Einleitung

Bisher existierende Befunde zur Kontakthäufigkeit der Polizei mit psychisch kranken Menschen legen nahe, dass die Kontakte häufig sind und etwa ein Drittel bis ein Viertel der polizeilichen Alltagskontakte ausmachen (Häfner und Weyerer 1998; HermanutzFootnote 11999; Litzcke 2003; Wittchen und Jacobi 2002). Die Herangehensweisen, diese zu erfassen, reichen von Schätzungen (Litzcke 2003), Befragungen in psychiatrischen Krankenhäusern (Fähndrich und Neumann 1999) bis zu Auswertungen von Einsatzstatistiken (Diederichs 1997; Dreher und Feltes 1996; Finzen 2014; Greiner 1996; Hermanutz 1998; Kissling und Wundsam 2006). Nur wenige Ergebnisse berufen sich auf tatsächliche Befragungen von Polizeibediensteten und beliefen sich meist auf kleinere StichprobenFootnote 2 (Wittmann et al. 39,37,a, b).

Die Einsätze der Polizeibediensteten, in denen sie auf psychisch kranke Menschen treffen, werden von diesen als besonders herausfordernd wahrgenommen (Litzcke 2004). Als Hauptbelastungsfaktoren gaben die durch Litzcke (2003) 105 befragten Polizeibediensteten v. a. zwei Ursachen an: die nicht immer einschätzbaren Reaktionen auf polizeiliche Interventionen und die subjektiv als gering wahrgenommenen Möglichkeiten, das Verhalten adäquat zu beeinflussen. In einer Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen wurde herausgefunden, dass sich das persönliche Stressempfinden von etwa 60 % der Polizeibediensteten aufgrund der Tatsache steigert, dass Handlungsroutinen im Umgang mit psychisch kranken Personen in gewohnter Art nicht funktionieren (Ellrich und Baier 2014).

Doch sind die Kontakte zu psychisch kranken Menschen per se gefährlicher für die Polizei? Empirisch lässt sich nicht abbilden, dass psychisch kranke Menschen gefährlicher sind als psychisch gesunde Menschen (Fitzgibbon 2010; Fuchs et al. 2016; Kröber 2009; Teplin 1985), dennoch existiert die dahingehende Bewertung von psychisch erkrankten Menschen in der Wahrnehmung von Polizeibediensteten (Godschalx 1984; Litzcke 2003, 2006; Psarra et al. 2008; Watson et al. 2004; Wittmann und Groen 2020; Wundsam et al. 2007). In bisheriger Forschung werden v. a. Komorbiditäten verschiedener psychischer Erkrankungsformen, v. a. von Substanzmissbrauch bzw. Substanzabhängigkeit, Schizophrenie bzw. anderen psychotischen Störungsformen und/oder Persönlichkeitsstörungen als gewaltassoziiert und damit auch gefährlicher für Polizeibedienstete diskutiert (Böker und Häfner 1973; Eronen et al. 1996; Swanson et al. 1990; Wallace et al. 1998; Walsh et al. 2002). Dies kann in Kombination mit weiteren Stressfaktoren zu einer eskalativen Entwicklung innerhalb eines polizeilichen Einsatzes führen und somit zu Verletzungen auf beiden Seiten.

Ausreichende Handlungssicherheit bei Polizeibediensteten bei diesen besonderen Einsatzformen kann eskalative Ausgänge unter gewissen Umständen verhindern. Hierfür ist innerhalb der Polizei zunächst eine Sensibilisierung für das Thema an sich notwendig, um in einem nächsten Schritt vielfältigere Handlungsroutinen im Umgang mit psychisch kranken Menschen zu vermitteln (Schmalzl 2011). Die Ausbildung von Polizeibediensteten ist bundesländerspezifisch. In der Grundausbildung, in der die angehenden Polizeibediensteten eine Vielzahl von Szenarien trainieren, wird in der Regel auch der Umgang mit psychisch kranken Menschen geschult. In Baden-Württemberg bietet das Studium zum gehobenen Dienst an der Hochschule für Polizei vertiefende Einblicke in die Fächer Psychologie; vereinzelt existieren darüber hinaus Wahlmodule, die den Umgang mit psychisch kranken Menschen thematisieren. Die Stadtstaaten Hamburg und Berlin etablierten infolge von kritischen Einsatzlagen Fortbildungskonzepte bzw. vertiefende Trainings, z. B. im trialogischen Format in Hamburg (Bock et al. 2015) oder in Zusammenarbeit mit lokalen Netzwerkpartnern in Berlin (Biedermann 2017).

Das Hauptziel dieser Studie war eine praxisnahe Erhebung der Einsatzerfahrungen von Polizeibediensteten der Kriminal- und Schutzpolizei, um diesen Phänomenbereich besser beschreiben und diesbezügliche Bedarfe erheben zu können. Somit können u. a. künftige Diskussion fokussierter geführt und Fortbildungen passender konzipiert werden.

Methode

Es lag zum Zeitpunkt der Befragung eine Grundgesamtheit potenziell Befragter von 21.728 Polizeivollzugsbediensteten innerhalb Baden-Württembergs vor. Es wurden 4455 Fragebogen im Laufe der Befragung (der Befragungszeitraum erstreckte sich von November 2019 bis Juni 2020) entsprechend der Präsidiumsgröße und der Zusammensetzung der Präsidien (u. a. entsprechend den Anteilen an weiblichen bzw. männlichen Polizeibediensteten, den Laufbahnstufen, der Schutz‑/Kriminalpolizei) verteilt. Aufgrund einer etwa 50-prozentigen Beteiligung konnten 2228 Fragebogenrückläufe verzeichnet werden.

Nachdem es bisher keine standardisierten Erfragungsmöglichkeiten gibt, wurde zu diesem Zweck ein Fragebogen entwickelt, mit dem Polizeibedienstete der Schutz- und Kriminalpolizei und aller Laufbahnstufen (mittlerer, gehobener und höherer Dienst) befragt werden konnten. Die Schutz- oder Streifenpolizei macht den überwiegenden Anteil am Personalkörper der Polizei Baden-Württemberg aus und ist in den meisten Fällen als erste Instanz vor Ort, um für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Der polizeiliche Auftrag der Schutzpolizei (bezogen auf den polizeilichen Umgang mit psychisch kranken Menschen) lässt sich am ehesten mithilfe von gefahrenabwehrrechtlichen Fragestellungen sowie Regelungen zur Unterbringung psychisch kranker Menschen beschreiben. Die Aufgabe der Kriminalpolizei ist es im Schwerpunkt, Straftaten mittlerer oder schwerer Intensität zu verfolgen oder zu verhüten. Der polizeiliche Auftrag der Kriminalpolizei (bezogen auf den polizeilichen Umgang mit psychisch kranken Menschen) lässt sich am ehesten durch weiterführende Ermittlungen, Befragungen und Vernehmungen beschreiben. Anhand strukturierter Experteninterviews an einer unabhängigen Stichprobe von 5 Polizeibediensteten der Verhandlungsgruppe des BKA, die hinsichtlich psychischer Erkrankungen besonders geschult sind, konnten die konstruierten Fragen nach polizeilichen Gesichtspunkten korrekt und für die später adressierten Beamtinnen und Beamte nachvollziehbar formuliert werden. Es wurde ein positives Ethikvotum der Universität Ulm eingeholtFootnote 3. Eine Test-Kohorte (n = 164) füllte die Fragebogen zunächst im Rahmen einer berufsbegleitenden Schulung unter Anwesenheit der Autorin aus, mit der Möglichkeit, Fragen hinsichtlich der Verständlichkeit zu stellen. Es bestanden keine Verständlichkeitsprobleme, sodass die Fragebogen im Anschluss in der Landespolizei verteilt wurden. Alle Probandinnen und Probanden wurden im Vorfeld der Teilnahme über Freiwilligkeit, Studienziele, Ablauf, Aufwand, Verwendung ihrer Daten und den Datenschutz aufgeklärt und erteilten ihre informierte Zustimmung. Der Aufbau der Items ist dem Zusatzmaterial online zu entnehmen.

Ergebnisse

Stichprobe

Die absoluten und relativen Anteile der befragten Stichprobe und die Zusammensetzung der Grundgesamtheit zeigt Tab. 1.

Tab. 1 Zusammensetzung der Grundgesamtheit der Polizei BW (Stand 2020) und der an der Befragung beteiligten Stichprobe. Die Spalten 1 und 2 beziehen sich auf die Zusammensetzung getrennt, nach Schutz- und Kriminalpolizei; die Spalten 3 und 4 beziehen sich auf die Zusammensetzung ohne diese Unterscheidung

Um die Anonymität der Befragten besser zu wahren, wurde mit vorgegebenen Alterskategorien gearbeitet. Die Altersstruktur der Grundgesamtheit und der befragten Stichprobe verteilte sich, wie in Tab. 2 dargestellt.

Tab. 2 Altersstruktur der Polizei Baden-Württemberg sowie der befragten Polizeibedienstete

Die Teilnehmenden der Befragung waren im Durchschnitt jünger als die Gesamtpolizei Baden-Württembergs. Die Angaben für die gesamte Polizei Baden-Württemberg umfassen jedoch auch die Dienststellen mit einer höheren Altersstruktur, die von der Befragung ausgeschlossen wurden, wie z. B. das Landeskriminalamt und die Hochschule für Polizei.

Im Mittel lag die Berufserfahrung der befragten Polizeibediensteten bei 18,2 Jahren (Standardabweichung, SD = 11,8; Min = 0,5; Max = 48 Jahre). Die befragten Bediensteten der Kriminalpolizei waren mit durchschnittlich 23,2 Jahren (SD = ±11,1) etwas länger im Dienst als die befragten Bediensteten der Schutzpolizei, bei denen die durchschnittliche Dienstzeit bei 17,1 Jahren lag (SD = ±11,7). Beide polizeiliche Fachgruppen wiesen ein heterogenes Erfahrungsspektrum auf, zwischen einem Jahr und 44 Jahren bei der Kriminalpolizei und 0,5 bis 48 Jahren bei der Schutzpolizei.

Statistische Auswertung

Die Auswertung der Daten erfolgte mit der Statistiksoftware SPSS. Die Normalverteilung der Daten wurde mithilfe des Shapiro-Wilk-Tests überprüft. Aufgrund der signifikanten Ergebnisse (p < 0,000) kann davon ausgegangen werden, dass die Daten nicht normalverteilt sind, weshalb ein Mann-Whitney-U-Test zum Überprüfen von Mittelwertsunterschieden berechnet wurde. Der Kolmogorov-Smirnov-Test half, Verteilungsunterschiede zwischen den Gruppen festzustellen. Die Untersuchung auf signifikante Gruppenunterschiede wurde mittels χ2-Tests vorgenommen. Wenn dabei die erwarteten Zellhäufigkeiten kleiner als 5 waren, wurde zusätzlich zum Chi-Quadrat-Test nach Pearson mit dem exakten Test nach Fisher gearbeitet.

Häufigkeit von Kontakten zu Personen mit psychischen Erkrankungen im Polizeialltag

Nach Angaben der Polizeibediensteten ist ca. jede fünfte ihrer Kontaktpersonen im beruflichen Alltag (M1 = 18,2 %; SD = ±14,5) psychisch erkrankt. Die Befragten sollten hierbei nur solche Personen einbeziehen, bei denen entweder durch diese selbst oder durch Dritte Nachweise erfolgt sind, welche eine psychische Erkrankung bestätigten (Fragevariante 1). In einer weiteren Fragestellung (Fragevariante 2) wurden die Polizeibediensteten gebeten, eine erneute Schätzung der Verteilung vorzunehmen. Durch die Hinzuziehung einer weiteren Kategorie, „psychisch auffällig“, worunter die Befragten Personen einbeziehen sollten, bei denen keine tatsächlichen Nachweise über psychische Erkrankungen vorlagen, das gezeigte Verhalten auf die Polizeibedienstete jedoch psychisch auffällig (z. B. merkwürdig, bizarr, verwirrt etc.) wirkte, wurde die Frage erweitert. Der Anteil der Personen, die von den Polizeibediensteten als psychisch auffällig wahrgenommen wurden, lag bei dieser Fragevariante bei 19,8 % (SD = ±12,8). Die Ergebnisse der Bediensteten der Kriminalpolizei lagen in beiden Fragevarianten über denen der Schutzpolizei. In Tab. 3 sind die Mittelwerte und Standardabweichungen, bezogen auf die beiden vorgestellten Fragevarianten und getrennt nach der gesamten Stichprobe sowie den beiden Untergruppen der Schutz- und Kriminalpolizei, einzusehen. Ein Mann-Whitney-U-Test wurde berechnet, um zu überprüfen, ob sich die geschätzten Anteile je nach Fachgruppe signifikant unterscheiden. Es gab in beiden Fragevarianten keinen signifikanten Unterschied zwischen den Angaben der Schutz- und der Kriminalpolizei (psychisch kranke Personen in Fragevariante 1: U = 347.680,50, Z = −0,135, p > 0,05, psychisch kranke Personen in Fragevariante 2: U = 335.262,50, Z = −0,407, p > 0,05 und psychisch auffällige Personen in Fragevariante 2: U = 331.198,50, Z = −0,824, p > 0,05).

Tab. 3 Anteil der psychisch kranken und psychisch gesunden Kontaktpersonen (Fragevariante 1) und Anteil der psychisch kranken, psychisch auffälligen, psychisch gesunden Kontaktpersonen (Fragevariante 2)

Polizeirelevante psychiatrische Krankheitsbilder

In Form eines Rankings wurden die 3 häufigsten Krankheitsbilder in berufsalltäglichen Begegnungen von Polizeibediensteten erfasst. Während bei diesem Item die Suchterkrankung die am häufigsten angegebene Erkrankungsform war (43,0 %), wurden die Depression von den meisten Befragten als zweithäufigste (20,8 %) und die Schizophrenie als dritthäufigste Krankheit (16,3 %) im Begegnungskontakt angegeben.

Nach Angaben von 1983 Polizeibediensteten (89,0 %) gab es deliktspezifische Zusammenhänge zwischen bestimmten Erkrankungsformen und polizeilichen Delikten. Die Ergebnisse wurden deshalb in prozentualen Angaben – getrennt nach den Ergebnissen der Gesamtstichprobe (MG) und der Teilstichprobe (MT), d. h. derer, die das Item bearbeitet haben – angegeben. Der deutlichste Zusammenhang bestand demnach zwischen der Suchterkrankung und den Eigentumsdelikten (MG = 42,1 %; MT = 47,3 %). Körperverletzungs- bzw. Gewaltdelikte scheinen sowohl im Zusammenhang mit der Schizophrenie (MG = 34,3 %; MT = 38,5 %) als auch mit der Suchterkrankung (MG = 31,7 %; MT = 35,7 %) zu stehen. Die Depression wurde von den befragten Polizeibediensteten v. a. in Verbindung mit dem Suizid bzw. Suizidversuchen gebracht (MG = 22,4 %; MT = 25,2 %).

Herausforderungen für Polizeibedienstete im Kontakt zu psychisch erkrankten Menschen

Die Polizeibediensteten hatten zunächst die Möglichkeit, aus einer Liste von 10 Herausforderungen die 3 für sie zentralsten Antworten im Kontakt mit psychisch kranken Menschen zu markieren. An dieser Stelle benannten 115 Befragte (5,2 %) mehr als 3 Herausforderungen und wurden deshalb an dieser Stelle aus den weiteren Berechnungen ausgeschlossen (n = 2113). Mithilfe dieser Fragemethode schätzten die meisten Befragten die Gefährlichkeit (76,6 %) und die Vorhersagbarkeit des Verhaltens psychisch kranker Personen (65,9 %) als größte polizeiliche Herausforderung im Zusammenhang mit psychisch kranken Personen ein. Während für die Kriminalpolizei das Erkennen der Erkrankung die drittgrößte Herausforderung darstellte (45,6 %), war für die Schutzpolizei der direkte Umgang mit psychisch kranken Menschen drittplatziert (42,4 %). Mithilfe von Chi-Quadrat-Tests wurde getestet, inwieweit sich die Häufigkeitsnennungen der Herausforderungen bei Schutz- und Kriminalpolizei unterscheiden. Keine erwarteten Zellhäufigkeiten waren kleiner als 5. Es gab statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Fachgruppen und den Herausforderungen im Erkennen der Erkrankung, χ2(1) = 13,04, p < 0,001, φ = 0,077. bei der Gefährlichkeit der Personen, χ2(1) = 20,00, p < 0,001, φ = −0,095, der Vorhersagbarkeit des Verhaltens, χ2(1) = 7,52, p < 0,01, φ = −0,058, der Glaubhaftigkeit der Aussagen, χ2(1) = 64,06, p < 0,001, φ = 0,171, und der Zusammenarbeit mit Psychiatrien/Beratungsstellen, χ2(1) = 28,35, p < 0,001, φ = −0,113. Während die Bediensteten der Kriminalpolizei deutlich mehr berufliche Herausforderungen im Erkennen der Erkrankung (45,6 % gegenüber 37,4 %) und in der Glaubhaftigkeit der Aussagen (37,6 % gegenüber 18,8 %) sahen, waren die beruflichen Herausforderungen der Schutzpolizei in der Eigeneinschätzung gegenüber der Kriminalpolizei v. a. die durch sie eingeschätzte Gefährlichkeit der Personen (78,5 % gegenüber 68,1 %), die Vorhersagbarkeit des Verhaltens (67,4 % gegenüber 59,3 %) und die Zusammenarbeit mit Psychiatrien/Beratungsstellen (24,4 % gegenüber 12,7 %). Außerdem konnten signifikante Zusammenhänge zwischen dem Alter der Befragten und den wahrgenommenen Herausforderungen gefunden werden. Ältere Polizeibedienstete gaben als berufliche Herausforderung häufiger als jüngere Polizeibedienstete das Erkennen der Krankheit, χ2(4) = 65,55, p < 0,001, φ = 0,177, wie auch das Begrenzen eigener Belastungen an, χ2(4) = 25,22, p < 0,001, φ = 0,110. Jüngere Polizeibedienstete sahen im Vergleich zu ihren älteren Kolleginnen und Kollegen dagegen häufiger Herausforderungen in der Nachvollziehbarkeit der Gedanken von psychisch kranken Menschen, χ2(4) = 13,42, p < 0,05, φ = 0,080, in der Vorhersagbarkeit des Verhaltens von psychisch kranken Menschen, χ2(4) = 45,34, p < 0,001, φ = 0,147, sowie in der Glaubhaftigkeit der Aussagen, χ2(4) = 11,39, p < 0,05, φ = 0,074.

Außerdem wurden die Befragten anhand einer offen formulierten Fragestellung gebeten, eigenständig berufliche Herausforderungen zu formulieren, die sie im Zusammenhang mit ihrer polizeilichen Tätigkeit und dem beruflichen Kontakt zu psychisch kranken Menschen sehen. Die verwertbaren Antworten von n = 1982 der befragten Polizeibediensteten (86,5 %) wurden inhaltlich geordnet und von 6 unabhängigen Ratern verschiedenen Antwortkategorien zugeordnet. Die größten Schwierigkeiten sehen die Befragten demnach in der Kategorie 1, die unter dem direkten polizeilichen Kontakt zu psychisch erkrankten Menschen zusammengefasst wurde. In dieser Kategorie wurden insbesondere Schwierigkeiten in Bezug auf deeskalative Reaktionsformen wie beruhigen, empathisch sein, Kommunikation, ruhig bleiben und Vertrauen aufbauen, zusammengefasst. Die gesamten Ergebnisse bezogen auf dieses Item sind in Tab. 4 einzusehen.

Tab. 4 Herausforderungen nach freien Nennungen, zusammengefasst in 10 Kategorien, darin beispielhaft einbezogene Antworten und Häufigkeit der Nennung in Prozent (%), Mehrfachnennungen möglich

Veränderungswünsche

Die Befragten sollten zum Schluss der Befragung einen Verbesserungsvorschlag auswählen, um die polizeiliche Handhabung des untersuchten Einsatzbereichs zu verbessern. Die Verteilung der Antwortkategorien zeigt Abb. 1. Der meistgenannte Verbesserungsvorschlag war (2) Ausbau der Fortbildungsangebote mit 50,4 %, gefolgt von (4) Vernetzung zu professionellen Helferinnen und Helfern (39,1 %) und (3) Supervision für Polizistinnen und Polizisten (13,9 %). Sonstige Verbesserungsvorschläge (5) machten 10,0 % der Antworten aus. Die Überarbeitung der Grundausbildung (1) nannten 9,8 % der Befragten. Kein Verbesserungsbedarf (6) wurde von 7,5 % der Befragten angegeben. Außerdem konnten signifikante Zusammenhänge zwischen dem Alter der Befragten und den angegebenen Veränderungswünschen gefunden werden. Ältere Polizeibedienstete gaben als Veränderungswunsch häufiger als jüngere Polizeibedienstete die Überarbeitung der Grundausbildung, χ2(4) = 23,74, p < 0,001, φ = 0,105, wie auch den Wunsch nach Supervision an, χ2(4) = 39,49, p < 0,001, φ = 0,135.

Abb. 1
figure 1

Veränderungswünsche der Polizeibediensteten in Prozent (Mehrfachnennung möglich)

Diskussion

Die hier diskutierten Ergebnisse zur Kontakthäufigkeit von Polizeibediensteten zu psychisch erkrankten Menschen decken sich weitestgehend mit den bisher angenommenen Schätzungen (Häfner und Weyerer 1998; HermanutzFootnote 41999; Litzcke 2003; Wittchen und Jacobi 2002), liegen jedoch mit ca. 18,2 % etwas darunter. Es stellt sich zunächst die Frage, inwieweit Polizeibedienstete psychische Erkrankungen überhaupt richtig einschätzen können. Nach einer Studie von Litzcke (2004) erkennen Polizeibedienstete psychisch kranke Personen besser als andere Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Das macht das nachfolgende Ergebnis besonders interessant: Laut Wahrnehmung der befragten Polizeibediensteten sind die polizeirelevantesten Erkrankungen die Suchterkrankung, die Depression und die Schizophrenie. Dies deckt sich mit bisherigen, im Schwerpunkt v. a. theoretischen Überlegungen (Biedermann 2017; Litzcke 2004; Schmalzl 2004).

Laut Schmalzl (2004) spielt die Deinstitutionalisierung innerhalb der Psychiatrie, die seit den 1960er-/1970er-Jahren Einzug hielt, eine große Rolle bei der Zunahme der Fälle, in denen die Polizei mit psychisch kranken Menschen konfrontiert ist. Verhaltensempfehlungen, die im Rahmen der Ausbildung der Polizei gegeben werden, legen den Schwerpunkt häufig auf die Eigensicherung (Füllgrabe 2017) und/oder auf rechtliche Rahmenbedingungen (Schönstedt 2016). Laut Engel und Silver (2001) und Finzen (2014) stellen Einsatzbeamtinnen und -beamte jedoch oft fest, dass psychisch erkrankte Menschen anders auf polizeiliche Maßnahmen reagieren, als sie es von psychisch gesunden Menschen gewohnt sind. Die Herausforderungen für Polizeibedienstete beziehen sich laut den Ergebnissen der hier vorgestellten Studie v. a. auf die Gefährlichkeit, die Vorhersagbarkeit des Verhaltens sowie auf den direkten Kontakt zu psychisch erkrankten Menschen. Interessant erscheint an dieser Stelle, dass unterschiedliche Alterskategorien unterschiedliche Herausforderungen wahrnehmen, und dass die Formen der Fragestellung (offen vs. geschlossen) hier eine unterschiedliche Gewichtung der Herausforderungskategorien hervorbringen. Die Annahme, dass die Gesamtheit psychisch erkrankter Personen per se gefährlicher ist als nichterkrankte Personen, lässt sich zwar empirisch nicht belegen, bestimmt aber scheinbar den polizeilichen Alltag. Unter den Befragten äußern mehr als die Hälfte der Polizeibediensteten den Wunsch nach einem Ausbau an Fortbildungsangeboten in Bezug auf das untersuchte Thema (50,4 %) und wünschen knapp 40 % eine bessere Vernetzung zu professionellen Helferinnen und Helfern (39,1 %). Ältere Polizeibedienstete gaben nicht nur vermehrt die Begrenzung der eigenen Belastungen durch die Einsätze mit psychisch kranken Menschen als berufliche Herausforderung an, sondern auch den Wunsch nach Supervision. Daraus lässt sich möglicherweise eine Kumulation der wahrgenommenen beruflichen Belastungen im Zusammenhang mit Einsätzen mit psychisch kranken Menschen über die Dauer der beruflichen Polizeitätigkeit schließen.

Wissenschaftlich validierte Handlungsmodelle, die auf die Polizeiarbeit übertragbar sind, existieren bisher leider so gut wie nicht (Biedermann 2017). Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass der Schwerpunkt der Handlungsmodelle, die in der polizeilichen Ausbildung fehlen, deeskalative Einsatzmethoden betrifft. Polizeiliche Handlungskompetenzen im Bereich der Kommunikation, einschließlich der nondirektiven Kommunikation, (z. B. Empathie, Vertrauen aufbauen, beruhigen) sollten ausgebaut werden. Schmalzl (2009) konnte anhand der bayerischen Polizei empirisch nachweisen, dass Einsatzkompetenz in interaktiven Einsatztrainings erlernbar ist. Handlungsroutinen und die damit verbundene Handlungssicherheit wirken sich positiv auf die Qualität der Arbeit, die unmittelbare Kontaktgestaltung zu psychisch kranken Personen und damit auch auf die Vermeidung eskalativer Zuspitzungen aus. Bisher gibt es erste Bestrebungen, wissenschaftliche Erkenntnisse zum erhöhten Abstandsbedürfnis, v. a. von an Schizophrenie erkrankten Personen, in den polizeilich-taktischen Umgang mit psychisch kranken Menschen zu integrieren (Ellrich und Baier 2014; Rupp 2012; Schmalzl 2004).

Polizeibedienstete könnten hierbei wie auch bei der Vermittlung von Kompetenzen im Erkennen verschiedener Erkrankungen von Erfahrungen der professionellen Helferinnen und Helfer profitieren. Multiprofessionelle Ansätze könnten hier wie in den USA, in Kanada, Australien, Großbritannien und in der Schweiz etabliert werden (Beyli-Helmy et al. 2020; Rohrer 2021; Wittmann 2021), jedoch nur dann, wenn sich beide Professionen einander weiter annähern. Die Schnittstelle zwischen Psychiatrie, professionellen Helferinnen und Helfern und der Polizei könnte sich dadurch enger verzahnen – wie auch die zwischen Wissenschaft und Praxis. Durch die multidisziplinäre Verknüpfung von Psychiatrie, Polizei und Wissenschaft könnten Vorurteile abgebaut und Synergien genutzt werden. Nicht nur im Sinne von Eigensicherungsaspekten für die Polizei sollte dies ein anzustrebendes Ziel sein – es dient auch dem Schutz der professionellen Helferinnen und Helfer und letzten Endes der psychisch kranken Menschen.

Ausblick

Weitere Forschung auf diesem Gebiet ist notwendig, um herauszufinden, welche Maßnahmen in der polizeilichen Arbeit mit psychisch kranken Menschen geeignet sind, Risiken zeitnah und krankheitsbezogen einschätzen zu können und wie sie erfolgreich erlernt und umgesetzt werden können. Multidisziplinär gestaltete und praxisorientierte Fortbildungsangebote könnten nicht nur der mentalen Vorbereitung der Polizei auf das Eintreffen am Einsatzort dienen, sondern auch im Rahmen der professionellen Zusammenarbeit mit Psychiatrie und Wissenschaft einen wichtigen Beitrag leisten. In diesem Zusammenhang bietet sich generell die Kooperation zwischen lokalen Polizeipräsidien, (forensischen) Psychiatrien und professionellen Helferinnen und Helfern an. So könnte es nicht nur zum verbesserten Wissenstransfer, sondern auch zur Ausbildung qualitativer Standards und multiprofessioneller Netzwerke in der gemeinsamen Polizei- und Psychiatriearbeit kommen. Darüber hinaus wäre denkbar, dass standardisierte Verfahren einen Beitrag dazu leisten könnten, die wahrgenommenen beruflichen Herausforderungen für Polizeibedienstete zu begrenzen. Dies könnte nicht nur dem Abbau von Vorurteilen und dem Aufbau von Vertrauen zwischen den Institutionen entgegenkommen, sondern die Rechte, Behandlungs- und Rehabilitationschancen der Menschen mit psychischen Erkrankungen deutlich stärken.