FormalPara Kernaussagen:

Nichtwähler in Deutschland lassen sich nicht mehr nur in sozial wenig privilegierten und integrierten Gesellschaftsgruppen finden, das Phänomen der Wahlenthaltung ist mittlerweile auch in ursprünglich wahltreuere Schichten der gesellschaftlichen Mitte vorgedrungen. Auch sind sie kaum verdrossen von der Demokratie in Deutschland, haben aber das Gefühl, politisch wirkungslos zu sein. Was sie sich wünschen, sind größere Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit und Problemlösungskompetenz von Parteien und Politikern. Eine Reform des Wahlrechts behebt das wachsende Phänomen der Nichtwahl nur oberflächlich. Um eine höhere Teilnahme an Wahlen nachhaltig zu stimulieren, bedarf es einer intensivierten inhaltlichen Auseinandersetzung zwischen den Parteien, einer partizipativeren, dialogorientierteren Kommunikation und stärkeren Anstrengungen der Zivilgesellschaft.

1 Einleitung

Die Bundesrepublik Deutschland galt lange Zeit als Musterland der Wahlbeteiligung – mit einer tief in der Gesellschaft verankerten Überzeugung, Wählen sei Bürgerpflicht und Norm (Kersting 2004a, S. 404). Ihren partizipatorischen Höhepunkt erlebte die Bundesrepublik bei den Wahlen zum Bundestag 1972, als neun von zehn Bundesbürgern von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten. Heute befindet sich Deutschland in Sachen Wahlbeteiligung zwar immer noch im oberen Drittel der westlichen Demokratien (de Nève 2009, S. 39), der Abwärtstrend ist aber spätestens seit der Wiedervereinigung deutlich sicht- und messbar. Dies gilt für Bundestags- und Europawahlen, insbesondere aber für sekundäre Wahlen in den Ländern und Kommunen (Völkl 2007, S. 15). Einen vorläufigen Tiefpunkt stellte das Superwahljahr 2009 dar. An den Europawahlen nahmen 43,3 % der Wahlberechtigten teil, an der Bundestagswahl nur 70,8 %. Ein Minusrekord. Die Landtagswahlen pendelten zwischen 52,2 % in Sachsen und 73,5 % in Schleswig-Holstein. An der Oberbürgermeisterwahl in Kiel im März 2009 beteiligten sich nur 36,5 % der Wahlberechtigten.

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass eine grundlegende politische Debatte über die wachsende Zahl von Nichtwählern bisher ausgeblieben ist (Walter 2009, S. 33). Dominant scheint in Deutschland die outputorientierte Normalisierungsthese zu sein. Sie basiert auf der Feststellung, dass die Wahlbeteiligung in vielen etablierten westlichen Demokratien schwächer wird, da sich gesellschaftliche Konflikte mit steigendem Wohlstand und Bildungsgrad zunehmend abschleifen. Der normative Kern dieser Annahme: Nichtwahl ist eine Form der stillen Zustimmung zur demokratischen Ordnung, die nicht bei der jeder Wahl der eigenen Beteiligung bedarf.

Anders die inputorientierte Krisenthese. Sie betrachtet die sinkende Wahlbeteiligung als eine gefährliche funktionale Störung des politischen Systems. Und zwar aus zwei Gründen. Erstens schwächt die zunehmende Wahlabstinenz die Legitimation der politisch Handelnden, die ihre Entscheidungen auf einem immer kleiner werdenden Fundament der gesellschaftlichen Unterstützung treffen müssen. Zweitens fehlt Demokratien mit niedriger Wahlbeteiligung das zentrale Qualitätskriterium der gesellschaftlich breit verankerten Partizipation, die notwendig ist, um die Vitalität des politischen Gemeinwesens zu erhalten (Eilfort 1994; Renz 1997; Kersting 2004a).

Auch die Politikwissenschaft hat das Thema Nichtwähler lange Zeit stiefmütterlich behandelt. Bis in die 1990er Jahre hinein existierten wenige makro- und mikroquantitative Studien in Deutschland (u. a. Radtke 1972; Lavies 1972; Golzem u. Liepelt 1977). Erst als das Phänomen der Wahlenthaltung nach der Wiedervereinigung ins breitere Bewusstsein der Öffentlichkeit geriet, häuften sich die Untersuchungen, allen voran Roth (1992) und Falter und Schumann (1994). Es folgten Eilfort (1994); Kleinhenz (1995); Renz (1997) und Völker und Völker (1998), in jüngster Vergangenheit auch Schön und Falter (2003); Kersting (2004a); Caballero (2005); Johann (2009) oder de Nève (2009).

Stützten sich die älteren Untersuchungen stärker auf soziologische Ansätze, die Wahlabstinenz anhand von Sozialstrukturdaten zu Alter, Geschlecht, Region oder sozioökonomischem Status untersuchten, so wendete die neuere Forschung vor allem sozial- und individualpsychologische Ansätze wie das Michigan-Modell oder die Rational Choice-Theorie zur Erklärung von Wahlabstinenz an.

Um das wachsende Phänomen der Wahlenthaltung zu verstehen, bedarf es jedoch einer praxisorientierten Erforschung des Themas, die konkrete Ansätze für die Politikberatung aufzeigt. Der vorliegende Aufsatz möchte helfen, genau hierzu einen aktuellen Beitrag zu leisten. Er baut auf zwei Säulen auf. In einem ersten Teil werden die wichtigsten Ergebnisse der aktuellen Befragung „Nichtwähler in Deutschland“ der Initiative ProDialogFootnote 1 vorgestellt, die von Januar bis Oktober 2009 in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut dimap entstand. Auf Basis dieser Untersuchung sollen in einem zweiten Teil konkrete Lösungsansätze diskutiert werden, die Wege aufzeigen, wie die Wahlbeteiligung in Deutschland wieder stimuliert werden kann.

2 Nichtwähler in Deutschland

2.1 Soziodemographie

1994 bezeichneten Falter und Schumann Nichtwähler noch als „unbekannte Wesen“. Mittlerweile hat sich dieses Bild geändert. Das Wissen über die Wahlabstinenten in Deutschland ist gewachsen. Insgesamt bewegt sich die Forschungsdebatte über die Eigenschaften von Nichtwählern jedoch weiterhin zwischen zwei unterschiedlichen Polen. Auf der einen Seite existiert die Randständigkeitshypothese. Sie besagt, dass es vor allem die sozial wenig integrierten und gesellschaftlich randständigen Bürger sind, die zur Nichtwahl neigen. Nach dieser These sieht der Homunkulus eines Nichtwählers in etwa so aus: jung, ungebildet, arm. Auf der anderen Seite rückte in den vergangenen Jahren der „wählende Nichtwähler“ (Eilfort 1994, S. 253 ff., s. auch Laponce 1967) stärker in den Fokus der Forschung, der sich durchaus für Politik interessiert, sozial integriert ist, aber sich dennoch bewusst für eine Nichtwahl entscheidet.

Vor diesem Hintergrund führte das Meinungsforschungsinstitut dimap im Auftrag der Initiative ProDialog in einem ersten Schritt (Dezember 2008/Januar 2009) eine bundesweite, repräsentative Umfrage unter 2002 Wahlberechtigten durch, die aktuelle Einblicke in die Soziodemographie von Wahlabstinenten in Deutschland geben sollte. Im Zentrum stand die Frage: „Haben Sie bisher an Bundestagswahlen teilgenommen, haben Sie von Fall zu Fall entschieden oder haben Sie bei der Bundestagswahl nie gewählt?“ (s. Tab. 1).

Auf den ersten Blick scheinen die Zahlen die Randständigkeitshypothese zu stützen. Konjunkturelle und grundsätzliche Nichtwähler sind proportional jünger, haben einen niedrigeren Bildungsabschluss und verfügen über ein geringeres Einkommen. Besonders hoch ist die Zahl bei den Befragten, die weniger als 1.000 € monatliches Haushaltsnettoeinkommen zur Verfügung haben. 46 % dieser Gruppe hatten ihr Wahlrecht noch nie oder bis dato unregelmäßig ausgeübt.

Allerdings scheint die Neigung zur Nichtwahl mittlerweile auch bei den sozial integrierten und ökonomisch gut gestellten Schichten angekommen zu sein. 43 % der Befragten mit Realschulabschluss hatten bei Bundestagswahlen bis dahin gar nicht gewählt oder von Fall zu Fall entschieden. Dasselbe gilt für 22 % der Wahlberechtigten mit einem Haushaltseinkommen von über 3.500 € sowie für 21 % der Akademiker. Die Zahlen verdeutlichen: Die alte Formel des „je informierter, interessierter und sozial integrierter der Wähler, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer Wahlteilnahme“ scheint nur noch bedingt zu gelten.

Ein Unterschied zwischen Männern und Frauen war unterdessen kaum zu messen. Das viel zitierte „gender gap“ besteht in Deutschland mittlerweile nicht mehr, wenn es um die Beteiligung an Wahlen geht. Deutlicher ist da schon die weiterhin schwächer ausgeprägte Neigung der Ostdeutschen, an der Bundestagswahl teilzunehmen. 43 % gaben an, von Fall zu Fall zu entscheiden oder nie gewählt zu haben, im Gegensatz zu 32 % der Westdeutschen.

Tab. 1 Teilnahme an bisherigen Bundestagswahlen. (Quelle: Initiative ProDialog 2009)

2.2 Einstellungen und Motivationen

Um die Einstellungen und Motivationen von Nichtwählern genauer zu untersuchen, wurde in einem zweiten Schritt eine dreiwellige Panelbefragung mit Wahlberechtigten durchgeführt, die sich unentschlossen über ihre Wahlteilnahme äußerten (mögliche Nichtwähler) oder dezidiert angaben, nicht wählen gehen zu wollen (erklärte Nichtwähler). Die ersten beiden Befragungswellen fanden während des Bundestagswahlkampfes in den Zeiträumen vom 25. bis 27. August (1. Welle) sowie vom 15. bis 21. September (2. Welle) statt. In einer dritten Welle nach der Bundestagswahl (29. September bis 5. Oktober) wurde schließlich überprüft, ob die Befragten, die sich selbst als mögliche oder erklärte Nichtwähler bezeichneten, tatsächlich am Wahltag zu Hause geblieben oder doch zur Wahl gegangen waren. Ergänzt wurden die vorliegenden Daten mit Aussagen von Teilnehmern zweier Gruppendiskussionen, die parallel zur quantitativen Befragung im September stattfanden.

Im Zentrum der Panel- und Gruppenbefragungen stand zum einen die Frage, was mögliche Nichtwähler von der Teilnahme an Wahlen abhält. Zum anderen sollte erforscht werden, was potenzielle Nichtwähler motivieren könnte, in Zukunft zur Wahl zu gehen. Beide Fragen orientierten sich an der Überprüfung von „civic orientations“, also dem Messen von politischer Involviertheit, Zufriedenheit und Wirksamkeit.

2.2.1 Gründe für Nichtwahl

Welche Gründe gaben mögliche und erklärte Nichtwähler an, die sie zögern ließen, an der bevorstehenden Bundestagswahl teilzunehmen? Hier fällt zunächst auf: Nichtwähler sind keinesfalls verdrossen von der Demokratie in Deutschland, sie stehen nicht außerhalb des politischen Systems. Nur 12 % (1. Welle) bzw. 16 % (2. Welle) bejahten, dass Wahlen überflüssig sind. Die Aussage „Politik interessiert mich nicht“ traf lediglich auf ein Drittel der Befragten zu (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Gründe für Nichtteilnahme an der Bundestagswahl. (Quelle: Initiative ProDialog 2009)

Hauptgrund für eine geplante Nichtteilnahme an der Bundestagswahl war nicht eine grundsätzliche Systemverdrossenheit, sondern eine ausgeprägte Politik(er)verdrossenheit. In der Tat – so zeigte die Befragung – wird die Einstellungswelt potenzieller Nichtwähler von einer hohen Unzufriedenheit mit den Protagonisten des politischen Systems dominiert. Vier von fünf Befragten gaben an, dass sie Politiker und Parteien nicht überzeugen. In den Gruppendiskussionen konnte dieser Verdrossenheit noch stärker auf den Grund gegangen werden.

Insgesamt kristallisierten sich vier Punkte heraus, die Nichtwähler an Politik und Parteien kritisierten. Erstens zeigten sie sich enttäuscht von der fehlenden Glaubwürdigkeit der Politiker, die nach ihrer Meinung sehr viel versprechen, aber wenig halten können. Zweitens kritisierten die Teilnehmer der Fokusgruppen die gefühlte Abgehobenheit der politischen Elite, die sich von der Lebenswelt der meisten Menschen im Land entfernt habe und mache, was sie wolle. Drittens fühlten sich die Diskutanten kaum von den zur Auswahl stehenden Personen angesprochen. Dem Spitzenpersonal wurde fehlendes Charisma und mangelnde Überzeugungskraft attestiert. Viertens zeigten sich mögliche und erklärte Nichtwähler extrem verunsichert über die Konsequenz ihrer Stimmabgabe in einem zunehmend multioptionalen Parteiensystem. Sie hatten zunehmend Schwierigkeiten abzuschätzen, welche Parteien sich nach der Wahl zu einer Regierungsbildung zusammentun. Dieses Gefühl vermittelt das folgende Zitat des 57-jährigen Nichtwählers Friedhelm J.: „Was ich auch wähle, ich mache es falsch, weil unter dem Strich alle Parteien gleich sind. Vertrauen fehlt: Was gestern grün war, ist heute blau und morgen lila.“

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sich knapp drei Viertel der Befragten im Nichtwählerpanel nicht vom Wahlkampf der Parteien angesprochen fühlten. Ein weiterer wichtiger Grund für eine Wahlabstinenz stellte das Gefühl dar, dass die eigene Stimme nichts zählt. Die Wahrnehmung, als Einzelner die Geschicke des Landes nicht mitbestimmen zu können (external political efficacy), war mit 38 % (1. Welle) bzw. 40 % (2. Welle) in der Tat sehr ausgeprägt.

2.2.2 Parteiaffinität

Die Identifikation mit einer Partei gilt als der wichtigste Indikator für eine Beteiligung an Wahlen (Lazarsfeld et al. 1949; Campbell 1960). Und so überrascht es im Umkehrschluss nicht, dass mögliche und erklärte Nichtwähler im Superwahljahr 2009 überwiegend keine eindeutige Parteipräferenz hatten. Wenn Sie eine Affinität angaben, dann verteilten sich diese Werte sehr gleichmäßig auf die im Bundestag vertretenen Parteien. Rechtsextreme Parteien wurden von Nichtwählern eindeutig nicht präferiert. Zustimmungswerte für die NPD, DVU oder die Republikaner lagen im Promillebereich.

Die weitaus größte Zahl der Befragten (40 % bzw. 42 %) gab in der Tat an, dass ihr keine der Parteien gefiel. Weitere 25 % bzw. 33 % machten zu dieser Frage gar keine Angabe. Offensichtlich hatten damit knapp zwei Drittel der möglichen und erklärten Nichtwähler den Kontakt zu den etablierten Parteien verloren. Die politische Orientierungslosigkeit bei den Befragten war groß (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Parteipräferenzen von Nichtwählern während des Bundestagswahlkampfes. (Quelle: Initiative ProDialog 2009)

Diese Orientierungslosigkeit steigerte sich, je überzeugter die Befragten von einer Nichtteilnahme an der Wahl waren. Gaben nur 21 % der Befragten, die wahrscheinlich an der Wahl teilnehmen wollten, an, dass sie keine Partei präferierten, so galt dies für 50 % der erklärten Nichtwähler.

2.2.3 Motivation zur Wahlteilnahme

Eine entscheidende Frage für die zukünftige Entwicklung der Wahlbeteiligung – und damit auch für die Legitimität des politischen Systems – ist es, was Nichtwähler dazu bewegen könnte, wieder an Wahlen teilzunehmen (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Was könnte motivieren, an der Bundestagswahl teilzunehmen? Grundgesamtheit: mögliche und erklärte Nichtwähler. (Quelle: Initiative ProDialog 2009)

Die große Mehrzahl der Befragten (82 % bzw. 83 %) wünscht sich, dass Parteien und Politiker in Zukunft ehrlicher mit den Bürgern umgehen. Die Sehnsucht nach Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit in der Politik schlägt sich auch in dem Wunsch an die Parteien nieder, überzeugendere Lösungen für die Probleme unserer Zeit zu formulieren (81 % bzw. 82 %).

Ein weiterer Faktor: Nichtwähler könnten zur Wahlteilnahme motiviert werden, wenn ihnen deutlicher gemacht werden würde, dass ihre Stimme Gewicht hat. In der Tat ist es für knapp über die Hälfte der Befragten ein wichtiger Punkt, ob sie mit ihrem Kreuz das Wahlergebnis beeinflussen können, also das Gefühl der faktischen Mitbestimmung verspüren. Weniger motivierend scheint die klassische Wahlkampfansprache der Parteien zu sein. Nur knapp ein Viertel der Befragten würde sich zum Urnengang motivieren lassen, wenn die Parteien sich stärker um ihre Stimme bemühten.

2.2.4 Teilnahme an der Bundestagswahl

Teil des Nichtwählerpanels war eine dritte Befragungswelle, die in den Tagen nach der Bundestagswahl (29. September bis 5. Oktober) stattfand. Im Rahmen dieser Erhebung sollte ermittelt werden, wie viele der sich zuvor als mögliche und erklärte Nichtwähler bezeichnenden Befragten tatsächlich der Wahlurne ferngeblieben waren.

Die Gruppe derer, die im Vorfeld der Bundestagswahl eine wahrscheinliche Wahlteilnahme signalisiert hatte, ging zu 77 % an die Urnen. Eine deutlich geringere Wahlbeteiligung wiesen mit 36 % diejenigen auf, die eine Wahlteilnahme als eher unwahrscheinlich bezeichnet hatten. Unter den erklärten Nichtwählern fanden sich noch 16 % zu einer Teilnahme an der Bundestagswahl bereit. Ein Mobilisierungseffekt durch den Wahlkampf war also bedingt festzustellenFootnote 2 (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Wahlteilnahme potenzieller Nichtwähler an der Bundestagswahl. (Quelle: Initiative ProDialog 2009)

Was hatte mögliche und erklärte Nichtwähler dazu bewogen, zur Wahl zu gehen? Neben dem kurzfristigen Wunsch, den Wahlausgang doch noch zugunsten des eigenen politischen Lagers zu beeinflussen, war es vor allem das Pflichtgefühl, als Staatsbürger zur Wahl gehen zu müssen.

2.2.5 Die Option, ungültig zu wählen

In den Gruppendiskussionen, die im Rahmen der Studie stattfanden, war häufig zu hören, dass enttäuschte Wähler zwar zur Wahl gehen wollten, jedoch vorhatten, den Stimmzettel in der Wahlkabine ungültig zu machen. Dieser Wunsch bildete sich auch in der Panelbefragung ab. An die Option, ungültig zu wählen, dachte vor der Wahl jeder fünfte Befragte in Deutschland. Erstaunlich ist, dass genau so viele Nichtwähler wie Wähler im Vorfeld des Urnengangs mit diesem Gedanken spielten (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Haben Sie daran gedacht, den Stimmzettel ungültig zu machen? (Quelle: Initiative ProDialog 2009)

Schaut man auf die Bundeswahlstatistik, so haben diesen Wunsch allerdings sehr wenige Wahlberechtigte in Deutschland in die Tat umgesetzt. Nur ein sehr kleiner Teil derjenigen, die an der Bundestagswahl teilgenommen haben, machte ihren Stimmzettel ungültig. Die Zahl lag bei 1,7 % im Bereich der Erststimmen und bei 1,4 % im Bereich der Zweitstimmen.

3 Reformen und Lösungsansätze

Die Studie der Initiative ProDialog hat gezeigt: Nichtwähler haben nicht mit der Demokratie in Deutschland abgeschlossen. Sie lassen sich durchaus zur Stimmabgabe motivieren. Wie kann dies geschehen? Im folgenden Abschnitt sollen einige Lösungsansätze diskutiert werden.

Als kurzfristige Lösung wird zunächst gerne eine Reform des Wahlrechts diskutiert. Eine – kürzlich vom SPD-Abgeordneten Jörn Thießen diskutierte – Möglichkeit wäre hier die Einführung einer Wahlpflicht, die bereits in Ländern wie Belgien, Italien oder Australien besteht. Von ihr ist aber explizit abzuraten. Sie würde zwar voraussichtlich zu einer Steigerung der Wahlbeteiligung führen, verstößt aber gegen den voluntaristischen Gedanken des Wahlrechts. Wahlen sind frei und dazu gehört auch die Entscheidung, sich für keine der kandidierenden Parteien zu entscheiden.

Eine andere Möglichkeit ist die Flexibilisierung des Wahlaktes. U. a. haben Wahlberechtigte in vielen Kommunen mittlerweile das Recht, mehrere Stimmen durch das sog. Kumulieren und Panaschieren auf Kandidaten und Parteien zu verteilen (Kersting 2004b, S. 137 ff.; Tiefenbach 2006, S. 115 ff.). Diese Praxis ist jedoch kompliziert und hat bisher nicht zu einer substantiellen Steigerung der Wahlbeteiligung auf der lokalen Ebene geführt. Auch die Einführung der Stimmabgabe über das Internet wird seit einigen Jahren diskutiert (Kersting u. Baldersheim 2004). Sie würde auf das Bedürfnis vieler Wähler eingehen, ihre Stimme flexibler – also unabhängig von Zeit und Ort der Wahl – abzugeben. Dieser Trend offenbart sich nicht zuletzt durch die wachsende Zahl von Briefwählern. Es bestehen jedoch weiterhin erhebliche sicherheitstechnische, juristische und politische Bedenken gegen das Internet-VotingFootnote 3, die Entscheidungsträger zögern lassen, dieses Instrument einzuführen.

Wie die Studie gezeigt hat, ist das Problem der Nichtwahl nicht allein mit der Kosmetik eines flexibler gestalteten Wahlrechts in Deutschland zu lösen. Es greift tiefer.

Ansetzen sollte eine Lösung deshalb zum einen bei dem Gefühl vieler Wahlberechtigten, dass die eigene Stimme als politisch wirkungslos empfunden wird. Gerade der Wunsch, den Wahlausgang stärker beeinflussen zu können, ist evident. Die Parteien sind gefordert, diesem Wunsch Rechnung zu tragen. Im Kern geht es darum, den Wählern aufzuzeigen, dass sie mit ihrer Wahlentscheidung maßgeblich über die Geschicke des Landes mitbestimmen können. Dieses Gefühl wächst, wenn es klare inhaltliche Alternativen gibt, über die abgestimmt wird. In Deutschland scheuen sich Parteien und Politiker allerdings davor, zu stark im Wahlkampf zu polarisieren. In der Tat wirkt eine übertriebene Polarisierung künstlich in einer Gesellschaft, die zunehmend individueller, unideologischer, kurzum: postmoderner geworden ist. Das sollte jedoch nicht dazu führen, auf Pointierung und Emotionalisierung zu verzichten. Sie sind notwendig, um Menschen für Politik zu begeistern und zu mobilisieren.

Zum anderen ist die Politik gefordert, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. In der Tat gaben Nichtwähler die fehlende Überzeugungskraft von Parteien und Politikern als einen der Hauptgründe für ihre Wahlabstinenz an. Auch der Wunsch nach Ehrlichkeit stand oben auf der Agenda. Hier hilft es natürlich, in Zukunft Wortbrüche, Skandale und Inkompetenzen aller Art zu vermeiden. Der Kern des Problems scheint aber ein anderer zu sein. Er liegt in der Art und Weise, wie die Parteien ihre Ziele in einem immer komplexer werdenden Politik- und Medienumfeld kommunizieren. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Bürger Vertrauen fassen und für Botschaften mobilisiert werden können, wenn sie direkter, persönlicher und lebensnäher angesprochen werden; wenn also der transparente Dialog auf Augenhöhe im Vordergrund steht und nicht das Schaffen eines künstlichen Images mit Massenkommunikation via Plakat oder TV (Rosenstone u. Hansen 1993; Gerber u. Green 2004; Plehwe 2005; Plehwe u. Bohne 2008). Auch wenn sich die Parteien im Bundestagswahlkampf 2009 bemüht haben, dialogorientierter und authentischer mit den Bürgern zu kommunizieren, so sollten sie sich in Zukunft noch stärker kommunikativ (und organisatorisch) gegenüber der Gesellschaft öffnen, um wieder ein substantieller Teil der Alltagsgespräche und -kultur zu werden.

Es ist aber nicht nur die Politik, die aufgerufen ist, mehr für eine höhere Wahlbeteiligung zu tun. Auch die Zivilgesellschaft – als Kollektiv und als Leistung jedes Einzelnen – ist gefordert, deutlich zu machen, dass die Demokratie in Deutschland auf eine breite gesellschaftliche Teilnahme an Wahlen angewiesen ist, um vital zu bleiben. Zunächst ein Blick auf die kollektive Ebene. Es wäre wünschenswert, wenn Wirtschaft, Medien und Nichtregierungsorganisationen in Zukunft noch effektivere überparteiliche Allianzen bilden würden, um öffentlich über die Bedeutung von Wahlen für die Demokratie zu diskutieren. Dies kann im Wahlkampf geschehen, wie bereits die Bundestagswahl 2009 gezeigt hat, als mehr als ein Dutzend bundesweite Initiativen kreativ zur Wahlteilnahme aufriefen (Albers 2009, S. 37). Dies kann aber auch über ein dauerhaftes Engagement im Bereich der politischen Bildung erreicht werden, das von zivilgesellschaftlichen Gruppen im Rahmen von Modellprojekten getragen wird.

Im Kern kommt es jedoch – wie so häufig – auf das persönliche Engagement jedes Einzelnen an. Das Interesse für Politik; der Sinn für den Wert eines lebendigen Gemeinwesens; die Norm, sich an Wahlen zu beteiligen; sie alle werden in unserem persönlichen Umfeld erlernt und weitergegeben – in der Familie, im Freundes- und Kollegenkreis, in Vereinen. Hier liegt der eigentliche Schlüssel für eine Stärkung der politischen Beteiligung in Deutschland.