1 Status quo und Wechselwirkungen mit der EMRK

Mit Veröffentlichung der RL 2016/1919 im Amtsblatt der Europäischen Union am 4. November 2016 hat der EU-Gesetzgeber den (vorläufig?) letzten Baustein gesetzt, um unionsweite Minimalstandards von Verfahrensrechten im Strafverfahren zu setzen. Die Maßnahme fügt sich in eine Reihe von Richtlinien ein, die seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages den sog. „Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren“ umsetzen.Footnote 1 Der Fahrplan enthält einen Maßnahmenkatalog für als wesentlich erachtete Verfahrensrechte. Gestützt auf Art. 82 Abs. 2 Buchst. b) AEUV schaffen sie einen gleichwertigen Standard im Strafverfahren aller EU-Mitgliedstaaten und sichern die Geltung grundrechtlicher Schutzstandards. Die auf der folgenden Seite Übersicht skizziert, welche Maßnahme wie umgesetzt wurde.

Maßnahme des Fahrplans

Umgesetzt durch…

A

Übersetzungen und Dolmetschleistungen

Richtlinie 2010/64/EU über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahrena

B

Belehrung über die Rechte und Unterrichtung über die Beschuldigung

Richtlinie 2012/13/EU über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahrenb

C

Rechtsbeistand und Prozesskostenhilfe

Richtlinie 2013/48/EU über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls […]c

Richtlinie (EU) 2016/1919 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehlsd

D

Kommunikation mit Angehörigen und Konsularbehörden

Richtlinie 2013/48/EU […] über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs

E

Besondere Garantien für schutzbedürftige Verdächtige oder Beschuldigte

Richtlinie (EU) 2016/800 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sinde

F

Ein Grünbuch über die Untersuchungshaft

Grünbuch zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens im europäischen Rechtsraum – Grünbuch zur Anwendung der EU-Strafrechtsvorschriften im Bereich des Freiheitsentzugs vom 14. Juni 2011f

  1. a[2010] ABl. L 280/1
  2. b[2012] ABl. L 142/1
  3. c[2013] ABl. L 294/1
  4. d[2016] ABl. L 297/1
  5. e[2016] ABl. L 132/1
  6. fKOM (2011) 327 endg

Die Übersicht zeigt, dass im Bereich der EU-weiten Strafverfahrensrechte nicht nur Legislativmaßnahmen erlassen wurden. Das Grünbuch der Europäischen Kommission über Freiheitsentzug stellt lediglich ein Diskussionspapier dar, das öffentliche, politische und wissenschaftliche Stellungnahmen über das Thema eingeholt hat, jedoch (bisher) nicht in eine konkreten Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage gemündet ist. Ferner hatte der Fahrplan nicht erschöpfenden Charakter. Mit der Richtlinie (EU) 2016/343 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in StrafverfahrenFootnote 2 wurde eine über den Katalog hinausgehende EU-Legislativmaßnahme erlassen. Letztere geht auf eine Initiative des Europäischen Rates zurück, der die Kommission im Stockholmer Programm ersucht hatte, das Thema Unschuldsvermutung anzugehen. Ferner wurde die RL 2016/343 für notwendig erachtet, um die anderen Verfahrensrechte auf der Agenda, insbesondere das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, zu komplettieren.Footnote 3

Bei Anwendung und Auslegung der Richtlinien darf ihr enger Zusammenhang mit der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) nicht aus dem Blick geraten. Eine Rückkopplung zur EMRK besteht aus mehreren Gründen: Basis der Richtlinien sind die in Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK aufgezählten Garantien. Zwar gehen die Richtlinien in Teilen über die Garantien der EMRK hinaus. Das betrifft insbesondere diejenigen Rechte der Richtlinien, die sich auf das Verfahren des Europäischen Haftbefehls beziehen,Footnote 4 da der EGMR bisher den Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK auf das transnationale Auslieferungsverfahren verneinte.Footnote 5 Andererseits kann in den Richtlinien eine weitere Konkretisierung der primärrechtlich (Art. 48 Abs. 2 GRC i.V.m. Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK)Footnote 6 verankerten Grundrechte erblickt werden.Footnote 7 Sie artikulieren bestimmte Aspekte der Rechte, wie sie in Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK aufgeführt sind, genauer und deutlicher. Die Richtlinien ziehen dabei das ”case law“ des EGMR heran, das als eigenständige Rechtsquelle für die europaratsrechtlichen Standards für Strafverfahren in der EU betrachtet werden muss.Footnote 8 Teilweise gießen die Richtlinien die vom EGMR herausgearbeiteten Prinzipien zur Auslegung der in der EMRK genannten Strafverfahrensrechte in „Gesetzesform“. Insgesamt offerieren die Richtlinien im Zusammenhang mit dem Fahrplan eine neue Form des Schutzes für Verdächtige und Beschuldigte im Strafverfahren mit der Intention, ihre sich bereits aus der EMRK ergebenden Rechte ausreichend sichtbar und tatsächlich innerhalb der EU „wirklich und wirksam“ werden zu lassen,Footnote 9 auch wenn sie selten das Wagnis eingehen, über den vom EGMR definierten Standard hinauszugehen.Footnote 10

Des Weiteren ist bei der Konkretisierung zu berücksichtigen, dass die Gewährleistungen der Richtlinien nicht unter das Schutzniveau fallen dürfen, wie es der EGMR in Umsetzung und Auslegung der entsprechenden EMRK-Garantien etabliert hat. Die Richtlinien selbst stellen dies durch sog. Regressionsverbotsklauseln sicher, wonach keine Bestimmung so auszulegen ist, dass dadurch die Rechte und Verfahrensgarantien, die nach der Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind, beschränkt oder beeinträchtigt würden.Footnote 11 Neben einer formalrechtlichen Bindung an das übergeordnete Primärrecht (Grundrechte-Charta und Art. 6 Abs. 2 EUV) besteht ferner eine materiell-rechtliche Bindung, indem in der Rechtsprechung des EuGH die Spruchpraxis des EGMR zum Tragen kommt.Footnote 12

Vor diesem Hintergrund zielt der folgende Beitrag darauf ab, die Wechselwirkungen zwischen den EU-Strafverfahrensrechtsrichtlinien und der EMRK bzw. der Rechtsprechung des EGMR näher zu beleuchten. Er beschränkt sich auf die Bereiche, welche den Gewährleistungsgehalt der EMRK sowie die entsprechende Rechtsprechung des EGMR rezipieren. Die Wechselwirkungen sollen aufgezeigt werden, indem der Garantieinhalt der EMRK in der Auslegung durch den EGMR mit den Verpflichtungen aus der Richtlinie an ausgewählten Beispielen gespiegelt wird. Die Beispiele beziehen sich auf das Recht auf Belehrung und Unterrichtung (2.), das Recht auf Zugang zum Verteidiger (3.) sowie das Recht auf Erhalt von Dolmetschleistungen und Übersetzungen (4.). Der letzte Punkt (5.) zieht die Schlussfolgerungen aus den Analysen.

2 Recht auf Belehrung und Unterrichtung

2.1 Unterrichtung über die „Anklage“ : Dreifache Verpflichtung in der RL 2012/13

Die EMRK enthält für das Strafverfahren zwei zentrale Garantien über die Unterrichtung Verdächtiger oder Beschuldigter. Art. 5 Abs. 2 EMRK normiert, dass jeder festgenommenen Person innerhalb kurzer Frist und in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden muss, welches die Gründe für ihre Festnahme sind und welche Beschuldigungen gegen sie erhoben werden. Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK verlangt, dass jede angeklagte Person innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet werden muss. Trotz ähnlicher Wortlaute verfolgen beide Garantien unterschiedliche Schutzzwecke. Art. 5 Abs. 2 EMRK will ermöglichen, sich gegen die Haft zu wehren, Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK, eine sachgerechte Verteidigung gegen den Tatvorwurf aufzubauen.Footnote 13

Das Unterrichtungsrecht in Art. 6 EMRK ist ferner nicht auf „angeklagte“ Personen im Sinne einer formalen Anklage, etwa nach § 170 StPO, beschränkt, sondern wird autonom und materiell als Gegenstand einer erhobenen Beschuldigung und eines diesbezüglich geführten Verfahrens verstanden.Footnote 14 Dem Zweck entsprechend wird die Unterrichtungspflicht deshalb bereits bei eingeleiteten Ermittlungsmaßnahmen ausgelöst, da es darum geht, dass der Beschuldigte möglichst frühzeitig in die Lage versetzt werden soll, die notwendigen Schritte einzuleiten, um sich gegen die Beschuldigungen und die darauf ggf. gestützten Ermittlungsmaßnahmen zur Wehr zu setzen.Footnote 15

Art. 6 der RL 2012/13 nimmt diese Grundsystematik auf und differenziert zwischen drei Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich der Unterrichtung über den Tatvorwurf.

2.1.1 Ansprüche aller Verdächtigen oder Beschuldigten

Art. 6 Abs. 1 der RL enthält eine allgemeine Verpflichtung für alle Verdächtige oder beschuldigte Personen, die über die strafbare Handlung unterrichtet werden müssen. Hierbei handelt es sich um eine kontinuierliche Verpflichtung während des gesamten Strafverfahrens.Footnote 16 Nach Art. 6 Abs. 1 S. 2 muss diese Unterrichtung umgehend und so detailliert erfolgen, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden. Mit letzterem Halbsatz zum Detailgrad wird die Rechtsprechung des EGMR aufgenommen. Bei der Beurteilung der Adäquanz der Unterrichtung stellt der EGMR auf die ausreichende Vorbereitung der Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 Buchst. b) EMRK) sowie allgemein auf die Fairness des Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) ab.Footnote 17 Verstöße gegen die Unterrichtungspflicht können jedoch im späteren Verfahrensverlauf durch Nachholung geheilt werden.Footnote 18

Auch der Zeitpunkt („umgehend“, engl.: „promptly“) muss im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR ausgelegt werden. Der Gerichtshof stellt auch hier wiederum entscheidend darauf ab, ob die Unterrichtung so rechtzeitig erfolgte, dass eine ausreichende Vorbereitung der Verteidigung gesichert war.Footnote 19 Vor diesem Hintergrund kann Erwägungsgrund 28 der RL nur als Daumenregel verstanden werden, wonach eine Unterrichtung spätestens „vor der ersten offiziellen Vernehmung“ durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde zu erfolgen habe. Denn es sind Situationen denkbar, in denen die Unterrichtung zu einem früheren Zeitpunkt vorgenommen werden muss, etwa wenn gegen einen Beschuldigten eine Hausdurchsuchung durchgeführt wird.Footnote 20 In dem Zusammenhang ist erneut in Erinnerung zu rufen, dass es nicht auf die formale Rechtslage ankommt, sondern eine Person bereits als „angeklagt“ gilt, wenn eine Maßnahme ergriffen wird, die ihrem Zweck nach nur gegen „Beschuldigte“ eines Strafverfahrens gerichtet sein kann.Footnote 21

2.1.2 Festgenommene oder inhaftierte Personen

Eine zusätzliche Verpflichtung ergibt sich für die Strafverfolgungsbehörden, wenn die verdächtige oder beschuldigte Person festgenommen oder inhaftiert wird. Dann muss sie über die Gründe für die Festnahme oder Inhaftierung einschließlich über die strafbare Handlung unterrichtet werden (Art. 6 Abs. 2 der RL). Entgegen Art. 5 Abs. 2 EMRK (in der deutschen Fassung: „innerhalb möglichst kurzer Frist“, engl.: „promptly“, frz.: „dans le plus court délai“) legt die RL interessanterweise keinen Zeitpunkt der Unterrichtung fest. Die Erwägungsgründe der RL verhalten sich über die Auslassung nicht. Da das Schutzniveau der Richtlinie nicht unter das der EMRK fallen darf, sind die Leitlinien des EGMR zu Art. 5 Abs. 2 EMRK heranzuziehen. Die Richter in Straßburg verlangen zwar nicht, dass die Information im Moment der Festnahme passiert, jedoch muss sie „einige Stunden“ nach ihr erfolgen.Footnote 22 Obwohl dies dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 der RL nicht eindeutig zu entnehmen ist, wird man ferner richtigerweise zwischen der Mitteilung über die „Gründe der Festnahme“ und derjenigen über die „strafbare Handlung“ unterscheiden müssen.Footnote 23 Die Gründe der Festnahme sollten dem festnehmenden Amtsträger unmittelbar bei Festnahme bekannt sein, so dass sie ohne Aufschub auch mitgeteilt werden können. Hintergrund ist auch hier wieder Sinn und Zweck der Regelung, nämlich dem Betroffenen ohne zeitliche Umstände die Chance zu geben, gegen die Freiheitsentziehung (Haft) vorzugehen. Informationen über die strafbare Handlung, d.h. über die erhobenen Beschuldigungen, können in der Praxis zum Zeitpunkt der Festnahme unvollständig oder bruchstückhaft sein. Damit die Informationen ggf. noch komplementiert werden können, ist hier ein kurzfristiger Aufschub der Unterrichtung bis zu dem Zeitpunkt denkbar, in dem die Information ordnungsgemäß, d.h. vollständig, durchgeführt werden kann.Footnote 24

Diesen praktischen Problemen trägt der EGMR auch Rechnung, wenn es um Inhalt und Detailgrad der Mitteilung geht. Der Gerichtshof legt besonderen Wert darauf dass dem Betroffenen unverzüglich die rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen der Haft so genau mitgeteilt werden, dass er eine Haftprüfung einleiten kann, auch wenn Art. 5 Abs. 2 EMRK nicht verlangt, dass alle Vorwürfe und Beweismittel aufzuzählen oder Akteneinsicht zu gewähren wären.Footnote 25 Der Gerichtshof erlaubt es auch, dass eine Unterrichtung über die strafbare Handlung bei Gefährdung des Ermittlungserfolgs unterbleiben kann (z.B. weil ein Komplize sich noch auf freiem Fuß befindet).Footnote 26

2.1.3 Personen unter Anklage

Eine besondere Verpflichtung entsteht, wenn das eigentliche Strafverfahren mit der Anklageschrift startet. Nach Art. 6 Abs. 3 der RL müssen spätestens mit Vorlage der Anklageschrift an ein Gericht detaillierte Informationen über den Tatvorwurf einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person erteilt werden. Die gesonderte Erwähnung dieser Situation in der RL trägt der Rechtsprechung des EGMR Rechnung. Danach erneuert sich der Anspruch des Beschuldigten auf Unterrichtung mit der Anklageerhebung. Die Bedeutung dieser Phase des Strafverfahrens für den Informationsanspruch des Beschuldigten hebt der EGMR wie folgt hervor:Footnote 27

„[Art. 6 Abs. 3 lit. a) EMRK] betont die Notwendigkeit, dem Betroffenen die „Beschuldigung“ äußerst sorgfältig bekannt zu geben. Die Anklageschrift spielt im Strafverfahren eine zentrale Rolle. Mit ihrer Eröffnung wird der Beschuldigte offiziell und schriftlich über die rechtliche und tatsächliche Grundlage der gegen ihn erhobenen Vorwürfe informiert. Ein Angeklagter, dem die Gerichtssprache nicht geläufig ist, kann faktisch benachteiligt sein, wenn ihm nicht zusätzlich eine Übersetzung der Anklageschrift in einer für ihn verständlichen Sprache übergeben wird.“

Daraus lässt sich auch ableiten, dass der Detailgrad an Information in dieser Phase am höchsten sein muss. Der Beschuldigte muss in der Lage sein, durch die Unterrichtung seine Verteidigungsrechte vollumfänglich auszuüben, insbesondere Beweise gegen ihn in Frage zu stellen oder entlastende Beweise zu seinen Gunsten beizubringen.

Eine bestimmte Form der Unterrichtung verlangt der EGMR weder im Falle der Unterrichtung nach Art. 5 Abs. 2 noch nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK. Dem Formerfordernis wendet sich auch die Richtlinie nicht zu. Der EGMR prüft nach, ob die Mitteilungen in ihrer Gesamtheit den Anforderungen der Vorschriften genügen. Eine recht niedrige Schwelle setzt der EGMR bezüglich der Mitteilung festgenommener Personen nach Art. 5 Abs. 2 EMRK an, indem er es genügen ließ, dass der Inhaftierte aus dem Inhalt von Verhören (z.B. durch die Polizei oder den Ermittlungsrichter) erfahren konnte, was ihm vorgeworfen wird.Footnote 28 „Anklageschriften“ – Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) – müssen sich ausreichend zur faktischen Grundlage und rechtlichen Einordnung der Vorwürfe verhalten.Footnote 29 Gleiches gilt für Strafbefehle (§ 409 StPO), in denen ebenfalls eine Unterrichtung i.S.v. Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) EMRK liegt.Footnote 30

2.2 Sonderfall: rechtliche oder tatsächliche Veränderungen der „Anklage“

Eine häufig vor den EGMR gebrachte Rechtsfrage ist es, welche Unterrichtungspflichten sich aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. a) und b) EMRK ergeben, wenn sich Details der Anklage ändern. Die einschlägige Rechtsprechung rezipiert im Grunde auch Art. 6 Abs. 4 der RL, wonach die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, dass verdächtigen oder beschuldigten Personen Änderungen der ihnen im Rahmen der Unterrichtung gemäß diesem Artikel gegebenen Informationen umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten. Über die EMRK bzw. den EGMR geht die Norm insofern hinaus, als sie auch für das Vorverfahren anwendbar ist, auch wenn sie in praxi vor allem in der Phase der Hauptverhandlung relevant werden dürfte.Footnote 31 Die Auslegung der Verpflichtung dürfte ohne die einschlägige Judikatur aus Straßburg nicht möglich sein. Dies gilt erstens hinsichtlich des Umfangs des Unterrichtungsrechts und zweitens hinsichtlich dessen Beschränkungen.

Die Unterrichtungspflicht seitens des Gerichts wird nicht nur ausgelöst, wenn sich die tatsächliche Bewertung der vorgeworfenen Handlung ändert, sondern auch die rechtliche Qualifikation, die das Gericht in der Angelegenheit voraussichtlich vornimmt. In seiner Rechtsprechung lässt der EGMR Mittel in den nationalen Prozessordnungen, wie Hinweise auf Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes oder Nachtragsanklagen, unberührt, verlangt aber die rechtzeitige Information über die Änderungen, sei es formal oder implizit spätestens im Laufe der Hauptverhandlung.Footnote 32 Der bloße Hinweis auf die theoretische Möglichkeit, ein Gericht könnte eine Straftat rechtlich anders qualifizieren als die Anklage, ist eindeutig unzureichend.Footnote 33 Wenn sich rechtliche oder tatsächliche Bewertungen im Lauf des Strafprozesses verändern (und diese der ursprünglichen Anklage nicht inhärent waren), muss der Angeklagte durch die Unterrichtung in die Lage versetzt werden, seine Verteidigungsrechte rechtzeitig, praktisch und effektiv wahrzunehmen.Footnote 34 Letzteres zeigt, dass der EGMR eine Verbindung zwischen der Unterrichtungspflicht und der konkreten, wirksamen Ausübung der anderen Verteidigungsrechte des Beschuldigten knüpft.Footnote 35 Die Unterrichtungspflicht wird also erst dann ausgelöst, wenn die Veränderung ein gewisses Ausmaß annimmt. Kriterium ist, dass der Beschuldigte oder sein Verteidiger seine Verteidigungsstrategie entsprechend hätte modifizieren müssen.Footnote 36 Das ist z.B. der Fall, wenn sich der Beschuldigte auf andere rechtliche Argumentationen einzustellen hat oder neue Entlastungsbeweise gegen eine spezifische Handlung beibringen kann. Die Beurteilung erfolgt dabei durch den Gerichtshof abstrakt und ex ante. Irrelevant für den Unterrichtungsanspruch ist es, ob der Beschuldigte einen Verteidiger hat.Footnote 37

Neben der Reichweite ferner zu beachten sind die einschlägigen Urteile des EGMR, wenn es um die Beschränkungen des Unterrichtungsrechts im Falle von Veränderungen der rechtlichen oder tatsächlichen Umstände geht. Zwei Gesichtspunkte sind hier hervorzuheben: Kein Anspruch auf Unterrichtung besteht erstens, wenn eine Neubewertung der Straftat für den Beschuldigten ausreichend vorhersehbar war („suffisamment prévisible“), sofern es ein Element betrifft, das der Anklage inhärent war.Footnote 38 Zweitens können Fehler in Rechtsmittelverfahren geheilt werden, wenn der Betroffene ausreichend Gelegenheit vor den höheren Gerichtsinstanzen erhält, seine Verteidigungsargumente gegen die umformulierte Anklage vorzubringen und seine Verurteilung in Bezug auf alle relevanten rechtlichen und tatsächlichen Aspekte anzufechten.Footnote 39

3 Recht auf Verteidiger

Das Recht auf Zugang zu einem Verteidiger eigener Wahl ist eines von drei in Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) EMRK gewährleisteten Garantien. Zusammen mit dem Recht auf Prozesskostenhilfe ist es eines der wichtigsten Strafverfahrensrechte. Dies hebt auch der Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte in Anlehnung an Aussagen des EGMR hervor, indem er zu Maßnahme C ausführt, dass das Recht auf Rechtsbeistand (durch einen Rechtsberater) für einen Verdächtigen oder Beschuldigten in einem Strafverfahren zum frühesten geeigneten Zeitpunkt des Verfahrens zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens von grundlegender Bedeutung ist.Footnote 40 Es wird in RL 2013/48 näher umrissen, indem drei genauere Verpflichtungen aufgenommen werden. Die RL zeigt sehr anschaulich, wie der EU-Gesetzgeber durch die Rechtsprechung des EGMR beeinflusst war, da der Normtext weitestgehend von der Entscheidung Salduz inspiriert ist.Footnote 41

3.1 Recht auf praktische und wirksame Verteidigung

Die erste konkrete Verpflichtung enthält Art. 3 Abs. 1 der RL. Dementsprechend stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können.

Die „praktische und wirksame Wahrnehmung“ des Rechts geht auf die ständige Rechtsprechung aus Straßburg zurück, welche betont, dass die Konvention nicht nur theoretische und scheinbare Rechte schützen will, also die Bestellung eines Verteidigers noch nicht ausreicht, um die Konventionsgarantie zu erfüllen.Footnote 42 Von herausragender Bedeutung für einen praktischen und wirksamen Schutz des Verteidigungsrechts ist der Zeitpunkt der Anwesenheit des Rechtsbeistandes. Dies trifft ganz wesentlich auf das Ermittlungsverfahren zu. In diesem Zusammenhang führt der EGMR aus:Footnote 43

„Ein Beschuldigter ist in diesem Stadium des Verfahrens in einer besonders verletzbaren Lage, was dadurch verstärkt wird, dass das Strafprozessrecht immer komplexer wird, insbesondere bei den Vorschriften über die Erhebung und Verwertung von Beweisen. In den meisten Fällen kann diese besondere Verletzbarkeit nur durch den Beistand eines Verteidigers angemessen ausgeglichen werden, der insbesondere dafür sorgen muss, dass das Recht jedes Beschuldigten geachtet wird, sich nicht selbst zu beschuldigen. Dieses Recht setzt voraus, dass die Anklage versuchen muss, ihre Behauptungen in einer Strafsache zu beweisen, ohne auf Beweise zurückzugreifen, die durch Zwang oder Druck gegen den Willen des Beschuldigten erlangt worden sind.“ Und weiter: „Jede Einschränkung der Ausübung dieses Rechts muss eindeutig bestimmt und zeitlich strikt beschränkt sein. Diese Grundsätze haben bei schweren Straftaten besondere Bedeutung, denn bei den schärfsten Strafen muss die demokratische Gesellschaft das Recht auf ein faires Verfahren in besonders hohem Maß gewährleisten.“

Die Hauptaussage im Urteil Salduz liegt in der Klarstellung, dass dem Beschuldigten grundsätzlich schon von der ersten Vernehmung durch die Polizei ein Zugang zu einem Verteidiger gewährt werden muss, unabhängig davon welchen Inhalt die Vernehmung hat und welche Aussagen in ihr getätigt werden sollen. Diese Positionierung des EGMR hat in einigen Ländern zu bedeutenden strafprozessualen Reformen geführt, wie z.B. in Frankreich zur garde à vue.Footnote 44 In nachfolgenden Urteilen hat der EGMR über weitere Zeitpunkte geurteilt, zu welchen das Recht auf Rechtsbeistand von den Behörden gewährleistet werden muss.Footnote 45 Diese Leitlinien nimmt die Richtlinie auf, indem sie in Art. 3 Abs. 2 Zeitpunkte benennt, ab denen verdächtige oder beschuldigte Personen Zugang zu einem Rechtsbeistand erhalten müssen.

Als problematisch könnten sich vage Rechtsbegriffe entpuppen wie in Art. 3 Abs. 2 Buchst. c), wonach „unverzüglich“ (engl.: „without undue delay“) nach dem Entzug der Freiheit Zugang zum Rechtsbeistand sichergestellt werden muss. Die Richtlinie will hier offensichtlich den mitgliedstaatlichen Behörden einen gewissen Ermessenspielraum eröffnen, so dass die Entscheidung, ob die festgenommene Person „unverzüglich“ einen Rechtsbeistand erhalten hat, von Einzelfall zu Einzelfall variieren kann. Bei der Interpretation des Begriffs „unverzüglich“ ist zu bedenken, dass der EGMR den staatlichen Behörden hier grundsätzlich keinerlei Ermessen zubilligen will. Vielmehr betont er, dass der Zugang zu einem Rechtsbeistand „ab dem Moment“ der Inhaftnahme („from the moment he is taken into police custody or otherwise remanded in custody“) zu gewährleisten ist.Footnote 46 Neben der in Salduz erwähnten und kongruent auch in Haftsituationen bestehenden verletzbaren Lage der verdächtigen Person fügte der EGMR hier als weiteres Leitkriterium hinzu, dass die Fairness des Strafverfahrens erfordere, dass der Beschuldigte in der Lage sein muss, die gesamte Palette an anwaltlichen Dienstleistungen zu erhalten. Der EGMR erblickt diese in folgenden grundlegende Aspekten der Verteidigung, welche frei ausgeübt werden können müssen: Erörterung des Falles, Organisation der Verteidigung, Sammlung von Beweismitteln zu Gunsten des Betroffenen, Vorbereitung von Verhören, Unterstützung eines Beschuldigten in Not und Überprüfung der Haftbedingungen.Footnote 47 Folglich sind jegliche Verzögerungen zum Verteidigerzugang nach Inhaftierung grundsätzlich nicht zu rechtfertigen.Footnote 48

3.2 Recht auf Kommunikation

Wie eingangs erwähnt, verlangt nach der Rechtsprechung des EGMR das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand mehr als die bloße physische Anwesenheit des Verteidigers. Damit die Rechte real und wirksam gemacht werden, darf der Zugang nicht zum passiven Akt verkümmern.Footnote 49 Ein Gesamtkonzept für eine aktive Teilhabe des Verteidigers am Strafverfahren, insbesondere dem Ermittlungsverfahren, hat der EGMR bislang nicht entwickelt. Auch die Richtlinie sieht ein solches Recht in universaler Form nicht vor. Stattdessen beschränkt sie sich auf einen besonderen Aspekt, den auch der EGMR in seiner Rechtsprechung immer wieder hervorhebt: die staatlichen Behörden dürfen keine Hindernisses aufbauen (insbesondere in Haftsituationen), so dass gewährleistet ist, dass sich Verdächtige oder beschuldigte Personen mit ihrem Rechtsbeistand unter vier Augen treffen und mit ihm kommunizieren können (Art. 3 Abs. 3 Buchst. a) der RL).Footnote 50 Dies beschränkt sich nicht nur auf die Kommunikation vor oder während der Hauptverhandlung, sondern auch auf Befragungen im Ermittlungsverfahren, z.B. durch die Polizei. In concreto bedeutet die Garantie im Lichte der Rechtsprechung des EGMR Folgendes: die Kommunikation muss gewährleisten, dass der Betroffene der Verhandlung folgen kann, keine technischen Hindernisse dem Gespräch entgegenstehen und eine effektive und vertrauliche Verständigung mit dem Anwalt sichergestellt ist. Die Zeit, die der Kommunikation eingeräumt wird, muss so bemessen sein, dass der Komplexität und Schwere des Falles Rechnung getragen wird.Footnote 51

3.3 Vertraulichkeit der Kommunikation

Ein wichtiger Aspekt innerhalb des Rechts auf Kommunikation ist die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Verteidiger und Mandant. Den staatlichen Behörden kann – so der EGMR – eine positive Verpflichtung obliegen, die Vertraulichkeit sicherzustellen, was sowohl für schriftliche wie mündliche Mitteilungen gilt.Footnote 52 Art. 4 der RL 2013/48 nimmt diese Rechtsprechung auf. In diesem Kontext ist die Formulierung, dass die Mitgliedstaaten die Vertraulichkeit der Kommunikation ”beachten“, nicht im Sinne einer Unverbindlichkeit zu verstehen, sondern im Gegenteil als Ausdruck einer Aktivierung der Vertraulichkeit durch geeignete Arrangements oder Schutzmechanismen.Footnote 53

Unklar ist, ob die Vertraulichkeit der Kommunikation absolut gilt oder ob ausnahmsweise Eingriffe zuzulassen sind. Art. 4 der RL selbst formuliert die Verpflichtung zur Vertraulichkeit der Kommunikation in einer absoluten Art und Weise, was auch dem Kommissionsentwurf entsprach. Während der Verhandlungen der RL sprachen sich einige Mitgliedstaaten jedoch für Einschränkungen aus und verwiesen auf die Campbell-Entscheidung, in der der EGMR urteilte:Footnote 54

„…lawyer-client communication is, in principle, privileged“.

Die Argumente für mögliche Relativierungen des Rechts auf Vertraulichkeit wurden am Ende in den Erwägungsgründen 33 und 34 der RL beibehalten. Der Text lässt das Ringen der unterschiedlichen Fraktionen erahnen, inwieweit die Vertraulichkeit der Kommunikation zwischen Mandant und Verteidiger ohne Ausnahme zu gewährleisten sei oder nicht. Die EU-Mitgliedstaaten im Rat sind hier mangels einschlägiger konkreterer Rechtsprechung des EGMR zu den Ausnahmen ein Stück weit vorgeprescht. Zukünftige Entwicklungen werden zeigen, ob die Ausnahmen dem Verdikt aus Straßburg standhalten. So ist bereits jetzt zweifelhaft, ob der bloße Verdachtsumstand einer Verwicklung des Rechtsbeistandes in die Straftat (siehe Erwägungsgrund 33) genügt, das Vertraulichkeitsgebot aufzuheben.Footnote 55 Spannend zu beurteilen sein werden in Zukunft Fragen einer Verletzung der Vertraulichkeit zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit (siehe Erwägungsgrund 34), insbesondere in schwierigen Situationen wie der Bekämpfung des Terrorismus, bei denen sich gegenwärtig noch keine einheitliche Linie des EGMR herausgebildet hat.Footnote 56

3.4 Die Einschränkung der „zwingenden Gründe“

In den Mittelpunkt des Interesses könnte künftig auch die in Art. 3 Abs. 6 der RL getroffene Ausnahmeregelung geraten:

Die Mitgliedstaaten können – unter außergewöhnlichen Umständen und nur im vorgerichtlichen Stadium – vorübergehend von der Anwendung der nach Absatz 3 gewährten RechteFootnote 57 abweichen, wenn dies angesichts der besonderen Umstände des Falles durch einen der nachstehenden zwingenden Gründe gerechtfertigt ist:

  1. a)

    wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben oder für die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist;

  2. b)

    wenn ein sofortiges Handeln der Ermittlungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens abzuwenden.

Auch an dieser Stelle versucht der EU-Gesetzgeber die Rechtsprechung aus Straßburg näher zu qualifizieren, da der EGMR im Salduz-Urteil lediglich feststellte, dass unter besonderer Berücksichtigung des Einzelfalls „zwingende Gründe“ (compelling reasons) eine Restriktion des Verteidigerzugangs im Ermittlungsverfahren rechtfertigen können.Footnote 58 In nachfolgenden Entscheidungen hat der EGMR zunächst keine Präzisierung der „compelling reasons“ erkennen lassen. Erst kürzlich – nach Erlass der Richtlinie – hat der EGMR im Beschwerdeverfahren Ibrahim u.a./Vereinigtes Königreich konkretere Leitlinien des Ausnahmetatbestandes entwickelt.Footnote 59 Daraus lässt sich Folgendes ableiten:Footnote 60

  • Der Test, ob eine Einschränkung von Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) EMRK gerechtfertigt ist, besteht aus zwei Schritten. Erstens: bestehen zwingende Gründe? Zweitens: ist die Benachteiligung durch die Zugangsbeschränkung angemessen? Letzteres schließt eine Gesamtbetrachtung der Fairness des Verfahrens ein.Footnote 61

  • Einschränkungen des Rechts auf Verteidigerzugang sind nur unter außergewöhnlichen Umständen zulässig, sollten zeitlich begrenzt sein und auf einer Einzelfallprüfung der Tatumstände basieren.

  • Bei der Beurteilung, ob zwingende Gründe bestehen, ist relevant, ob es einen rechtlichen Rahmen im nationalen Recht gibt, der klar Reichweite und Inhalt der Ausnahme regelt und der dazu dient, den Entscheidungsprozess der staatlichen Behörden zu leiten.

  • Zu verlangen ist eine individuelle Entscheidungsprüfung in jedem Einzelfall.

  • Die dringliche Notwendigkeit, ernsthafte konkrete Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit einer Person abzuwenden, kommt als zwingender Grund in Betracht.

  • Keinen zwingenden Grund stellt es jedoch dar, wenn von einer allgemeinen Gefahr ausgegangen wird, der Rechtsbeistand könnte als undichte Stelle fungieren, welche das Strafverfahren gefährdet.

Bei genauerem Hinsehen scheint die Entscheidung des EGMR sogar von der EU-Richtlinie beeinflusst. Die Große Kammer des EGMR nimmt in Ibrahim selbst öfters Bezug auf RL 2013/48, wenn sie das europäische Schutzniveau definiert.Footnote 62 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die RL – insbesondere auf Drängen des Europäischen Parlaments – Bedingungen eingeführt hat, welche die Einschränkung des „zwingenden Grundes“ beachtlich begrenzen (siehe Art. 8 und Erwägungsgrund 38 der RL)Footnote 63 und auf die auch der EGMR rekurriert. Die Richtlinie scheint damit prima facie mit der EMRK in der Auslegung durch den EGMR kongruent, jedenfalls soweit der erste Ausschlussgrund vorliegt. Im Ergebnis kommt – sowohl durch die Richtlinie als auch den EGMR – zum Ausdruck, dass eine Beschränkung des Zugangs zu einem Verteidiger nur in absoluten Ausnahmefällen möglich ist (z.B. Szenario einer „tickenden Zeitbombe“). Allgemeinere gesetzliche Regelungen, die den Zugang bei „schwerwiegenden Straftaten“ unter dem Vorbehalt effektiver Gefahrenabwehr ohne Anleitung einer Einzelfallentscheidung und ohne zeitliche Limitierung von Restriktionsmaßnahmen einschränken würden,Footnote 64 wären ebensowenig möglich wie pauschale Begründungen, eine unmittelbare Hinzuziehung des Verteidigers würde den Untersuchungserfolg gefährden. Einem „Feindstrafverfahrensrecht“ erteilt der EGMR eine klare Absage.

Noch unklar ist, wie sich der EGMR zum zweiten zwingenden Grund – erhebliche Gefährdung eines Strafverfahrens – verhalten wird. Der Begriff der „erheblichen Gefährdung“ könnte zu unbestimmt sein. Ferner ist zu bedenken, dass der EGMR in Ibrahim hinsichtlich der Rechtfertigung der vorübergehenden Verzögerung eines Verteidigerzugangs vornehmlich darauf rekurrierte, dass die „Sicherheitsinterviews“ nach englischem Recht mit dem Ziel der Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit anstatt zur Erlangung von Informationen zur Durchführung eines Strafverfahrens geführt worden waren. Aussagen, die eine Person ohne Verteidiger zu ihrem strafbaren Verhalten und damit gerichtet auf das Strafverfahren tätigt, scheinen vom EGMR im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Recht auf Verteidigerzugang per se kritisch gesehen zu werden.Footnote 65 Erneut ist daran zu erinnern, dass die Gefahr einer Kollusion eine Beschränkung im Allgemeinen nicht zu rechtfertigen mag.

4 Recht auf Dolmetschen und Übersetzung

Verdächtige oder Beschuldigte, die die Verhandlungssprache des Gerichts nicht sprechen oder verstehen, müssen die unentgeltliche Unterstützung eines Dolmetschers erhalten. Dies sieht die letzte der in Art. 6 Abs. 3 EMRK aufgeführten Garantien vor (Buchst. e)). Der EGMR betont die enge Verbindung des Rechts auf Übersetzung mit der Fairness des Strafverfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK)Footnote 66 und hat jüngst seine Argumentation zum Recht auf Verteidigerzugang bei der ersten Befragung im Polizeigewahrsam (Salduz-Rechtsprechung, oben 3.) auch auf den Beistand eines Dolmetschers und Übersetzers übertragen:Footnote 67

„The Court notes that the investigation stage has crucial importance for the preparation of the criminal proceedings, as the evidence obtained during this stage determines the framework in which the offence charged will be considered. Moreover, in order to safeguard against ill-treatment and to avoid incriminating statements made during police interrogation without access to a lawyer being used for a conviction, as a rule, access to a lawyer should be provided as from the first interrogation of a suspect by the police, unless it is demonstrated in the light of the particular circumstances of each case that there are compelling reasons to restrict this right (see, inter alia, Salduz v. Turkey [GC], no. 36391/02, §§ 54–55, 27 November 2008). In the same line of reasoning, the assistance of an interpreter should be provided during the investigating stage unless it is demonstrated in the light of the particular circumstances of each case that there are compelling reasons to restrict this right.“

Entscheidend für die Garantie des Art. 6 Abs. 3 Buchst. e) EMRK sind drei Leitlinien, die der EGMR – entgegen des Wortlauts – durch weite Auslegung ermittelt hat:Footnote 68 Erstens bezieht sich das Recht auf die Übertragung aller fremden und eigenen Verfahrenshandlungen und- erklärungen, schließt also die Übersetzung von schriftlichen Dokumenten ein, soweit – so die Einschränkung – deren Kenntnis für eine sachgerechte Verteidigung des Beschuldigten notwendig ist. Zweitens ist die Notwendigkeit der Dolmetscher- und Übersetzungsleistung nicht auf die Vorgänge mit dem Gericht in der Hauptverhandlung beschränkt, sondern gilt grundsätzlich für das gesamte Strafverfahren, also insbesondere auch im Ermittlungsverfahren einschließlich vorbereitender Gespräche und prozessrelevanter Dokumente. Drittens haben die Justizbehörden und Gerichte eine positive Schutzpflicht, die Hilfsbedürftigkeit des Beschuldigten festzustellen und nach Beiziehung die Wirksamkeit der Arbeit des Dolmetschers/Übersetzers zu gewährleisten.Footnote 69

Allerdings hat der EGMR viele Punkte noch nicht abschließend geklärt, so beispielsweise, ob:

  • die Übersetzung bestimmter Dokumente, wie Beweismittel, Urteile, Haftentscheidungen etc. obligatorisch ist;

  • alle Teile des Strafverfahrens übersetzt/gedolmetscht werden müssen oder die sprachliche Unterstützung auf Zusammenfassungen oder Auszüge beschränkt werden kann;

  • eine Übersetzung der Kommunikation mit dem Verteidiger geleistet werden sollte.

Ein offener Punkt ist ferner, welche Anforderungen an die Qualität und Fähigkeiten der Übersetzer/Dolmetscher anzulegen sein sollten.

Die Richtlinie 2010/64 – das erste gesetzgeberische Instrument, welches den Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte in Strafverfahren umsetzt – hat diese Punkte konsolidiert und das Recht aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. e) EMRK weiterentwickelt.Footnote 70 Die Richtlinie zielt darauf ab, unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung zu gewährleisten, damit verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und ein faires Verfahren gewährleistet wird. Sie regelt das Recht auf mündliche Übersetzung (Dolmetschleistungen) und jenes auf schriftliche Übersetzung in zwei getrennten Vorschriften (s. Art. 2 und Art. 3). Ausdrücklich wird klargestellt, dass Dolmetschleistungen auch während des Ermittlungsverfahrens, insbesondere während polizeilicher Vernehmungen zur Verfügung gestellt werden müssen. Ebenso müssen die Mitgliedstaaten Verfahren oder Mechanismen etablieren, um festzustellen, ob die betroffene Person die Sprache des Strafverfahrens spricht oder versteht.

Ein wichtiger Punkt in der Richtlinie ist die Verpflichtung der EU-Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass die gestellten Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen eine ausreichende Qualität aufweisen (Art. 2 Abs. 8, Art. 3 Abs. 9, Art. 5 der RL). In diesem Zusammenhang wird – ausgehend von der Rechtsprechung des EGMR – eine Verbindung zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens hergestellt: verdächtige oder beschuldigte Personen müssen imstande sein zu wissen, was Ihnen zur Last gelegt wird, und ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen. Allerdings überlässt es die Richtlinie den Mitgliedstaaten, die „konkreten Maßnahmen“ zu ergreifen, um die Qualität sicherzustellen (Art. 5 Abs. 1). Konkrete Vorgaben für die fachliche und persönliche Qualifikation werden nicht gemacht, Prämisse bleibt lediglich die Eignung zur Wahrnehmung der genannten Verteidigungsrechte gemäß Art. 2 Abs. 8 und Art. 3 Abs. 9 der RL.Footnote 71 Die Schaffung zentraler Register für angemessen qualifizierte Dolmetscher und Übersetzer – Art. 5 Abs. 2 der RL – ist nicht verpflichtend. Die Mitgliedstaaten müssen jedoch Rechtsschutzmöglichkeiten bei fehlender Qualität der Sprachmittlung vorsehen (Art. 2 Abs. 5, Art. 3 Abs. 5).Footnote 72

Für die Zwecke dieses Beitrages sollen die folgenden zwei Punkte näher beleuchtet werden.

4.1 Sprachmittlung der Kommunikation mit dem Rechtsbeistand

Neuland betritt die Richtlinie mit der Regelung, inwieweit Dolmetschleistungen für die Verständigung zwischen verdächtigen oder beschuldigten Personen und ihrem Rechtsbeistand unentgeltlich zur Verfügung zu stellen sind. Eine eindeutige Rechtsprechung des EGMR existiert hierzu bisher nicht. Der EGMR erkennt jedoch implizit an, dass die Hinzuziehung eines Dolmetschers im Verkehr mit dem Rechtsbeistand eine wichtige Voraussetzung für die Verfahrensfairness und insbesondere für die wirksame, sachgerechte Ausübung der Verteidigung ist.Footnote 73 Der Gerichtshof weicht damit von der restriktiven Haltung der Europäischen Kommission für Menschenrechte ab, welche in ihrer früheren Spruchpraxis den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 3 Buchst. e) EMRK auf Beziehungen zwischen Verteidiger und Mandant ausschloss.Footnote 74 Selbst wenn man annimmt, dass Art. 6 EMRK auch die Verständigung mit dem Rechtsbeistand erfasst, ist jedoch „in Straßburg“ noch ungeklärt, wann und in welchem Umfang die Unterstützung geleistet, und ob sie ggf. nur auf die Kommunikation mit staatlicherseits bestellten Verteidigern beschränkt werden sollte.Footnote 75

In diesen Fragen divergieren auch die Rechtsordnungen der EU Mitgliedstaaten zum Teil erheblich.Footnote 76 Für viele Mitgliedstaaten war – aus Kostengründen und aufgrund der Gefahr eines Missbrauchs – der ursprüngliche Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission nicht akzeptabel, wonach eine Pflicht zur Beiziehung eines Dolmetschers für ”alle erforderlichen Treffen“ zwischen der verdächtigen Person und ihrem Rechtsanwalt bestehen und ein Dolmetscher zur Verständigung mit dem Rechtsbeistand „während des gesamten Strafverfahrens“ zur Seite gestellt werden sollte.Footnote 77 Als Kompromiss sieht nun Art. 2 Abs. 2 der RL vor, dass

„Dolmetschleistungen für die Verständigung zwischen verdächtigen oder beschuldigten Personen und ihrem Rechtsbeistand in unmittelbarem Zusammenhang mit jedweden Vernehmungen und Verhandlungen während des Verfahrens oder bei der Einlegung von Rechtsmitteln oder anderen verfahrensrechtlichen Anträgen zur Verfügung stehen, wenn dies notwendig ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“

Mit dem Text wollte der EU-Gesetzgeber eine zu weite Ausdehnung der Sprachmittlung zwischen Mandant und Verteidiger verhindern. Durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe könnten – je nach Umsetzung in den einzelnen Mitgliedstaaten – in Zukunft jedoch die europäischen Gerichte zur notwendigen Auslegung auf den Plan gerufen werden: Was unterfällt „anderen verfahrensrechtlichen Anträgen“? Welche Verständigung steht (noch) „in unmittelbarem Zusammenhang“ mit Vernehmungen und Verhandlungen? Welche Vorgänge lassen sich nicht mehr als „notwendig, um ein faires Verfahren zu gewährleisten“ qualifizieren? Kann die Entscheidung über die Notwendigkeit der Gewährleistung eines „fairen Verfahrens“, die den Gerichten und Justizbehörden obliegt, angefochten werden, und wenn ja in welchem Umfang?Footnote 78

4.2 Übersetzung „wesentlicher Dokumente“ in die Gerichtssprache

Eine der praxisrelevantesten Bestimmungen der Richtlinie stellt das Recht auf Übersetzung von Schriftstücken dar, welche die verdächtige oder beschuldigte Person nicht versteht. Art. 3 Abs. 1 der RL 2010/64 regelt allgemein, dass die Personen innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten müssen, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten. Den Begriff der „wesentlichen Unterlagen“ deduzierte der EU-Gesetzgeber aus der Rechtsprechung des EGMR. Im Kamasinski-Urteil stellte der EGMR grundlegend fest, dass sich das Recht auf Verdolmetschung auch auf Aktenmaterial beziehen müsse und dass die einer Straftat angeklagte Person über die gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen soweit unterrichtet sein müsse, dass sie sich verteidigen kann.Footnote 79 Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie definiert dann diejenigen wesentlichen Unterlagen, die grundsätzlichFootnote 80 stets übersetzt werden müssen; dazu gehören jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil. Zu beachten ist, dass die Begriffe unionsrechtlich autonom auszulegen sind und ihnen deshalb ein weitergehendes Verständnis zugrunde gelegt werden kann, als es dem nationalen Recht entspricht.Footnote 81 Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie regelt darüber hinaus, dass die zuständigen Behörden im konkreten Fall darüber entscheiden müssen, ob weitere Dokumente „wesentlich“ sind. Die Entscheidung darüber erfolgt von Amts wegen oder auf begründeten Antrag verdächtiger oder beschuldigter Personen oder ihres Rechtsbeistands. Die Beurteilung der Wesentlichkeit wird hier – mit Ausnahme der in Abs. 2 der RL aufgeführten Unterlagen – also in das pflichtgemäße Ermessen der staatlichen Stellen gestellt.

Bereits relevant geworden ist das Recht auf Übersetzung aus der Richtlinie in der Rechtsprechung des EuGH hinsichtlich der Frage, ob auch schriftliche Eingaben aus der Sprache des Beschuldigten in die Gerichtssprache übersetzt werden müssen. Im konkreten Fall – Rs. Gavril Covaci – wurde die deutsche Rechtsprechungspraxis auf den Prüfstand gestellt, wonach nicht in deutscher Sprache abgefasste Schriftstücke unbeachtlich sind, selbst wenn sie eine Rechtsmittelschrift beinhalten, wie im konkreten Fall den Einspruch gegen einen deutschen Strafbefehl. Mit Verweis auf Wortlaut und Ziele der Richtlinie sah der EuGH weder aus Art. 2 der RL – dem Recht auf Dolmetschleistungen – noch aus Art. 3 Abs. 1 und 2 – dem Recht auf Übersetzung schriftlicher Unterlagen – einen Anspruch des Beschuldigten auf Übersetzung \(in\) die Gerichtssprache.Footnote 82 Der Anwendungsbereich der Vorschriften erfasse lediglich solche Unterlagen oder Mittelungen, die für den Beschuldigten notwendig sind, um den gegen ihn in einer ihm nicht mächtigen Sprache geführten Strafprozess zu folgen, was Unterlagen ausschließe, die der Beschuldigte selbst vorlegt.Footnote 83 Der EuGH sieht also lediglich einen Anspruch auf Übersetzung aus der Gerichtssprache.

Der Gerichtshof rekurriert bei dieser Interpretation sogar ausdrücklich auf das erwähnte Kamasinski-Urteil des EGMR und argumentiert, dass sich daraus lediglich die Pflicht ergebe, dass der Beschuldigte verstehen kann, was ihm vorgeworfen werde, und sich verteidigen kann; eine schriftliche Übersetzung jedes schriftlichen Beweises oder jedes Aktenstücks werde nicht verlangt.Footnote 84 Allerdings hat der EGMR in dem besagten Urteil unmissverständlich Folgendes klargestellt:Footnote 85

„[A]rt. 6-3-e) [ECHR] signifies that a person ”charged with a criminal offence” who cannot understand or speak the language used in court has the right to the free assistance of an interpreter for the translation … of all those documents or statements in the proceedings instituted against him which it is necessary for him to understand or to have rendered into the court’s language in order to have the benefit of a fair trial.“

Der Rechtsprechung des EGMR ist also entgegen der Ansicht des EuGH durchaus zu entnehmen, dass Verpflichtungen des Gerichts bestehen, Schriftstücke in die Gerichtssprache zu übersetzen. Unter Zugrundelegung der Auslegung der Art. 2 und 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2010/64 im Lichte des Art. 6 Abs. 3 Buchst. e) EMRK hätte der EuGH zum gegenteiligen Ergebnis kommen können, wenn nicht sogar müssen. Eine Kongruenz zur Garantie des Art. 6 Abs. 3 Buchst. e) EMRK in der Auslegung des EGMR ist jedoch auch nach der Rechtsprechung des EuGH noch möglich, da die Richter in Luxemburg dem deutschen Vorlagegericht die Entscheidung überließen, ob der schriftlich eingelegte Einspruch gegen einen Strafbefehl als „wesentliches Dokument“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der RL anzusehen ist, das übersetzt werden muss.Footnote 86

Die Umsetzung dieser letzteren Passage des EuGH-Urteils in die deutsche Rechtspraxis ist jedoch umstritten. Nach der einen Ansicht müssen im Sinne eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens ab sofort auch nicht in deutscher Sprache verfasste Schriftstücke, wenn ihnen ersichtlich nicht jede Verfahrensrelevanz fehlt, übersetzt werden; im Falle von Rechtsmitteln sei bereits die Frist mit Eingang des ursprünglichen Schreibens in der Muttersprache des Beschuldigten gewahrt.Footnote 87 Eine andere Ansicht plädiert für eine weiterhin restriktive Auslegung des „wesentlichen Dokuments“, indem sie argumentiert, dass auch Art. 3 Abs. 3 der RL nicht die Übersetzung fremdsprachiger Schriftstücke durch das Gericht erfasse; folglich können auch nicht in deutscher Sprache eingelegte Rechtsbehelfe nicht fristwahrend wirken.Footnote 88

Der EuGH hat es im Covaci-Urteil versäumt, die Rechte gerade unverteidigter Beschuldigter, die die Gerichtsprache nicht sprechen oder verstehen, zu stärken, obwohl ihm dies unter Zugrundelegung der entsprechenden Kamasinski-Rechtsprechung des EGMR möglich gewesen wäre. Zu beachten ist vor allem die Bedeutung des Einspruchs gegen den Strafbefehl, mit dem der Beschuldigte überhaupt erst erreichen kann, dass ein bisher nur schriftlich gegen ihn geführtes Verfahren in eine Hauptverhandlung überführt wird, in der er erst sein Grundrecht auf rechtliches Gehör zur Geltung bringen kann. Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie muss im Zusammenhang mit den einschlägig aufgestellten Grundsätzen zu Art. 6 EMRK gelesen werden, wonach die Rechte aus Art. 6 EMRK „wirklich und wirksam“ und nicht nur theoretisch sein müssen, und somit stets so zu verstehen sind, dass dem Beschuldigten ein faires Verfahren zuteil wird (s.o. 1.). Angesichts der Bedeutung des Einspruchs gegen einen Strafbefehl dürfte das Scharnier zur Verfahrensfairness kaum in Abrede zu stellen sein, weshalb im Sinne des EGMR die bisherige deutsche „Linie“, nicht in deutscher Sprache abgefasste Erklärungen und Einlassungen des Beschuldigten als unbeachtlich zu betrachten, nicht mehr aufrechtzuerhalten ist.

5 Schlussfolgerungen

Die exemplarisch durchgeführte Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen den EU-Richtlinien zur Stärkung der Verfahrensrechte und der EMRK führt zu folgenden Schlussfolgerungen:

Die Richtlinien rezipieren in weiten Teilen die entsprechende EMRK-Garantie in ihrer Auslegung und Ausprägung durch den EGMR. Prägnantes Beispiel hierfür ist die Salduz-Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Recht auf Verteidigerzugang (Art. 6 Abs. 3 Buchst. c) EMRK), welche leitbildend für RL 2013/48 war.Footnote 89 Dieser Ansatz des EU-Gesetzgebers führt einerseits dazu, dass die RLen auch die vom EGMR im Prinzipienteil seiner Urteile verwendeten allgemeinen Rechtsbegriffe importieren. Folglich bleibt das entsprechende „case law“ des EGMR die maßgebliche Erkenntnisquelle für ihre Ausdeutung. Beispiele hierfür sind die Auslegung der „Detailliertheit“ der Information über die Anklage, so dass ein „faires Verfahren und eine wirksame Ausübung der Verfahrensrechte gewährleistet sein muss“. Gleiches gilt für die Frage, was „umgehende“ Unterrichtung über den Tatvorwurf bedeutet.Footnote 90 Manchmal enthält die Richtlinie eine nur unvollständige Regelung, wie etwa zum Problem, inwieweit eine neue Unterrichtung bei Veränderungen rechtlicher oder tatsächlicher Gesichtspunkte der „Anklage“ notwendig ist; hier können die vom EGMR entwickelten Grundsätze zu Umfang und Beschränkungen des Rechts entscheidungserheblich sein.Footnote 91

Andererseits besteht durch ungenaue oder eine zu bestimmten Aspekten fehlende Rezeption die Gefahr, dass das EU-Recht selbst das Schutzniveau der – bereits lediglich als Mindeststandard definierten – EMRK unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des EGMR unterschreitet, so dass durch entsprechende EMRK-konforme Auslegung gegengesteuert werden muss. Als Beispiele hierfür lassen sich anführen der eingeführte Passus eines Zeitpunktes („unverzüglich“) bei der Gewährung des Rechts auf Rechtsbeistand im Falle des Entzugs der Freiheit oder die Reichweite des Rechts auf Kommunikation des Beschuldigten mit dem Rechtsbeistand.Footnote 92 Wie schwierig es ist, Kohärenz und Konsistenz mit den existierenden und sich fortentwickelnden Rechtsgewährleistungen der EMRK in ihrer Ausprägung durch die Straßburger Spruchpraxis herzustellen, zeigt sich auch in der bereits zu Tage getretenen Diskrepanz zwischen der Auslegung entsprechender Rechte durch den EuGH in Luxemburg und dem EGMR. Dies konnte hier am Problem veranschaulicht werden, inwieweit Verpflichtungen der Staaten bestehen, Eingaben und Einlassungen des Beschuldigten in dessen Muttersprache in die Gerichtssprache zu übersetzen.Footnote 93 Ob hier der EuGH den „Strasbourg proofFootnote 94 erfüllt hat, erscheint fraglich.

Auf der anderen Seite ist zu konstatieren, dass die Richtlinien in manchen Bereichen wegweisend sind, da die Rechtsprechung aus Straßburg noch nicht ausdifferenziert oder nicht dezidiert genug ist. Als Beispiele lassen sich hier die EU-Bestimmungen zur Qualität von Dolmetschleistungen und Übersetzungen anführenFootnote 95 sowie die Konkretisierung der Ausnahmetatbestände der „zwingenden Gründe“ im Hinblick auf das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Ermittlungsverfahren, insbesondere bei der polizeilichen Vernehmung.Footnote 96 In diesem Bereich existiert gleichsam spannungsgeladenes Entwicklungspotential, da künftig noch (lückenfüllende) Entscheidungen zu grundlegenden Aspekten zu erwarten sind. Aufgrund des grundrechtlichen Mehrebenensystems sind hierzu sowohl Luxemburg als auch Straßburg berufen. In dieser Hinsicht zu erwähnen sind etwaige Ausnahmen zum Vertraulichkeitsgebot der Kommunikation zwischen Anwalt und Beschuldigtem sowie das Recht auf Dolmetschung der Kommunikation zwischen Rechtsbeistand und Beschuldigtem.Footnote 97

Summa summarum: Es lohnt sich – gerade auch für den Rechtsbeistand eines Beschuldigten im Strafverfahren – im Falle der Anwendung der Rechte aus den EU-Richtlinien zur Stärkung der Verfahrensrechte die zugrundeliegende Judikatur des EGMR heranzuziehen und zu analysieren, um ggf. Argumentationslinien gegenüber dem entscheidenden Gericht zu entwickeln.