Zusammenfassung
Die Diskussionen um die sog. individualisierte Medizin, ihre Chancen, Möglichkeiten und Visionen prägen die aktuellen Debatten um die Zukunft von Medizin und Gesundheitssystem. Neben der prinzipiellen Nachfrage, was eigentlich Gegenstand einer solchen individualisierten Medizin sei, gibt es immer wieder auch ethische Bedenken und Rückfragen, die gegen die sog. individualisierte Medizin ins Feld geführt werden. Diese kritischen Rückfragen wie auch Herausforderungen und Chancen der individualisierten Medizin werden aus ethischer Perspektive beleuchtet. Dabei ist zu konstatieren, dass es in der individualisierten Medizin vorrangig darum geht, die aktuellen Entwicklungen in einem ethischen Assessment zu begleiten, es aber aktuell keine ethischen Argumente gibt, die per se gegen eine weitere Forschung in diesem Bereich sprechen.
Notes
Darin wird provisorisch individualisierte Medizin funktional definiert als „eine mögliche künftige Gesundheitsversorgung …, die aus dem synergistischen Zusammenwirken der drei Treiber ‚Medizinischer und gesellschaftlicher Bedarf’, ‚Wissenschaftlich-technische Entwicklungen in den Lebenswissenschaften‘ und ‚Patientenorientierung‘ entstehen könnte“.
Im Kontext der individualisierten Medizin wird insbesondere an die Genom- und Postgenomforschung, die molekulare medizinische Forschung und die zellbiologische Forschung die Erwartung gerichtet, eine Wissens- und Technologiebasis bereitzustellen, von der aus verbesserte Diagnose-, Therapie- und Präventionsmöglichkeiten entwickelt werden können.
Anders dagegen ist der Personbegriff in der angelsächsischen Tradition konnotiert, hier hat er vor allem eine Bewusstseins- und Eigentumsfokussierung. Obwohl diese Konnotationen zunehmend an Bedeutung gewinnen, behalten die genannten dialogorientierten ihre Plausibilität, die ohne Zweifel jedoch wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein zu heben sind.
Dabei bleibt auch abzuwarten, inwieweit die Visionen der Synthetischen Biologie, die Entwicklung der sog. individualisierten Medizin maßgeblich voranzutreiben, verwirklichbar sind.
In diese Richtung lassen sich die Zahlen des jüngsten Eurobarometers zu Einstellungen der europäischen Bevölkerung zu Biotechnologien lesen, wonach bei deutlich zu erhöhendem Kenntnisstand nahezu die Hälfte der repräsentativ befragten Europäer bereit wäre, Daten und Proben für Biobanken, die ja die Voraussetzung für eine stratifizierte Medizin darstellen, zu spenden. Vgl. [9].
Die Forderung nach einer abhängig vom jeweiligen Forschungsvorhaben stetig zu erneuernden Zustimmungspflicht vonseiten der Patienten würde zum einen de facto ein Ende der Biobankenforschung bedeuten und zum anderen hinterrücks doch wieder einen genetischen Exzeptionalismus einführen.
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Interessenkonflikt
Der korrespondierende Autor gibt für sich und seine Koautoren an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Mitglied im Deutschen Ethikrat, in der European Group on Ethics sowie Vorstandsmitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.
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Dabrock, P., Braun, M. & Ried, J. Individualisierte Medizin. Forum 27, 209–213 (2012). https://doi.org/10.1007/s12312-012-0778-8
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