Mit der Neu-Programmierung der Kinder- und Jugendhilfe durch den in Kraft getretenen §8a SGB VIII und dem Bundeskinderschutzgesetz wird professionelles Handeln in der Krisendiagnose von Kindeswohlgefährdung immer wieder neu herausgefordert. Der Beitrag fokussiert Schutzlogiken, die sich am Instrument des Schutzplans zeigen lassen.

Der Verdacht auf KrisenFootnote 1 des Aufwachsens stellt die sozialpädagogische Professionalität in zunehmendem Maße vor die Herausforderung, Gefährdungslagen von Kindern und Jugendlichen einzuschätzen. Damit wird vermehrt die Anforderung an professionelles Handeln gestellt, EntscheidungenFootnote 2 vor dem Hintergrund der Unbestimmtheit von Kindeswohl zu treffen.

Eine Fokussierung des Kinderschutzes in der Kinder- und Jugendhilfe lässt sich anhand der jährlich ansteigenden Fallzahlen interpretieren. Im Jahr 2019 wurden, seit Beginn der statistischen Erfassung im Jahr 2012, die höchsten jährlichen Fallzahlen mit 173.029 Gefährdungseinschätzungen von Jugendämtern gem. §8a SGB VIII gemessen. Von 2012 bis 2017 konnte im Durchschnitt eine jährliche Zuwachsrate von sechs Prozent festgestellt werden. Im Anschluss daran sind die Gefährdungseinschätzungen ab 2017/18 nochmals auf durchschnittlich zehn Prozent angestiegen, was auf die öffentliche Diskussion von Kinderschutzverläufen, die veränderten Kooperationsstrukturen mit anderen Institutionen und eine erhöhte Aufmerksamkeit in den Verfahren und Organisationsstrukturen des institutionellen Kinderschutzes zurückgeführt wird (KomDat 2020). Die steigende Entwicklung der Fallzahlen nach §8a SGB VIII hat sich im Rahmen der Zusatzerhebung in der Corona-Pandemie im Jahr 2020 jedoch vorerst nicht fortgesetzt, was auf die nicht präsenten Hinweisgeber, wie Kitas und Schulen, zurückgeführt wird. Ein Teil der Jugendämter befürchtet zudem, dass trotz der weiteren Priorisierung des Kinderschutzes in der Corona-Krise das Dunkelfeld gewachsen ist (Mairhofer et al. 2020). Demnach weisen die institutionell festgestellten Gefährdungslagen vielmehr auf administrative Artefakte hin, die institutionelle Tatsachen schaffen. Über die Grundgesamtheit der Gefährdungsfälle geben sie jedoch keinen Aufschluss.

Die Kinderschutzfokussierung in der Kinder- und Jugendhilfe wurde durch den 2005 in Kraft getretenen Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung nach §8a SGB VIII und nicht zuletzt durch die Regelungen des Bundeskinderschutzgesetzes verdichtet, wodurch professionelles Handeln im Kinderschutz gesetzlich zur Sicherstellung von Kindeswohl gerahmt wurde. Durch die Ausrichtung des Kinder- und Jugendhilfesystems auf den Kinderschutz wird befürchtet, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe in Richtung einer Kindeswohlgefährdungsvermeidungsstrategie (Dahmen und Kläsener 2019) verschiebt, insofern, als sich die Leistungserbringung weniger am Bedarf als an der diagnostischen Kategorie „Kindeswohlgefährdung“ orientiert.

Kindeswohl als Maßstab zur Krisenbestimmung

Das professionelle Handeln richtet sich im Feld des Kinderschutzes an der Deutung des Begriffs Kindeswohl aus (Ziegler 2020), der als Kontingenzformel in der Sozialen Arbeit das Dreiecksverhältnis von Kind, Eltern und Staat bestimmt. Dem Wohl des Kindes kommt hierbei eine Zielgröße in der Vermittlung vom Kindes- und Elternrecht zu. Im Schutzauftrag nach §8a SGB VIII wird professionelles Handeln zur Abwendung der Gefährdung des Kindeswohls überführt. Die von Fachkräften festzustellende Krisendiagnose „Kindeswohlgefährdung“ bedeutet, „dass die Rede von einer Krise Zustimmung zu mobilisieren sucht für eine spezifische Situationsdefinition und/oder Interventionsplanung durch einen Appell an gemeinsame Interpretation gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (Dollinger 2004, S. 383). Die Deutung von Kindeswohl bzw. der Verdacht auf Gefährdung werden in der Nutzung der diagnostischen Instrumente auf der Ebene der Fachkräfte als Krisenbestimmung wirksam. Dies birgt die Gefahr, Adressat_innen bei der Bestimmung von Krisenlagen nicht zu beteiligen und durch Risikoeinschätzungsinstrumente Entscheidungen vorzustrukturieren (Ackermann 2021). Standardisierungsverfahren dienen dabei als Bestandteile organisationaler Entscheidungsarchitekturen (Büchner 2017) und beeinflussen damit das professionelle Handeln der Fachkräfte. Durch die Standardisierungs-Effekte wird allerdings eine Engführung professioneller Handlungsmöglichkeiten ins Feld geführt, so dass Tendenzen von „Deprofessionalisierung“ (Bastian 2017) im institutionellen Kinderschutz zu befürchten sind.

Zum Verhältnis von Profession und Organisation im Kinderschutz

Strukturtheoretische Fragen schließen an die Diskussion um Professionalisierung im Kinderschutz aufgrund der Nicht-Standardisierbarkeit Sozialer Arbeit an, da diese im Kern als professionalisierungsbedürftig gilt (Oevermann 2000). Oevermann sieht hier allerdings nicht nur aufgrund „der Übernahme gesellschaftlicher Kontrollaufgaben im Kontext der Aufrechterhaltung von Recht und Gerechtigkeit, sondern auch aufgrund ihrer Einbettung in bürokratische Organisationen“ (Hollenstein 2018, S. 6) Grenzen der Professionalisierbarkeit.

Die strukturtheoretische Position mit der Perspektive des Arbeitsbündnisses als „Kern-Modell-professionalisierten Handelns“ (Oevermann 1996, S. 115) begnügt sich mit der Antwort, dass durch das widersprüchlich angelegte „Strukturdilemma“ (ebd., S. 71) in der Adressierung von gleichzeitiger Hilfe und Kontrolle, ein Arbeitsbündnis nicht zu schließen sei, denn „eine Professionalisierung von Hilfe […] lässt sich mit der Professionalisierung von Kontrolle […] nicht unter einen Hut bringen“ (ebd., S. 139). Dies wirft im Anschluss an das strukturelle Dilemma die Frage nach der grundsätzlichen Erfüllung des Schutzauftrags auf, insofern, als der Professionalisierung der immanente und gleichzeitige Auftrag von Hilfe und Kontrolle zur Herstellung von Kindeswohl entgegenstehe.

Die damit angesprochenen Anforderungen des immanenten Doppelauftrags professioneller Praxis wirken sich auch auf Organisationsstrukturen von Jugendämtern aus. Institutionelle Logiken scheinen diese Anforderungen durch eine strukturelle Trennung von Hilfe- und Kontrollaspekten, in Abteilungen zur Einschätzung von Gefährdungslagen und Bereichen in der Zuständigkeit von Hilfen zur Erziehung aufzulösen. Hierbei stellt sich die Frage nach dem grundsätzlichen Verhältnis und der Verschränkung von fachlichem Handeln und formalen Organisationsbedingungen und der Bestimmung von Professionalität in der Sozialen Arbeit unter bestimmten „Kontextbedingungen“ (Nadai und Sommerfeld 2005, S. 181). Demnach können Organisationskontexte professionelles Handeln ermöglichen oder aber auch erschweren.Footnote 3 Die These des grundsätzlichen Konfliktes zwischen bürokratischer und professioneller Logik in Organisationen konnte mittlerweile empirisch widerlegt werden, so dass „bürokratische und professionelle Elemente durchaus strukturell kombinierbar sind“ (Klatetzki und Tacke 2005, S. 14) und eher von einer Verschränkung derselben auszugehen sei. Professionelle Organisationen „weisen lediglich die Besonderheit auf, dass die Technologien im wissenschaftlich ausgebildeten Professionellen verortet sind“ (Klatetzki 2005, S. 254). Wesentlich ist demnach, dass die Bedingungen von Organisationen auf fachliche Positionierungen Einfluss nehmen. Ebenfalls kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die kollektiven Deutungsmuster von Fachkräften wiederum die Organisation bedingen. Organisationskontexte können daher als sich verschränkende Aushandlungsordnungen (Nadai und Sommerfeld 2005) verstanden werden, in denen professionelles Handeln und damit Schutzlogiken hergestellt und reproduziert werden.

Im Medium des Schutzplans wird die situierte Aushandlung der Bedingungen von professionellem und organisationalem Handeln deutlich, was im Folgenden auf der Grundlage eigener Untersuchungen zu Entscheidungsrationalitäten im Kinderschutz aufgezeigt wird.

Schutzplan als Instrument zur Krisenverhandlung im organisierten Kinderschutz

Vielfach haben sich bei einem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung in den Jugendämtern sogenannte „Schutzpläne“ etabliert. Sie sollen die Abwendung der Gefährdung sicherstellen, wenn das Kind in der Familie verbleibt, meist durch schriftlich fixierte Vereinbarungen zwischen Eltern, Jugendamt und Akteur_innen der Hilfen zur Erziehung. Die in der Praxis sehr gebräuchlichen Schutzpläne (oder auch Schutzkonzepte genannt) haben keine gesetzliche Grundlage, sind bisher theoretisch wenig bestimmt und ihre Handhabung wurde bislang kaum – mit Ausnahme der Studie von Lenkenhoff et al. (2013) zu Schutzkonzepten in der Hilfeplanung – untersucht.

Das Instrument des Schutzplans lässt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen in Bezug auf folgende Funktionsverschränkungen in der Krisenverhandlung deuten:

  1. 1.

    Professionelles Handeln als Krisendiagnose;

  2. 2.

    Bedingungen von professionellem und organisationalem Handeln;

  3. 3.

    Kontraktlogik professionellen Handelns.

Im Rahmen der KrisendiagnoseFootnote 4 kommt der Schutzplanung im Falleingang eine besondere Bedeutung zu, da hier noch vor dem Hausbesuch gemäß §8a SGB VIII die Gefährdungslage im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte eingeschätzt wird. In der Deutung der Gefährdungslage wird bereits über die Notwendigkeit von Schutzplänen beraten, ohne zwingend schon einen Kontakt zur Familie hergestellt zu haben, was die Bestimmung der im Schutzplan relevanten Inhalte noch vor der Aushandlung mit der Familie vorstrukturiert. Der Vorab-Verdacht einer potenziellen Krise in Bezug auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung löst damit den sozialpädagogischen Handlungsmodus bereits aus und fordert eine Entscheidung.

Anders verhält es sich bei bereits installierten Hilfen zur Erziehung. Hier tritt bei der Einschätzung und Bewertung von ‚Kindeswohlgefährdungen‘ häufig neben den Hilfeplan ein Schutzplan, der die Maßnahmen über professionelles Handeln von Fachkräften faktisch entscheidet und in der Regel konkrete Anforderungen stellt, die als verpflichtende ‚Auflagen‘ formuliert werden. Lenkenhoff et al. (2013, S. 15) sprechen davon, dass bislang an „keiner Stelle – weder rechtlich noch fachlich – durchdekliniert [… sei, wie] Schutzkonzepte rechtsstaatlich und fachlich korrekt ausgestaltet werden [können]“. Im Schutzplan zeigen sich potenziell hoheitsstaatliche Kontrollaufgaben, die eigentlich den Familiengerichten nach § 1666 BGB vorbehalten sind. Diese scheinen sich auf die Ebene der Jugendämter und ihrer dienstleistungsorientierten Ausrichtung als „Soziale Dienste“ zu verlagern.

Da professionelle Handlungen stets in Organisationen wirksam werden, ist der Einfluss von Organisationsstrukturen wesentlich. Deshalb kann von einer gleichzeitigen Bedingung von professionellem und organisationalem Handeln in der Herstellung des Schutzplans ausgegangen werden. Zum einen werden professionelle Positionierungen durch Organisationskulturen beeinflusst, mit welchen Inhalten ein Schutzplan ausgestattet wird. Zum anderen nehmen die professionellen Handlungen auf Organisationsformen Einfluss und legen Verfahrensstandards fest, in welcher Fallkonstellation Schutzpläne zum Einsatz kommen. Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) empfiehlt beispielsweise in seiner Orientierungshilfe zu Schutzplänen, dass „Inhalt des Schutzplans […] dabei die auf die Gefährdung bezogenen zwingend notwendigen Maßnahmen und deren Kontrolle [sind], während im Hilfeplan weitergehende (freiwillige) Ziele zur Verbesserung der Erziehungssituation formuliert werden, die zwar hilfreich, aber nicht unabdingbar notwendig sind.“ (LVR 2015, S. 27). Die funktionale Trennung der Dokumente in Hilfe- und Kontrollmodalitäten dient dementsprechend der Legitimation von Verfahrensstandards innerhalb der Organisation. Somit kann der Schutzplan als aktenförmiger Nachweis innerhalb der Organisation genutzt werden. Dies ermöglicht die Absicherung von Fachkräften und eine zukünftige Gerichtsbarkeit.

Aufgrund der Kontraktlogik des Schutzplans besteht die Gefahr, dass alleine professionelle Perspektiven zur Gefahrenabwehr sichtbar werden und Adressat_innen lediglich in der zu leistenden Unterschrift im Dokument beteiligt werden. Im Modus „stellvertretender Krisenbewältigung“ (Oevermann 2013, S. 120) kommt der professionellen Deutung damit eine höhere Rationalität zu, die eine adressat_innenorientierte Aushandlung von Gefährdungsinhalten und damit vor allem Hilfemöglichkeiten verhindert. Eine einseitige Fokussierung auf Kontrollelemente fördert eine Passivierung von Adressat_innen, die lediglich im Zuge der Einhaltung von Schutzmaßnahmen in Aktivität umgekehrt werden soll. Dabei gerät leicht aus dem Blick, wie Gefahrenabwehr und Hilfeangebote in der gleichzeitigen Bestimmung miteinander verbunden werden können.

In Anlehnung an partizipative Forschungsansätze (Bergold und Thomas 2012), besteht das Potenzial, Adressat_innen nicht lediglich krisenhaft in der Gefahrenabwehr zu berücksichtigen, sondern am Schutzauftrag teilhaben zu lassen und das als Ausgangspunkt einer partizipativen Professionalität innerhalb von Organisationen zu verstehen. Organisationskontexten kommt hierbei die Aufgabe als Aushandlungsort zu, Professionalität zu ermöglichen. Im Kinderschutz wird demnach nicht nur auf Krisen reagiert, sondern professionelles Handeln markiert hier, was eine Krise ist und wird auch selbst aufgrund von Organisationsbedingungen als krisenhaft erlebt.