Vor fast 100 Jahren gab der englische Romancier und Sozialphilosoph H. G. Wells die folgende Prognose ab, die seither die Eingangsseiten vieler Bücher unseres Faches schmücktFootnote 1:

A basic literacy in statistics will one day be as necessary for efficient citizenship as the ability to read and write.

Nun, Lesen und Schreiben kann man abhaken; das können die meisten Menschen in entwickelten Industrienationen heute genauso gut wie sie es zu der Zeit konnten, als Wells diese Prognose abgab. Aber mit der „basic statistical literacy“ hapert es. Niemand zweifelt, dass sie nötig ist, so wie von Wells vorhergesagt. Aber bei den meisten Zeitgenossen ist sie nicht vorhanden; wie aus verschiedenen Beiträgen dieses Sonderheftes deutlich wird, ist der vernünftige Umgang mit Zahlen und daraus abgeleiteten Statistiken immer noch kein selbstverständlicher Teil des intellektuellen Rüstzeugs, mit dem der Homo sapiens des 21. Jahrhunderts die moderne Welt zu bewältigen angetreten ist. Im Gegenteil, viele Fehlinterpretations- und Trugschlussmuster scheinen allen Reparatur- und Belehrungsversuchen zu trotzen; Beispiele dafür zu finden, so wie sie auf den Internetseiten https://www.statistik.tu-dortmund.de/1735.html

oder

https://www.jku.at/institut-fuer-angewandte-statistik/news-events/unsinn-in-den-medien/

gesammelt werden, ist heute nicht schwieriger als vor 20 oder 40 Jahren.

Die Beiträge in diesem Sonderheft gehen aber einen wichtigen Schritt weiter. Sie beschäftigen sich auch mit den Ursachen der Statistical Illiteracy und den daraus abzuleitenden Konsequenzen. Ganz gleich ob diese störrische Unbelehrbarkeit genetisch fest verdrahtet und damit nur medizinisch zu kurieren oder einer rationalen Aufklärung mit Appellen an Vernunft und Einsicht zugänglich ist: Auf jeden Fall haben wir hier ein enormes individual- und gesellschaftspolitisches Problem. Und wer wenn nicht die Gemeinschaft der Statistiker ist hier aufgerufen, für Abhilfe zu sorgen. Unter anderem auch deshalb gibt es seit vier Jahren in der Deutschen Statistischen Gesellschaft eine Arbeitsgruppe „Statistical Literacy“ (obwohl es die deutsche und nicht die englische Statistische Gesellschaft ist, haben wir den Namen als kleine Hommage an Wells so belassen; wer aber einen knackigen deutschen Ausdruck weiß, bitte melden). Die beiden Leiter, Walter Krämer und Katharina Schüller, haben zusammen mit Andreas Quatember aus Linz dieses Sonderheft zusammengestellt. Andreas Quatember hat auch die Sitzung des Arbeitskreises anlässlich der Statistischen Woche 2018 in Linz geleitet, drei Beiträge dieses Sammelheftes basieren auf Vorträgen auf dieser Konferenz. Weitere gehen auf andere AG-Sitzungen oder auf das wissenschaftliche Kolloquium 2015 des Statistischen Bundesamtes zum Thema „Statistik verstehen“ zurück und sind für die Zwecke dieses Sammelbandes aktualisiert und angepasst.

Björn Christensen formuliert „Anforderungen an eine Statistik-Ausbildung im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund von Statistical (Il‑)Literacy“, die er prägnant aus einer Vielzahl von eingängigen Beispielen ableitet. Er empfiehlt eine Abkehr vom eigenhändigen Berechnen statistischer Ergebnisse und stattdessen eine Hinwendung zum „Denken in Daten(modellen)“.

Patrizia Collesi vom italienischen ISTAT berichtet in ihrer Arbeit mit dem Titel „Statistical literacy: a key to comprehend a changing world“ über die Anstrengungen, die am italienischen Statistikamt im Bereich der Statistical Literacy unternommen werden. Unter anderem werden die Ziele auf Schul- und Universitätsebene und auf der Ebene verschiedener Interessensgruppen formuliert und die gemachten Erfahrungen angesprochen.

Joachim Engel von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg sowie seine Koautorinnen und -autoren Rolf Biehler, Daniel Frischemeier, Susanne Podworny, Achim Schiller und Laura Martignon stellen in ihrem Papier „Zivilstatistik: Konzept einer neuen Perspektive auf Data Literacy und Statistical Literacy“ eine Erweiterung der Statistical Literacy vor, der sie, an der Schnittstelle von Statistik, Gesellschafts- und Erziehungswissenschaften verortet, den Namen Zivilstatistik geben. Dabei geht es um die Fähigkeit des Verstehens statistischer Informationen über die Gesellschaft. Das Papier richtet sich demnach gleichermaßen an Bildungseinrichtungen, Statistikanbieter und Medien.

Im Beitrag „Official statistics through the eyes of students and teachers – the European Statistics Competition“ von Alicia Fernández Sanz, Sybille Luhmann und Adolfo Gálvez Moraleda vom spanischen Statistikamt INE bzw. Eurostat wird von den Erfahrungen mit einem europäischen Wettbewerb berichtet, an dem Schüler und Schülerinnen einerseits eigene spannende Erfahrungen mit Datenanalyse machen und andererseits dabei die nationalen Statistikämter als verlässliche Datenlieferanten kennenlernen sollten.

Tanja Ihden weist in Ihrem Beitrag zu statistischen Begriffen und Denkweisen in den Rechtswissenschaften nach, dass vor allem im Medizinrecht sowie im Staats‑, Verfassungs- und Umweltrecht immer häufiger statistische Begriffe und Argumente in gerichtliche Entscheidungen einfließen. Anhand von zwei Fallbeispielen zeigt sie dann, dass Juristen durchaus sachgemäß mit Konfidenzintervallen und Hochrechnungsfehlern bei Stichproben umgehen können, wenn die streitenden Parteien ihre Argumente nur sachgemäß genug vortragen.

Laura Martignon und Katryn Laskey vergleichen Strategien zum Umgang mit Gefahr und Risiko. Sie zeigen anhand von Beispielen aus der Medizin, dass einfache heuristische Entscheidungsregeln durchaus in der Lage sind, mathematisch optimale, aber komplizierte Verfahren zu ersetzen.

Der Aufsatz von Katrin Schmidt und Thomas Weißbrodt mit dem Titel „Traue einer Statistik, die du nicht selbst erstellt hast“ dokumentiert die verantwortungsvolle Arbeit der Statistik der Bundesagentur für Arbeit im Bereich Statistical Literacy. Sein spezieller Fokus liegt dabei naturgemäß auf den Arbeitsmarktstatistiken.

Katharina Schüller von STAT-UP, Spezialanbieter für Statistische Beratung und Data Science, formuliert in ihrem Aufsatz die Fähigkeit, planvoll mit Daten umzugehen, sie bewusst einsetzen und hinterfragen zu können, als wesentliche Herausforderung und Schlüsselkompetenz für die Zukunft. Der Begriff der Data Literacy umfasst die Statistical Literacy und ist dennoch viel mehr als nur diese: Er umfasst neben den methodischen Kompetenzen auch die Fähigkeiten, Daten auf kritische Wiese zu sammeln, zu managen, zu bewerten und anzuwenden.

Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, die so bereitwillig ihre Texte zur Verfügung gestellt und überarbeitet haben und weisen nochmals darauf hin, dass diese Arbeitsgruppe allen offen steht, die sich für dieses Thema interessieren. Man findet uns auch bei Facebook und im Internet.

Dortmund, München und Linz, November 2019

Walter Krämer, Katharina Schüller, Andreas Quatember