Einleitung

Das Gespräch und die Beobachtungen im unmittelbaren Kontakt sind wesentliche diagnostische Werkzeuge des psychiatrisch/psychologischen Fachgebietes. Somit ist die Exploration eine sehr wichtige, wenn nicht sogar zentrale Erkenntnisquelle und damit auch die Basis gutachterlicher Schlüsse. Zu Recht heißt es bei Janzarik (1974, S. 41): „Die Grundlagen der psychiatrischen Beurteilung werden in der Exploration … bei der Beschäftigung mit der inneren und äußeren Lebensgeschichte erarbeitet“.

Allerdings gibt es einige forensische Aufgabenbereiche und Erfahrungsfelder, in denen eine Begutachtung nur aufgrund der Aktenlage möglich ist und in vielen Fällen auch durchaus sachgerecht erfolgen kann. Dies betrifft z. B. posthume Gutachten zur Testierfähigkeit (Cording und Saß 2017) oder Selbstmordattentätern (Saß 2022), Homizid-Suizid-Konstellationen (Frei et al. 2011) bzw. die Frage der Willensfreiheit bei Suizidenten (Hambrecht 2021). Im vorliegenden Beitrag soll es jedoch um die nicht seltenen Konstellationen im strafrechtlichen Kontext gehen, in denen eine Mitwirkung an der Untersuchung durch den Probanden oder seine Verteidigung abgelehnt wird. Da die Mitarbeit bei der Begutachtung freiwillig ist, ist diese Ablehnung zu akzeptieren. Sie kann Ausdruck einer Verfahrensstrategie (z. B. bei Zweifeln an der Täterschaft, Frage einer Sicherungsverwahrung) sein, andererseits aber auch Krankheitsfolge, z. B. bei fehlender Krankheitseinsicht und/oder Misstrauen gegenüber Psychiatern/Psychologen.

Unabhängig von den Hintergründen einer fehlenden Mitwirkung steht stets die Frage im Raum, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen ein Sachverständigengutachten ohne persönliche Exploration erstattet werden kann. Dabei kann, um die in solchen Fällen besonders relevant werdenden Aspekte zu adressieren, erneut auf das oben genannte Zitat von Janzarik Bezug genommen werden. Es lautet nämlich vollständig wie folgt: „Die Grundlagen der psychiatrischen Beurteilung werden in der Exploration und anhand der objektiven Zeugnisse und Ermittlungen bei der Beschäftigung mit der inneren und äußeren Lebensgeschichte erarbeitet“ (Hervorhebung durch die Autoren). Janzarik legt dar, dass es im Idealfall einer Begutachtung um den Abgleich von Informationen, die im Untersuchungsgespräch gewonnen werden, mit Ermittlungsergebnissen und Akteninhalten geht. Ziel ist die Analyse der inneren und äußeren Lebensgeschichte sowie der biografischen Entwicklung zur Beantwortung der Frage, wie sich die Tatvorwürfe in diese integrieren. Letztlich ist zu klären, welcher Verstehenshintergrund aus der Analyse von Biografie und Krankengeschichte für das vorgeworfene Delikt und die Kriminalprognose gewonnen werden kann.

Fehlt es an der Möglichkeit zur Exploration, gewinnt dabei die Aktenlage an Bedeutung. Beinhaltet sie umfangreiches, für die Begutachtung verwertbares Material, muss keinesfalls zwangsläufig davon ausgegangen werden, dass gutachterliche Aussagen bei Verweigerung der Mitarbeit „nur in sehr engen Grenzen“ (Dressing und Foerster 2021, S. 27) möglich sind. Vielmehr geht es grundsätzlich darum, ob und, wenn ja, wie die Exploration durch Akteninhalte/Ermittlungsergebnisse substituiert werden kann.

Die vorliegende Arbeit wird Antworten auf diese Frage skizzieren und Hinweise zur sachgerechten Erstellung von Aktengutachten geben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es im deutschen Strafprozess beim vorbereitenden schriftlichen Gutachten zunächst nur um eine vorläufige Stellungnahme nach Aktenlage geht, während in das endgültige Gutachten am Ende der Hauptverhandlung zusätzlich die Erkenntnisse aus der Beweisaufnahme einschließlich der dort möglichen Beobachtungen einfließen. Dies führt in der überwiegenden Zahl der Fälle zu einer erheblichen Erweiterung der Beurteilungsgrundlagen. In der Schweiz ergibt sich diese Möglichkeit aufgrund des fehlenden Unmittelbarkeitsprinzips in der Regel nicht. Bevor das jeweilige Vorgehen bei der Begutachtung nach Aktenlage skizziert wird, soll zunächst auf aus Sicht der Autoren unzulässige Aktengutachten eingegangen werden.

Unzulässige Aktengutachten

Aktengutachten können, auch wenn der Proband aus früheren Untersuchungen bekannt ist, nicht erstellt werden, wenn die Mitwirkung an den Untersuchungen nicht abgelehnt wird. Diese Feststellung klingt profan, jedoch können sich z. B. im Hinblick auf zeitliche Vorgaben Situationen ergeben, in denen Gutachter in Versuchung geraten können, ohne Untersuchung zu arbeiten. Hinsichtlich eines solchen Falles war einer der Autoren (E.H.) um eine methodenkritische Stellungnahme gebeten worden. Interessanterweise bezog sich die Anfrage des zuständigen Obergerichts lediglich auf Unklarheiten/Unstimmigkeiten bezüglich der eingesetzten Prognoseinstrumente. Bei Durchsicht der Akten ergab sich jedoch das folgende, wesentlich grundlegendere Problem, das erstinstanzlich trotz Kritik der Verteidigung unbeachtet geblieben war:

Ein erstes Gutachten über den Prob. war von dem Gutachter im März 2015 erstellt worden und basierte auf Untersuchungen im Dezember 2014 und März 2015. Dem als „Ergänzungsgutachten“ betitelten zweiten Gutachten lagen Tatvorwürfe aus einem Zeitraum von Mai 2015 bis Juli 2016 zugrunde. Es wurde im Februar 2019 vorgelegt und nahm ohne erneute persönliche Untersuchung Stellung zur Schuldfähigkeit und Kriminalprognose. Aus den Akten ging nicht hervor, ob ein Versuch unternommen worden war, den Prob. zu einer Untersuchung aufzubieten. Weiterhin war nicht ersichtlich, dass die Begutachtung, z. B. im Rahmen der Einvernahmen, verweigert worden wäre.

In der oben genannten Konstellation ein Gutachten ohne persönliche Untersuchung zu erstellen, ist problematisch und aus hiesiger Sicht sogar unzulässig: Schließlich waren Tatvorwürfe zu beurteilen, die sich im Zeitraum zwischen Abgabe des ersten Gutachtens und der Erstellung des neuen Gutachtens ereignet haben sollen. Der Proband muss die Gelegenheit bekommen, zu diesen Vorwürfen bzw. deren Hintergründen sowie zu seiner Verfassung im Deliktzeitraum des aktuellen Verfahrens Stellung zu nehmen. Zwar entscheiden Sachverständige über die Art und Weise der Gutachtenerarbeitung grundsätzlich selbst (BGH 1998, 2002). Mit Rücksicht auf das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung hat ein Gutachten allerdings relevante Tatsachen umfassend zu berücksichtigen, soweit sie in zumutbarer Weise in Erfahrung gebracht werden können (BVerfG 2014). Wenn einer Exploration also nichts im Weg steht, ist von dieser Erkenntnismöglichkeit Gebrauch zu machen. Dass kein Versuch unternommen wurde, mit ihm in Kontakt zu treten bzw. eine gutachterliche Untersuchung zu vereinbaren, ist somit als ein grundlegender methodischer Mangel zu bewerten. Im vorab skizzierten Fall wurde daher auf die Erstellung eines ausführlichen methodenkritischen Gutachtens verzichtet; das zuständige Gericht gab ein neues Gutachten in Auftrag.

Wann sind Aktengutachten zulässig?

Aus Sicht der Autoren dieses Beitrags kommen Aktengutachten nur in Betracht, wenn die Mitwirkung an der Begutachtung abgelehnt wird. Dies kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit jeweils unterschiedlichen Auswirkungen auf den Prozess der Informationsgewinnung und Gutachtenerstellung geschehen:

Zunächst kann die Mitwirkung an der Exploration vom Angeklagten bzw. der Verteidigung bereits im Vorfeld einer möglichen Untersuchung (z. B. im Rahmen der Einvernahmen oder in einem Schreiben an den Auftraggeber oder den Gutachter selbst) abgelehnt werden. Die vorab schriftlich oder im Rahmen einer Einvernahme persönlich formulierte Ablehnung einer Mitwirkung an der Begutachtung ist das gute Recht des Expl. und daher zu akzeptieren. Sie darf keinen Einfluss auf die gutachterlichen Schlüsse haben. Der betroffene Gutachter hat also zunächst zu prüfen, ob die Verweigerung der Mitwirkung zu einer Befangenheit geführt haben kann oder den Vorwurf der Befangenheit begründen könnte. Dies könnte z. B. der Fall sein, wenn konkret die Person des Gutachters als Grund der Ablehnung formuliert wurde und dies evtl. auch mit von ihm vertretenen Positionen, vermeintlich fehlenden Kompetenzen oder gar herabwürdigenden Aussagen begründet wird. Dabei wäre die Übernahme der Begutachtung allerdings nur dann abzulehnen, wenn der Gutachter sich wegen der genannten Umstände befangen fühlt.

Demgegenüber ist eine generelle Ablehnung der Begutachtung, wenn der Proband die Mitwirkung verweigert hat, nicht zwingend und auch nicht sinnvoll. Kröber (2013) hat zutreffend darauf hingewiesen, dass dies auch rechtlich problematisch ist, denn geeignete Fachleute oder allgemein beeidete Sachverständige sind verpflichtet, Gutachtenaufträge anzunehmen, wenn nicht wichtige Hinderungsgründe vorliegen (§ 75 StPO). Der Gutachtenauftrag wird durch die Ablehnung der Begutachtung nicht zwangsläufig hinfällig. Eine Entpflichtung des Gutachters durch das Gericht kommt insbesondere dann nicht in Betracht, wenn ein Verzicht auf die Begutachtung nicht möglich ist, weil zwingend eine gerichtliche Entscheidung zu treffen ist und die Sachkunde der Richter nicht ausreicht. Kommt die Unterbringung des Angeklagten in einer der Maßregeln gem. §§ 63–66 StGB in Betracht, so erfordert die Strafprozessordnung (§ 246a), dass in der Hauptverhandlung die Vernehmung eines Sachverständigen erfolgt, was selbstverständlich eine Beschäftigung mit der Aktenlage voraussetzt. Bei der vorbehaltenen oder der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist gem. § 275a StPO vor der Entscheidung die Einholung von ein bzw. zwei Sachverständigengutachten vorgeschrieben, was natürlich, falls einer Exploration nicht zugestimmt wird, als Aktengutachten geschehen muss. Vor allem in Fällen mit schwerwiegenden psychischen Störungen könnte eine generelle Ablehnung von Aktengutachten dazu beitragen, dass Betroffene bestraft statt behandelt werden (Konrad et al. 2019). Insofern ist eine generelle Ablehnung von Aktengutachten auch medizinethisch bedenklich.

Es gibt also gute Gründe dafür, im Fall einer Ablehnung weiter am Fall zu arbeiten und sich dabei auf die Akten zu stützen. Dies ist nicht per se für die gutachterlichen Schlussfolgerungen problematisch und widerspricht auch nicht der Methodik psychiatrischer Gutachten, die nicht zuletzt in Fragen der Kriminalprognose stets eine sorgfältige Aktenanalyse beinhaltet (Kröber et al. 2019). Allerdings hängt die Aussagekraft der gutachterlichen Schlussfolgerungen vom Umfang und insbesondere vom psychiatrisch/psychopathologischen Gehalt der Aktenlage ab. Somit kann es Konstellationen geben, z. B. bei Ersttätern ohne umfangreiche Vorakten und ohne psychiatrische Vorgeschichte, bei denen eine Begutachtung nach Aktenlage nicht möglich ist. In Deutschland ergibt sich dann die Möglichkeit, das Gutachten lediglich auf der Basis der Beobachtungen in der Hauptverhandlung zu erstatten. In der Schweiz könnte man anregen, die Begutachtung auszusetzen, bis das Gericht bestimmte Sachverhalte abgeklärt und damit eine solidere Datenbasis geschaffen hat. Ein solches Tat- oder Schuldinterlokut führt ggf. auch dazu, dass die Ablehnung der Untersuchung widerrufen wird.

Auch wenn keine Befangenheit besteht und die Aktenlage aussagekräftig ist, ergeben sich bei der Erstellung von Aktengutachten besondere Herausforderungen, die nachfolgend dargestellt werden.

Zur Vorgehensweise

Kontakte zum Probanden

Wurde die Begutachtung schon im Vorfeld abgelehnt, ist es problematisch, wenn dennoch durch Aufsuchen des Betroffenen der Versuch einer Kontaktaufnahme erfolgt. Dies kann als Missachtung von grundlegenden Verfahrensrechten des Prob. interpretiert werden und zu Diskussionen über eine Voreingenommenheit oder Befangenheit des Gutachters führen.

Gleichermaßen bindend ist die unangekündigte Ablehnung der Begutachtung im Erstkontakt. Hier kann vonseiten des Gutachters jedoch angeregt werden, dass der Proband mit seinem Verteidiger Rücksprache hält. Die Ablehnung der Untersuchung sollte dem Auftraggeber zeitnah mitgeteilt werden. Auch vonseiten des Auftraggebers, in der Regel die Staatsanwaltschaft, kann mit der Verteidigung Rücksprache gehalten werden. Weitere Untersuchungsversuche sollten erst unternommen werden, wenn Staatsanwaltschaft und Verteidigung zustimmen.

Wenn es zu einer auch nur kurzen Begegnung kam, kann insbesondere bei schwer kranken Prob. schon ein kurzer Kontakt (z. B. über ein ungepflegt-verwahrlostes Erscheinungsbild, formalgedankliche Auffälligkeiten, psychomotorische Unruhe) diagnostisch relevante Hinweise geben oder sich aus den Akten ergebende Verdachtsmomente bestätigen. Dennoch ist die Bezugnahme auf solche Beobachtungen im Gutachten nicht unproblematisch, denn sie übergeht die Ablehnung des Prob. Diese bezieht sich jedoch nur auf die aktive Mitwirkung, weshalb sie aktuell, da noch keine Rechtsprechung dazu existiert, nicht per se mit einem Verwertungsverbot solcher Beobachtungen verknüpft werden sollte. Es ist nämlich auch problematisch, solche Hinweise unerwähnt zu lassen, denn es handelt sich um Beobachtungen, die der Sachverständige im Rahmen seiner mit Übernahme des Auftrags auferlegten Pflichten gemacht hat. Da sie Auswirkungen auf die gutachterlichen Schlüsse haben können und diese sich von den Parteien und dem Gericht nicht überprüfen lassen, wenn sie unerwähnt bleiben, kann deren Erwähnung sogar ein Gebot der Transparenz sein. Ohnehin stellt sich die Frage, wem gedient ist, wenn ein Gutachter begutachtungsrelevante Aspekte verschweigt. Schließlich könnte er in dieser Konstellation vom Gericht als Zeuge vorgeladen werden, um über seine Wahrnehmungen zu berichten. Daher wird von den Autoren empfohlen, relevante Beobachtungen im Gutachten aufzuführen. Außerdem kann eine solche Begegnung dazu genutzt werden, den Prob. zur Rücksprache mit dem Verteidiger aufzufordern und anzubieten, die Untersuchung im Beisein des Rechtsanwalts durchzuführen, um ein krankheitsbedingtes Misstrauen abzubauen.

Eine andere Konstellation liegt vor, wenn die Mitarbeit erst im Verlauf der gutachterlichen Untersuchungen verweigert wird. Auch dies ist selbstverständlich das gute Recht eines Probanden, jedoch kann, da bislang keine anderslautende Rechtsprechung existiert, das bis dahin gewonnene Material nach Auffassung der Autoren dieses Beitrags für die Ausarbeitung des Gutachtens verwertet werden. Schließlich wurde bis zum Zeitpunkt, an dem der Prob. sein Einverständnis zurückzieht, mit einer rechtswirksamen Einwilligung nach Aufklärung über die Modalitäten der Begutachtung gearbeitet.

Aussagekraft der Aktenlage

Bei der forensisch-psychiatrischen Begutachtung geht es in methodischer Hinsicht um die erfahrungswissenschaftliche Untersuchung eines Einzelfalles. Diese beruht darauf, dass der Sachverständige über den jeweiligen empirisch gewonnenen Erkenntnisstand des Fachgebietes verfügt und aufgrund dessen in der Lage ist, begründete Aussagen über den vorliegenden Fall zu treffen, indem er die vorhandenen Daten und Informationen in Bezug zum generellen Wissensstand des Faches setzt. Dazu kann bei Ablehnung der Mitwirkung das psychiatrische Untersuchungsgespräch mit seinem Wechselspiel von gezielten Explorationsfragen und unmittelbar darauf gegebenen Antworten nicht genutzt werden. Es ergibt sich die Frage, ob die vorhandenen Informationen aus der Aktenlage eine Stellungnahme zu den im Gutachtensauftrag formulierten Fragen möglich machen. Dies hängt von der Menge und insbesondere Aussagekraft des Akteninhaltes ab.

Es gilt daher in einem weiteren grundlegenden Schritt zu prüfen, ob die Aktenlage eine ausreichende Informationsgrundlage dafür beinhaltet, gutachterliche Aussagen treffen zu können. Ist dies nicht der Fall, kann angeregt werden, bestimmte Materialien einzuholen oder ergänzende Befragungen vorzunehmen. Dabei können sich Konstellationen ergeben, bei denen die Aktenlage die Beantwortung umschriebener Fragestellungen ermöglicht, während andere Aspekte auf Aktenbasis nicht befriedigend erörtert werden können. In diesem Fall ist anhand der einzelnen Fragestellungen jeweils auch auf die Grenzen der Aussagekraft der Aktenlage und damit auch der gutachterlichen Schlüsse hinzuweisen.

Unter Beachtung dieser Prämisse entspricht auch die psychopathologische Analyse des Falles auf der Basis der aus den Akten zu gewinnenden Informationen einer fachlich fundierten, sachverständigen Vorgehensweise, denn Psychopathologie stellt die Lehre von der Erkennung, Beschreibung und Ordnung abnormer seelischer Phänomene dar. Auch die Auswertung von Aktenmaterial geschieht vor dem Hintergrund der gutachterlichen Kenntnisse des gesamten Seelenlebens in seinen gesunden wie in seinen gestörten Formen. Es ist Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen, das gewonnene Material auf abnorme Phänomene, einschließlich der Übergangsbereiche in das nicht krankhaft veränderte Seelenleben, oder aber auf Anhaltspunkte für eine gänzlich unbeeinträchtigte Verfassung zu prüfen (Saß 1991). Dies geschieht in mehreren Schritten:

Diagnostik

Bei den diagnostischen Erwägungen geht es zunächst nicht um Aspekte, die sich mit möglichen Tatkomplexen und strafrechtlichen Vorwürfen befassen, sondern um Informationen, die Anhaltspunkte oder Verdachtsmomente für das Vorliegen abnormer psychischer Phänomene enthalten. Darüber hinaus sind Informationen von Interesse, die zur Einschätzung von Persönlichkeit, Befinden und Verhalten sowie dem Zusammenleben mit anderen Personen beitragen können. Dies geschieht unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Aspekte der normalen wie auch der gestörten Entwicklung der Persönlichkeit, z. B. im Hinblick auf die Ausbildung von Selbstbewusstsein, Ich-Identität und zwischenmenschlichen Verhaltensstilen, aber auch um das Herausarbeiten von Brüchen in der Entwicklung.

Zentral ist die Abklärung, ob es Hinweise auf eine relevante psychische Störung gibt, etwa im Sinne einer schizophrenen bzw. bipolaren Psychose, einer Neigung zu depressiven Verstimmungen oder zu Angst- und Zwangssymptomen. Wichtig sind auch potenziell konfliktträchtige Persönlichkeitszüge wie emotionale Instabilität und Schwierigkeiten bei der Impulskontrolle sowie problematische Beziehungsstile und sexuelle Devianz. Hinweise auf schwerwiegende Störungsbilder ergeben sich häufig durch einen Leistungsknick im typischen Manifestationsalter oder durch Lücken in der Ausbildungs- und Arbeitsbiografie, die Ausdruck längerer stationärer Behandlungen sein können. Außerdem zu beachten und auch hinsichtlich des Vorliegens bzw. der Schwere einer Persönlichkeitsstörung relevant sind Krisen während der Reifungsschritte oder unter lebenssituativen Belastungen bzw. die erhaltenen oder fehlenden Fähigkeiten, solche zu bewältigen (Habermeyer 2004; Saß 2015; Hauser et al. 2021). Relevant ist auch ein Substanzkonsum bzw. ein Missbrauch von Alkohol und Medikamenten. Angaben zu schulischer und Berufsausbildung ermöglichen in der Regel zumindest grobe Aussagen zur Intelligenz bzw. den Ausschluss einer strafrechtlich relevanten Intelligenzminderung. Eine diesbezüglich unauffällige Vorgeschichte und eine stabile Integration in Arbeitsprozesse spricht außerdem auch gegen erhebliche Defizite in der Persönlichkeit hinsichtlich Leistungsvermögen, Frustrationstoleranz und Durchhaltefähigkeit.

In den Einvernahmen gemachte Angaben zu Tathintergründen und Abläufen ermöglichen wiederum gutachterliche Aussagen zur Verantwortungsübernahme oder -zuschiebung nach außen bzw. zum Grad der authentischen Auseinandersetzung mit den abgelaufenen Geschehnissen, mit den Empfindungen der von den Taten betroffenen Personen und ihrer Angehörigen sowie den Konsequenzen für deren Leben. Hier geht es aus psychopathologischer Perspektive um Hinweise auf egozentrische, wenig empathische Züge in der Persönlichkeit und um Bagatellisierungs- oder Externalisierungstendenzen. Allerdings ist darauf zu verweisen, dass es sich hier, wie im Übrigen auch nach persönlicher Untersuchung, nicht um objektiv messbare Befunde handelt, sondern um eine Einschätzung aus sachverständiger Sicht. Ob sie plausibel ist, wird damit ausdrücklich der Beurteilung des Lesers oder Adressaten des Gutachtens überlassen.

Sollte es sich um einen gänzlich schweigenden Beschuldigten oder Angeklagten handeln, der im gesamten bisherigen Verfahren keine Angaben gemacht hat, so bleiben möglicherweise Darstellungen von Zeugen, die zum Gesundheitszustand, zur Biografie und zu Verhaltensstilen oder Persönlichkeitseigenschaften bereits befragt worden sind oder noch befragt werden können. Dies ist zumindest in großen Verfahren eine übliche Praxis.

Fehlt es an entsprechenden Informationen, ist strikt zu beachten, dass deren Beschaffung nicht Aufgabe des Gutachters ist, denn dieser ist kein Ermittlungsorgan. Im Gutachten können nur Informationen Berücksichtigung finden, die durch entsprechende Aussagen während der Ermittlungen ins Aktenmaterial eingegangen sind. Allerdings kann der Sachverständige, wenn er weiteren Abklärungsbedarf sieht, anregen, dass Zeugen zu bestimmten Fragestellungen (ergänzend) befragt oder potenziell aufschlussreiche Zusatzinformationen eingeholt werden sollen, etwa Zeugnisse und Beurteilungen aus Schule, Ausbildung und Beruf, Berichte von Jugendämtern oder aus Heimen, Daten über Krankenhausaufenthalte oder Verordnungen von Medikamenten. In der Regel geschieht dies durch die Ermittlungsbehörden, wobei auf Fragen des Datenschutzes und Schweigepflichten zu achten ist.

Schuldfähigkeit

Hier geht es um die Analyse der Tatumstände, der konkreten Tatsituation und des Nachtatverhaltens. In Deutschland sollte dies, um Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung berücksichtigen zu können, nur in einer zurückhaltenden Form und unter Hinweis auf potenzielle Änderungen durch die Ergebnisse der Hauptverhandlung erfolgen. Frühzeitige Festlegungen sind wegen der hohen Relevanz der unmittelbar in der Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse für das Gericht weder erforderlich noch für die Begutachtung sinnvoll. Schließlich kommt den Verhandlungsterminen gerade wegen der Möglichkeit für den Sachverständigen, Zeugen zu befragen, die entscheidende Bedeutung für die abschließende Gutachtenerstattung zu. Außerdem ergibt sich während der laufenden Hauptverhandlung gelegentlich die Situation, dass nun in die Begutachtung eingewilligt wird. Wenn der Gutachter sich dann schon zu deutlich in seiner Beurteilung festgelegt hat, kann in diesen Konstellationen die Frage einer Voreingenommenheit gestellt werden und zur Begründung für den Antrag, für die nun vorzunehmende Exploration einen anderen Gutachter heranzuziehen, dienen.

Die Aufforderung, auf den vorläufigen Charakter des schriftlichen Gutachtens zu verweisen, soll jedoch nicht so verstanden werden, dass das Gutachten gänzlich unbestimmt bleiben soll bzw. keine konkreten Aussagen beinhalten kann. Schließlich können in vielen Fällen schon die in den Akten befindlichen Angaben des Expl. und/oder Zeugenschilderungen, z. B. beim Verdacht auf alkoholinduzierte Ausfallserscheinungen zur Vorfallszeit, Hinweise darauf geben, ob das Verhalten geordnet, motorisch koordiniert und gedanklich umsichtig war. So spricht z. B. die Angabe von herbeigerufenen Polizisten, dass der Täter mit hoher Geschwindigkeit vom Tatort weglaufen und dabei geschickt Hindernisse überwinden konnte, gegen eine forensisch relevante Alkoholintoxikation. Zeugenaussagen ermöglichen oftmals auch Überlegungen zu getroffenen Vorbereitungs- bzw. Vorsichtsmaßnahmen. Sind diese ersichtlich, kommt eine impulsiv-unüberlegte oder intoxikationsbedingte Straftat mit relevanter Beeinträchtigung der kognitiven oder voluntativen Funktionen kaum mehr in Betracht. Gleiches gilt für Vorbereitungshandlungen und/oder ein absicherndes, z. B. Tatspuren effektiv verdeckendes Nachtatverhalten.

Sich widersprechende Zeugenaussagen sollten Anlass dafür sein, Hypothesen zum Deliktgeschehen zu bilden und deren Relevanz für die Frage der Schuldfähigkeit zu adressieren. Dies ist für die mit dem Fall betrauten Juristen wesentlich hilfreicher als eine vorschnelle Festlegung auf eine Tatvariante, die in der Hauptverhandlung hinfällig werden kann. Die Hypothesen geben den beteiligten Juristen außerdem die Möglichkeit, weitere Erkundigungen/Ermittlungen bezüglich deren Berechtigung durchzuführen bzw. sich in Deutschland besser auf die Befragung von Zeugen im Rahmen der Hauptverhandlung vorzubereiten.

Kriminalprognose

Auf Aktenbasis können, insbesondere bei Delinquenten mit einer umfangreichen kriminellen Vorgeschichte, aktuarische Untersuchungsinstrumente zur Einschätzung des Rückfallrisikos sinnvoll eingesetzt werden (Dahle und Lehmann 2016). Diese statistischen Verfahren sind nicht selten so konzipiert, dass Aussagen zum Widerholungsrisiko allein auf Aktenbasis möglich sind. Gängige Instrumente wären etwa der Violence Risk Appraisal Guide-Revised (VRAG-R) von Harris et al. (2015; dt. Version Rettenberger et al. 2017) zur Erfassung des Gewaltrisikos, der Static-99‑R (Harris et al. 2003) zur Bestimmung des Rückfallrisikos von Sexualdelinquenten oder das ODARA (Hilton et al. 2004; deutsche Version Rettenberger et al. 2011) betreffs häuslicher Gewalt. Allerdings beruhen diese Instrumente auf statistisch an bestimmten Gruppen gewonnenen Wahrscheinlichkeitsaussagen. Sie erlauben deshalb, wie auch die aus der großen Rückfallstudie von Jehle et al. (2016) hervorgegangenen Basisraten der Rückfälligkeit in bestimmten Deliktbereichen, nur begrenzt Aussagen für einzelne Individuen (Freedman 2001; Habermeyer et al. 2010).

Außerdem ergibt sich die Frage, ob der individuelle Einzelfall durch die Gesamtpopulation, die der Instrumentenentwicklung zugrunde lag, repräsentiert wird. Viele Prognoseinstrumente stützen sich ganz überwiegend auf Untersuchungen an männlichen Straftätern mit aktiver Gewalt- und/oder Sexualdelinquenz, wobei die Studien zumeist aus dem angloamerikanischen Sprach- und Kulturraum stammen. Nun unterscheiden sich z. B. die im Manual des Static-99 (Harris et al. 2003) angegebenen Werte zur Rückfälligkeit deutlich von denjenigen in Österreich (Eher et al. 2021), und transkulturelle Unterschiede haben sich auch bezüglich der PCL‑R gezeigt (Neumann et al. 2012). Daher ist davor zu warnen, die Rückfalldaten der nordamerikanischen Entwicklungsstudien als konkrete Aussagen zum Rückfallrisiko in deutschsprachigen Populationen anzusehen. Entsprechend soll, wenn – wie z. B. für den Static-99 (Eher et al. 2021) und die PCL‑R (Mokros et al. 2017) – deutschsprachige Normierungen zur Verfügung stehen, auf diese zurückgegriffen werden. Ist dies nicht der Fall, muss auf die eingeschränkte Aussagekraft der Rückfallraten verwiesen werden.

Darüber hinaus haben empirische Untersuchungen darüber, ob solche Instrumente auch bei Frauen künftige Delinquenz vorhersagen können, bislang heterogene Ergebnisse erbracht (Neumann et al. 2012; Eisenbarth 2014). Daher wird z. B. von den Autoren der deutschsprachigen Version der PCL‑R von der Anwendung dieses Instruments bei Frauen abgeraten (Mokros et al. 2017). Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass es an statistischen Untersuchungsinstrumenten für spezielle Problemkreise, z. B. Betrugsdelikte oder Brandstiftungen, mangelt.

Auch wenn, unter Beachtung der genannten Bedingungen, die im Übrigen generell für prognostische Aussagen Gültigkeit haben, eine standardisierte Aussage zur Kriminalprognose erfolgen kann, bleibt auch im Rahmen eines Aktengutachtens die klinisch-idiografische Analyse der entscheidende Beurteilungsschritt, damit den Gegebenheiten des Einzelfalles Rechnung getragen werden kann. Wichtige Bereiche dabei sind eine Darstellung der biografischen Vorgeschichte, die Beschreibung der Persönlichkeit mit ihren Besonderheiten, Stärken und Schwächen sowie die Entwicklung der sozialen Orientierungen. Ferner geht es um die Erfassung und Einordnung der delinquenten Vorgeschichte mit ihrer Einbettung in die jeweiligen biografischen Zusammenhänge, um die Entwicklung von Handlungsbereitschaften, Werthaltungen und kriminogenen Bedürfnissen zu ergründen. Dabei kann z. B. die nüchterne, sachlich-emotionsarme und unpersönliche Schilderung der Tatabläufe in Einvernahmen relevant sein. Schließlich wird auch eine Tatanalyse von der Genese der Tatentscheidung bis zum Nachtatverhalten angestrebt. Zusätzlich sind die seitherigen Entwicklungen, etwa bei einer Behandlung im Maßregelvollzug und schließlich das gegenwärtige Persönlichkeitsbild zu berücksichtigen.

In diesem Kontext kann, nicht zuletzt um keine potenziellen beziehungsrelevanten Aspekte zu übersehen, auf Structured-Professional-Judgement-Instrumente, wie die z. B. HCR-20V3 (Douglas et al. 2013) betreffs Gewaltrisiko, das TRAP-18 (Guldimann und Meloy 2020) betreffs terroristischer Handlungen oder bezüglich häuslicher Gewalt das SARA (Kropp et al. 1999; dt. Version Gaunerdorfer et al. 2011) zurückgegriffen werden. Einschränkend ist natürlich zu sagen, dass all dies nur im Rahmen der im Einzelfall zur Verfügung stehenden Informationen möglich ist. Juristische Akten bieten jedoch gerade im Kontext von Prognosegutachten im Rahmen der Unterbringung nach Art. 63 StGB oder bei lebenslanger Haft in der Regel fundierte Einblicke in die kriminelle Vorgeschichte.

Gleiches gilt für Fälle, in denen die Sicherungsverwahrung diskutiert wird. Auch hier ermöglicht die in der Regel umfangreiche Aktenlage Aussagen dazu, ob eine eigenständige kriminelle Energie bzw. eine dauerhafte, tief in ihre Persönlichkeit eingeschliffene Disposition zur Begehung gefährlicher Taten vorliegt. Dies ist zur Beantwortung der Frage nach einer Hangtäterschaft bedeutsam, da der Hang im Sinne des Art. 66 StGB als eine progrediente Entwicklung zu aktiver Delinquenz, die auf dissozialem Verhalten und der Identifikation mit einem kriminellen Lebensstil beruht, verstanden wird. Ein Hangtäter ist demnach eine Person mit einer stabilen und persönlichkeitsgebundenen Bereitschaft, aktiv oder Tatanreizen folgend kriminell zu handeln (Habermeyer und Saß 2004). In anderen Beschreibungen wird der Hang als fest eingewurzelte Neigung und eingeschliffener innerer Zustand bezeichnet. Dabei ist die Aufgabe des psychiatrischen Gutachters darauf beschränkt, die Persönlichkeitsmerkmale einer Person darzustellen, die für eine Beurteilung ihres Hanges und der ihr zu stellenden Gefährlichkeitsprognose durch das Gericht bedeutsam sind.

Hierzu kann die Orientierung an folgenden Kriterien (Habermeyer und Saß 2004) dienen:

  1. 1.

    eine zustimmende, ich-syntone Haltung zur Delinquenz,

  2. 2.

    eine Schuldzuweisung nach außen, etwa zu Opfern, Außenstehenden und Umweltbedingungen,

  3. 3.

    ein fehlender Zusammenhang der Taten mit psychosozialen Auslösefaktoren oder begünstigenden Konflikten,

  4. 4.

    eine aktive Gestaltung der Tatumstände bzw. der Taten,

  5. 5.

    eine Spezialisierung auf bestimmte Delinquenztypen,

  6. 6.

    die Integration in eine kriminelle Subkultur,

  7. 7.

    das Vorliegen psychopathischer Persönlichkeitsmerkmale, etwa Fehlen von Reue, Schuldgefühlen und Scham,

  8. 8.

    Reizhunger oder eine sozial unverbundene, augenblicksbestimmte Lebensführung,

  9. 9.

    die Einbettung der Taten in antisoziale Denkstile, die das kriminelle Verhalten als legitim erscheinen lassen.

Die Aufzählung macht deutlich, dass eine persönliche Untersuchung zur Erfassung dieser Merkmale zwar hilfreich, aber nicht zwingend erforderlich ist. Schließlich können Angaben zu den Punkten 1, 2, 3, 7, 8, 9 aus Vernehmungsprotokollen und zu den Punkten 4, 5 und 6 aus den Ermittlungsakten, dem Strafregister etc. abgeleitet werden.

Während, wie vorab dargestellt, viele der kriminalprognostisch relevanten Aspekte bei einer umfangreichen Vorgeschichte oder Tatserien, gut aus den Akten ableitbar sind, lässt sich ohne Untersuchung ein grundlegender Wandel in Haltungen und Überzeugungen des Probanden kaum belegen. Es fällt also in der Regel unter Verwendung des HCR-20 (Douglas et al. 2013) wesentlich leichter, die H‑Items zu beurteilen, als die Items, die Zukunftspläne und die Mitwirkungsbereitschaft betreffen (R-Items). Somit nimmt die Begutachtung nach Aktenlage dem Probanden die Möglichkeit, seine Sicht der verfahrensrelevanten Geschehnisse sowie seine Vorstellungen zur Zukunftsgestaltung und zum sozialen Empfangsraum darzustellen. Dies gefährdet die integrative kriminalprognostische Begutachtung (Dahle 2005), da die mittels standardisierter Instrumente getroffene nomothetische Risikoeinschätzung kaum mehr durch ideografische Überlegungen unter Berücksichtigung der seitherigen Entwicklung und des gegenwärtigen Persönlichkeitsbildes ergänzt bzw. gar korrigiert werden kann. Wenn nicht persönlich untersucht und hinsichtlich der aktuellen Einstellungen, emotionalen Bewertung und künftiger Absichten befragt werden kann, fallen auch Aussagen zu den Möglichkeiten und Aussichten einer Behandlung schwer. Dieser Gesichtspunkt macht deutlich, dass die mittlerweile häufig praktizierte Verteidigungsstrategie, eine Exploration abzulehnen, wenn es um die Frage von Sicherungsverwahrung oder komplexe prognostische Fragestellungen geht, auch mit Nachteilen verbunden sein kann. Auf diesen Punkt wird am Ende des Beitrags nochmals eingegangen.

Umgang mit den Erkenntnisgrenzen

Vorab wurden relevante Schritte bei der Begutachtung nach Aktenlage skizziert. Dabei wurde im Kontext der Schuldfähigkeitsfrage betont, dass die Aussagen zunächst nur einen hypothetischen Charakter besitzen und der Verifizierung oder Falsifizierung durch die Ergebnisse der Hauptverhandlung bedürfen. Auch bei den anderen Arbeitsschritten, d. h. bei Diagnose und Prognose, kann es dazu kommen, dass widersprüchliche bzw. mangelhafte Informationen keine genaue Einordnung ermöglichen oder verschiedene Optionen eröffnen. Dies ist im Gutachten darzustellen und ggf. auch mit der Bitte an die Verfahrensleitung zu verbinden, die fehlenden Informationen einzuholen.

Es geht also immer auch um Erörterung der Aussagekraft der Akteninhalte bezüglich der jeweiligen Fragestellung. Diese kann differieren, da z. B. Arztberichte diagnostische Aussagen ermöglichen, weniger jedoch zur Einschätzung der Kriminalprognose beitragen können. Ein Ergebnis der Begutachtung kann daher, insbesondere in der Schweiz, wo die Hauptverhandlung nicht in gleicher Weise wie in Deutschland zur Informationsgewinnung genutzt werden kann, darin bestehen, dass ein Teil der Fragen beantwortet und ein anderer offengelassen wird. Die begutachtende Person sollte sich keinesfalls verpflichtet sehen, auf jede der gestellten Fragen, eine Antwort geben zu können. Vielmehr besteht eine sorgfältige Arbeitsweise gerade darin, dem Gericht die verschiedenen Möglichkeiten zur Interpretation des vorhandenen Materials differenziert zu erläutern und Zweifel klar zu benennen.

Beobachtungen während der Hauptverhandlung

In Deutschland ergibt sich durch die aufgrund des Unmittelbarkeitsprinzips meist längeren Verhandlungsdauern die Möglichkeit, die Informationen aus der Aktenlage durch Beobachtungen und Informationen aus den Hauptverhandlungsterminen zu ergänzen, was für die Beurteilung von großer Bedeutung sein kann. Dazu gehören auch die äußeren Aspekte des individuellen Verhaltens und der beobachtbaren Interaktion mit anderen Personen. Von besonderem Interesse ist dabei die Psychomotorik, wobei dieser Begriff das Gesamt der durch psychische Vorgänge geprägten Bewegungen umfasst (Peters 2007). Es wird davon ausgegangen, dass die Psychomotorik das Resultat einer Integration von psychischen und motorischen Funktionen darstellt, weshalb sich psychische Sachverhalte auch im Bewegungsspiel widerspiegeln. Im Alltagsverständnis wird dies mit dem Begriff der Körpersprache umschrieben. Es lassen sich für den geschulten Psychiater aus der Beobachtung von Motorik, Körperhaltung, Mimik und Gestik, also insgesamt dem sog. Ausdrucksverhalten, Rückschlüsse auf die psychische Verfassung, auf die Gestimmtheit und auf die emotional-affektive Reagibilität ziehen. Dies gilt besonders bei länger hingezogenen Verfahren, die eine Beobachtung in unterschiedlichen Situationen und Stadien erlauben. Derartiges fließt in die Beurteilung der Persönlichkeit ein und ergänzt die Akteninformationen etwa aus der Biografie mit familiärem, schulischem und beruflichem Werdegang sowie aus Zeugenschilderungen von Bezugspersonen und Beobachtern, die den Betroffenen in früherer Zeit erlebt haben.

Die Beobachtungen von Anzeichen einer persönlichen Betroffenheit, eines gefühlsmäßigen Mitschwingens und einer spürbaren Anteilnahme an den Aussagen der Zeugen in entsprechenden Prozesssituationen, die durchaus einen emotional stark berührenden Charakter tragen können, erlauben in der Regel Aussagen zur Selbstkontrolle bzw. zu Gefühlsregungen und zum Repertoire von situativ angepassten, kontrollierten und variierenden Verhaltensweisen. Dabei sprechen Lockerheit und Erheiterung gegen eine durchgängige Bedrücktheit durch die Gesamtsituation. Konflikthafte Interaktionen im Gerichtssaal können Anhaltspunkte für die Entschlossenheit und Durchsetzungsbereitschaft geben. Sie erlauben Rückschlüsse auf die Fähigkeit und Bereitschaft zum Vertreten und Durchsetzen der eigenen Position, zur kämpferischen Selbstbehauptung, zu einer nahezu feindselig durchgehaltenen Beharrlichkeit und zum erfolgreichen Durchstehen zwischenmenschlicher Konfliktlagen.

Die Aussagen zu dem Ausdrucksverhalten im eben beschriebenen Sinne und den von außen wahrzunehmenden Interaktionen geben die Eindrücke des Untersuchers und damit verbundene Rückschlüsse auf die psychische Verfassung der Probanden wieder. Von daher ist der subjektive Charakter der Einschätzungen durch den Gutachter zu betonen. Nun kann der Begriff der subjektiven Einschätzung von Verhaltensbeobachtungen zur Kritik einer willkürlichen Beurteilung führen, doch wäre dies ein Kurzschluss: Schließlich kann die Subjektivität bei der Beschreibung und Interpretation seelischer Phänomene auch bei persönlicher Untersuchung nicht eliminiert werden. Zur Erfassung der gesunden wie der abnormen oder gestörten Psyche stehen nur in ganz geringem Umfang messbare Daten im naturwissenschaftlichen Sinne zur Verfügung. Seelisches Leben spielt sich in der Subjektivität ab, und dies gilt auch für dessen Beurteilung. Insofern werden bei der Beschreibung und Bewertung seelischer Phänomene in weiten Bereichen keine unumstößlichen Fakten behauptet, sondern es wird ein Verstehenshintergrund vorgestellt und der Adressat des Gutachtens entscheidet, ob das Vorgetragene einleuchtend und überzeugend ist. Die Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit des psychischen Befunds und seiner Interpretation entscheiden am Ende, ob das Beschriebene mitsamt seiner Bewertung plausibel erscheint.

Auch in diesem Zusammenhang ist wichtig, dass nicht fälschlich der Eindruck objektiv feststehender Tatsachen erweckt wird. Bei der Darstellung von Verhalten und psychischem Befund anhand der Beobachtung aus der Hauptverhandlung empfehlen sich daher vorsichtige Formulierungen wie „wirkt so“, „erweckt den Eindruck von“, denn damit soll ausgedrückt werden, dass es sich um subjektive Bewertungen handelt. Dies ehrlich einzugestehen, ist ein Gebot der Transparenz, auch wenn das gelegentlich zum Anlass für Kritik am Gutachten genommen wird. Subjektivität als methodischen Fehler hinzustellen, geht an der Realität der Befunderhebung und Befundbeschreibung im psychischen und psychopathologischen Bereich vorbei. Man mag bedauern, dass in der forensischen Psychiatrie experimentelle, naturwissenschaftlich objektivierende Verfahren kaum zur Verfügung stehen, anders als etwa in der Neuroimmunologie und Neuropathologie, wo es um Bildgebung, Laborparameter und chemische Reaktionen geht, doch entspricht dies der Natur des Gegenstandes. Dies gilt sowohl für Aktengutachten als auch für diejenigen Stellungnahmen, die sich auf eine Exploration stützen können. Prüfstein für die vorgetragene Bewertung und Aussagekraft der Begutachtung bleibt, ob sie im Kontext aller Informationen für das Gericht Plausibilität aufweist.

Exkurs: Mögliche Nachteile einer Aktenbegutachtung für den Betroffenen

Generelle Aussagen zur Sinnhaftigkeit einer fehlenden Mitwirkung des Probanden an der Untersuchung sind nicht Aufgabe des forensisch-psychiatrischen Fachgebiets. Allerdings kann von psychiatrischer Seite für die hier ins Spiel kommenden juristischen Abwägungsprozesse dargelegt werden, dass die gutachterliche Exploration nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Chance sein kann. Sie eröffnet der untersuchten Person die Möglichkeit, ihre Verfassung im Vorfeld und bei Begehung des Delikts aus erster Hand darzustellen. Bei korrekter Durchführung der Begutachtung wird dem Prob. auch die Möglichkeit gegeben, zu den beim Untersucher entstandenen Eindrücken und Schlussfolgerungen Stellung zu nehmen. Wenn die Untersuchung abgelehnt wird, vergibt sich der Betroffene auch die Chance auf eine solche Mitwirkung/Mitgestaltung der Untersuchungsergebnisse.

Besonders problematisch kann sich dies auswirken, wenn eine Vielzahl von statistischen Risikomerkmalen die Zugehörigkeit zu einer prognostischen Risikoklientel nahelegt. Eine fehlende Mitwirkung bei der Untersuchung verhindert, dass der Betroffene seine postdeliktische Entwicklung, eine evtl. auch veränderte Einstellung zur früheren Lebensführung und insbesondere seine Pläne darlegen kann. Damit wird die Möglichkeit, im Gutachten aussagekräftige Risikoszenarien mit zugehörigen Optionen des Risikomanagements zu skizzieren (Mokros et al. 2021), reduziert. Nach wie vor erscheint also der folgende Hinweis von Kröber (2013) zur Begutachtung nach Aktenlage berechtigt: „Die Aussagekraft jedes Gutachtens ist begrenzt, hier in der besonderen Weise, dass die Gegenprüfung der aus den Akten gewonnenen Schlussfolgerungen im Gespräch nicht möglich war und die aktuelle Sichtweise des Probanden nicht erfasst werden konnte“ (S. 303). Die Rechtsvertretung der Betroffenen sollte dies bei den Überlegungen über die geeignete Verfahrensstrategie berücksichtigen.

Fazit

Die Beurteilung eines Falles nach Aktenlage entspricht sicherlich nicht dem Goldstandard einer auf persönliche Exploration und Untersuchung gestützten Begutachtung, wird aber wegen der zunehmend gewählten Strategie, die Mitwirkung an einer Untersuchung im Vorfeld der Hauptverhandlung abzulehnen, immer häufiger erforderlich. Erfahrungsgemäß lassen sich in vielen Fällen bereits aus den Materialien in den Akten Anhaltspunkte gewinnen, die eine Stellungnahme zu den Gutachtensfragen ermöglichen.

Hinzu kommen im deutschen Strafprozess die vielfältigen Informationen aus der Teilnahme des Gutachters an der Hauptverhandlung, die sich für die forensisch-psychiatrische Analyse verwenden lassen, etwa die Angaben des Angeklagten, sofern er sich äußert, auf jeden Fall aber die psychopathologisch oft aufschlussreiche Verhaltensbeobachtung, ferner die Zeugenschilderungen, Sachverständigenbeweise aus anderen Disziplinen und die Ermittlungsergebnisse zu Tatvorfeld sowie Tat- und Nachtatverhalten. Aus alledem ergibt sich in der Regel eine Informationsdichte, die es dem forensisch erfahrenen Gutachter – unter Nennung von Möglichkeiten und Grenzen seiner Expertise – erlaubt, die gestellten Gutachtensfragen zu beantworten. Offenbleibende Fragen sind als solche zu benennen und ggf. mittels Arbeitshypothesen zu beantworten. Das Gericht kann daraus ersehen, unter welchen Voraussetzungen welche fachlichen Schlüsse etwa zur Schuldfähigkeit oder zur Prognose gezogen werden können. Ihm obliegt die normative Entscheidung, welche der vorgetragenen Hypothesen vor dem Hintergrund der gesamten Ermittlungsergebnisse schlüssiger ist.