre mindestens implizit, durch geschicktes Zunutzemachen politischer Gemeinsamkeiten mit den Briten, die Nuklearstrategie der NATO zu beeinflussen suchte (Heuser und Stoddart 2017, S. 471).
Es handelte sich hier um General Heinz von Gathen.
Vereinzelt finden sich im Fach Geschichte Stimmen, die den Komplex Krieg (Neitzel und Hohrath 2007; Neitzel und Welzer 2012) bearbeitet haben; auch Theoretiker der Politik (Münkler 2003; Herberg-Rothe 2017) haben dazu beigetragen. Ihr wertvoller Beitrag bezieht sich auf die Analyse des Kriegsgeschehens in seinen mannigfaltigen Formen, nicht aber auf Strategiebildung vor Konfliktausbruch und nicht auf die spezifische Untersuchung von Strategien als angewandte Konzepte in Konfliktfällen. Interessanterweise nutzte jedoch der politische Historiker Andreas Hillgruber (1965, S. 23) bereits vor über 50 Jahren das Konzept Grand Strategy für seine Arbeit über Hitlers Strategie, tat dies allerdings nicht systematisch. Als Ausnahme, die jedoch die Entscheidungsthematik außer Acht lässt, siehe Joachim Krause (2015). Im Vergleich dazu ist die englischsprachige Literatur zum Thema Strategie um viele Weiten fortgeschrittener und reichhaltiger. Siehe zum Beispiel Peter Trubowitz (2011), Jeffrey W. Taliaferro et al. (2012) oder die Vielzahl an Studien vor/nach 9/11, dem Irakkrieg und angesichts der chinesischen und russischen Herausforderungen.
Eine kritischere Sicht, geäußert von einem langjährigen, engen sicherheitspolitischen Mitarbeiter der Bundeskanzlerin, bestreitet, dass „[…] ohne erheblichen Druck äußerer Umstände […]“ in Zukunft eine „[…] Bereitschaft zu einer Revision der deutschen Sicherheitspolitik […]“ zu erwarten ist (Vad 2017, S. 248). –Worin dieser erhebliche Druck explizit bestehen würde, sagt Erich Vad jedoch nicht. Denkbar sind gewiss mehrere Formen. Wichtig ist aber der Hinweis darauf, dass Druck von außen, ob nun in seiner extremen Form (Krieg) oder in weniger starker Form (außenpolitischer Anstoß), eine Variante sein können, wie Deutschland sein Verhältnis zu Machtfragen an internationale Realitäten (und an sein von außen neu bewertetes Gewicht) überdenkt. Anstöße können hierzu unter anderem von europäischen Nachbarn (Frankreich, Polen) kommen. Ob dies, wie Vad suggeriert, zwingend innergesellschaftliche Veränderungsprozesse ausschließt, ist nicht gesagt. Möglicherweise haben diese Prozesse unbemerkt längst eingesetzt. Denn: Nicht mehr auszuschließende strategische Krisen (Russland/NATO, Nordkorea, US-Rückzug) könnten das gesellschaftspolitische Bewusstsein für die Grundlagen unserer Freiheit und unseres Wohlstands erheblich verändern. Bundespolitiker, zuletzt Norbert Röttgen bei einer Veranstaltung am 20.11.2017 in Berlin, weisen auf den simplen Punkt hin, dass viele Bürger, im Vergleich zu noch vor fünf bis zehn Jahren, deutlich tiefersitzende Ängste äußern, wenn sie Fragen zur internationalen Politik beantwortet wissen wollen.
Für den weiteren Zusammenhang, siehe Michael Howards (2008) Ausführungen.
John Maynard Keynes (2013, S. 383-384) hat dies klassisch für den Einfluss von Wirtschaftstheorien formuliert: „Practical men, who believe themselves to be quite exempt from any intellectual influences, are usually the slaves of some defunct economist.“
Die USA hatten – in wohl kalkulierender und damit begrenzender Form – bereits seit den 1970er Jahren höhere Verteidigungsausgaben seitens Bonns gefordert. Gaucks Interpretation hat nun deutlich gemacht, was die strategische Essenz solcher Verteidigungspolitik sein sollte. Über die Frage, wie welche Prioritäten entsprechend zu wählen waren, sprach er allerdings nicht.
Dies allein sollte zu denken geben, wenn man sich vergegenwärtigt, dass kein deutscher Kanzler, inklusive Otto von Bismarcks, Clausewitz je in die Hand genommen hat.
Hillgruber (1965, S. 20) arbeitet diese Dynamiken gut heraus: „[Hitlers] Entscheidungen entsprachen nur zum Teil unmittelbar seinen großen politischen Intentionen; viele auch wesentliche Entscheidungen waren vielmehr mit Reaktionen auf Schritte der Gegenspieler verknüpft oder resultierten – meistens erzwungenermaßen – aus sachlichen Notwendigkeiten“.
Freedman (2017, S. xviii-xix) hat Onckens präzise Beobachtung zur Verbindung von Gegenwart und Zukunft folgendermaßen bestätigt: „The reason that the future is difficult to predict is that it depends on choices that have yet to be made [...] in circumstances that remain uncertain. We ask questions about the future to inform choices, not to succumb to fatalism. […] reminder that history is made by people who do not know what is going to happen next. Many developments that were awaited, either fearfully or eagerly, never happened. Those things that did happen were sometimes seen to be inevitable in retrospect but they were rarely identified as inevitable in prospect.“
Die jüngste Forschung zur Methodik der Strategischen Vorausschau vernachlässigt drei Dinge: Indem sie exklusiv auf „längerfristige Vorhersagen“ für die „nächsten zehn Jahre“ fokussiert, übersieht sie das inhärente Spannungsverhältnis zwischen langfristiger Strategieplanung und kurzfristiger Strategieumsetzung (Klüfers et al. 2017, S. 53). Indem sie Voraussagen durch einen „bestimmten Fokus auf einen Teilaspekt [der] Zukunft“ ausrichtet, übergeht sie die zentralen, klassisch realistischen Parameter, die bei Thukydides und Morgenthau in diesem Zusammenhang bereits genannt wurden (Klüfers et al. 2017, S. 54). Indem sie präventive, präemptive und reaktive Handlungsempfehlungen unterscheidet, sagt sie wenig darüber, wann genau und wie diese umgesetzt werden sollen (Klüfers et al. 2017, S. 63). Zuletzt: Indem strategische Vorschauen nur mehr „multiple, grundsätzliche unterschiedliche Szenarios“ aufzeigen, versäumen sie, ihren strategischen Mehrwert explizit zu machen (Klüfers et al. 2017, S. 66). Das wiederum hängt nicht unwesentlich mit dem Problem zusammen, dass sie das Attribut strategisch schlicht als langfristig definieren. – Klassische Gegenargumente zum Thema Vorhersehbarkeit finden sich bereits bei Hans Morgenthau (1947) und Philip E. Tetlock (2005).
Das System 1 von Donald Trump ist gegenwärtig am überzeugendsten aufgearbeitet von Charlie Laderman und Brendan Simms (2017). System 1 als historisch angewendetes Konzept ist gut aufgearbeitet bei Steven Casey und Jonathan Wright (2008). Zur angrenzenden Debatte in der Theorie der Internationalen Beziehungen (IB), siehe das International Organization-Sonderheft (Hafner-Burton et al. 2017). – Klassiker aus der historisch arbeitenden IB-Theorie, die zu den ersten bei der systematischen Anwendung psychologischer Theorien gehörten und ihre Erkenntnisse seitdem überarbeitet haben, sind Yuen Foong Khong (1992) und Robert Jervis (2017).
Wolfgang Schäuble hat kürzlich noch einmal in diese Richtung argumentiert, als er betonte, ein Minister müsse nicht der „größte Fachmann“ sein, sondern schlicht „politisch führen können“ (FAS Exklusiv 2017).
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Terhalle, M. Strategie und Strategielehre. Z Außen Sicherheitspolit 11, 83–100 (2018). https://doi.org/10.1007/s12399-017-0685-2
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