Zusammenfassung
Die Aussagen zu einer gruppenstatistisch ungünstigeren Kriminalprognose von persönlichkeitsgestörten Straftätern sind zu schwach, um daraus für die Einzelfallprognose Schlussfolgerungen abzuleiten. Im Teil I dieses Beitrags wurde gezeigt, dass die Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse (MIVEA) eine prinzipiell geeignete Arbeitshilfe für die sich aus diesen Befunden ergebende Aufgabe ist, die Kriminorelevanz einer Persönlichkeitsstörung im konkreten Fall zu prüfen. Im vorliegenden Teil II soll nun anhand einzelner Persönlichkeitsstörungen illustriert werden, wie die MIVEA durch Hervorhebung der kriminorelevanten Aspekte die kriminalprognostische Einschätzung verbessern kann.
Abstract
Many studies have shown that there is an elevated prevalence of personality disorders in criminal offenders in addition to the statistically higher probability of becoming repeat offenders. This article highlights in part I the method of Applied Criminology which explains how this method can help to detect the relevance of personality disorders when applied to an individual case. In this second part the personality disorders are examined and also how this method facilitates the risk assessment process.
Notes
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders-IV.
Der Zweitautor erinnert eine Gefangenenpersonalakte aus dem Jugendstrafvollzug, in der als Ergebnis der Behandlungsuntersuchung des 21-jährigen Gefangenen lediglich Folgendes vermerkt war: „Antisoziale Persönlichkeitsstörung. Behandlung: sinnlos“.
Abweichend von der bisherigen Vorgehensweise wird die Klassifikation der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems-10 (ICD-10) herangezogen, weil hier eine differenzierte Erfassung dieser Persönlichkeitsstörung möglich ist, während im DSM-IV lediglich die Borderline-Persönlichkeitsstörung klassifiziert ist.
Literatur
Bock M (2007) Kriminologie. Für Studium und Praxis. Vahlen, München
Bock M (2012) Die Zweite Moderne und die Angewandte Kriminologie. Zur Notwendigkeit einer neuen Verlaufsform. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 6:281–294
Bock M, Sobota S (2012) Sicherungsverwahrung: Das Bundesverfassungsgericht als Erfüllungsgehilfe eines gehetzten Gesetzgebers? Neue Kriminalpolit 3:106–112
Brockmann M, Bock M (2013) Die Kriminalprognose bei persönlichkeitsgestörten Straftätern. Teil I: Ausgangslage und Potenziale der Angewandten Kriminologie. Forens Psychiatr Psychol Kriminol (im Druck, DOI 10.1007/s11757-013-0205-8)
Cleckley HM (1941) The mask of sanity. Mosby, St. Louis
Kröber H-L (2006) Kriminalprognostische Begutachtung. In: Kröber H-L, Dölling D, Leygraf N, Saß H (Hrsg) Handbuch der Forensischen Psychiatrie. Bd. 3: Psychiatrische Kriminalprognose und Kriminaltherapie. Springer, Darmstadt, S 69–172
Münster PM (2008) Integrierende Theorien und Ansätze. In: Göppinger H (Hrsg) Kriminologie, 6. Aufl. Beck, München, § 12, S 180–204
Nedopil N (1997) Die Bedeutung von Persönlichkeitsstörungen für die Prognose künftiger Delinquenz. Monatsschr Kriminol 80:79–92
Nedopil N (2007) Forensische Psychiatrie, 3. Aufl. Thieme, Stuttgart
Saß H, Wittchen H-U, Zaudig M, Houben I (2003) Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – Textrevision – DSM-IV-TR. Hogrefe, Göttingen
Thalmann T (2009) Neues vom Psychopathen. Monatsschr Kriminol 4:376–394
Vollbach A (2006) Der psychisch kranke Täter in seinen sozialen Bezügen. LIT, Münster
Interessenkonflikt
Die Autoren versichern, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Additional information
Unter dem Titel „Die Kriminalprognose bei persönlichkeitsgestörten Straftätern – Teil I: Ausgangslage und Potenziale der Angewandten Kriminologie“ erschien in Heft 2/2013 der Forensischen Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie der erste Teil dieses Beitrags. Beide müssen als Einheit gesehen werden.
Anhang: kriminovalente und kriminoresistente Kriterien zur Analyse des Lebensquerschnitts
Hier wird eine aktualisierte Version vorgestellt, in der die Kriterien jeweils auf einer Dimension angeordnet und leicht sprachlich überarbeitet sind. Die zuletzt publizierte Version ist Bock [1], 163 ff.
Anhang: kriminovalente und kriminoresistente Kriterien zur Analyse des Lebensquerschnitts
Vernachlässigung des Leistungsbereichs | Einsatz und Befriedigung im Leistungsbereich |
Liegt vor, wenn der Proband keiner geregelten oder überhaupt keiner Arbeit nachgeht, obwohl er dazu in der Lage ist (also z. B. nicht krank ist). Dasselbe gilt bei Schülern oder Studierenden hinsichtlich des Schul- oder Vorlesungsbesuches. | Sind dann gegeben, wenn Arbeit und Beruf (bzw. Schule oder Studium) für den Probanden ein wesentliches Element seiner (auch ideellen) Daseinsgestaltung ausmachen oder in gewisser Weise sogar der Selbstverwirklichung dienen, also nicht nur als „Job“ und (beliebig austauschbare) Gelderwerbsquelle oder notwendiges Übel angesehen werden. |
Der Proband ist mit seiner Arbeit und seinem Beruf zufrieden, erbringt gute Leistungen, macht Überstunden oder geht auch noch einer Nebentätigkeit nach, die ihn ebenfalls befriedigt. | |
Eine schlechte Arbeitshaltung führt zu Kündigungen oder zum eigenen Hinwerfen der Arbeit (bei Schülern und Studierenden zu Misserfolgen). Der Proband bemüht sich auch nicht um einen neuen Arbeits- oder Ausbildungsplatz, sondern geht allenfalls Gelegenheitsarbeiten nach. | Im Übrigen zeigt er ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl am Arbeitsplatz, große Betriebsverbundenheit und fühlt sich für den Betrieb mehr oder weniger unentbehrlich. |
Hinweis: Von einer solchen Haltung streng zu unterscheiden ist das formelle Vorliegen von Arbeitslosigkeit, bei der sich der Proband aktiv um eine Beschäftigung kümmert und auch zielgerichtet die hierfür vorgesehenen staatlichen Hilfen in Anspruch nimmt | Hinweis: Im Extremfall kann es aber auch zu einer suchtartigen Fixierung auf die Berufstätigkeit kommen, die sich belastend auf die sonstigen Beziehungen des Probanden und seine Gesundheit auswirken kann |
Vernachlässigung sozialer Pflichten | Erfüllung sozialer Pflichten |
Die eigenen Wünsche und (momentanen) Bedürfnisse stehen stets im Vordergrund. Soziale Pflichten, die sich aus dem im sozialen Leben üblichen Geben und Nehmen ergeben, werden gar nicht als solche erkannt. | Obgleich die sozialen Pflichten nicht abschließend definiert werden können, erkennt der Proband die sehr spezifischen diesbezüglichen Erwartungen seiner Umgebung klar, hat dafür auch ein gewisses Gespür entwickelt und akzeptiert sie als selbstverständlich. |
Werden sie erkannt, so besteht keinerlei Bereitschaft, ihnen nachzukommen oder hierauf in irgendeiner Weise Rücksicht zu nehmen, sodass sich die betreffenden Kontaktpersonen ausgenutzt fühlen. | Daraus ergibt sich eine generelle Rücksichtnahme gegenüber Dritten und eine grundsätzliche Bereitschaft, im alltäglichen Leben zugunsten der unmittelbaren Umgebung auf eigene Wünsche und Annehmlichkeiten entweder ganz zu verzichten oder sie zurückzustellen. Bezeichnend hierfür sind Äußerungen wie „Das hätte ich meinen Eltern nicht antun können“, „Das war selbstverständlich“, „Das wurde einfach erwartet“ |
Fehlendes Verhältnis zu Geld und Eigentum | Reales Verhältnis zu Geld und Eigentum |
Meint den Umgang des Probanden mit seinem eigenen Geld und Eigentum. Hingegen bleibt das Verhältnis zum abstrakten Rechtsgut „Eigentum“ stets unberücksichtigt. Der Proband lebt „von der Hand in den Mund“, gibt sein Geld also aus, wie es hereinkommt, und kann in keiner Weise „wirtschaften“. | Kann angenommen werden, wenn der Proband mit seinem Geld haushalten kann, etwa in der Lage ist, ein monatliches Budget mit Einnahmen und Ausgaben aufzustellen, und keine unübersehbaren, aufgrund seiner Einkommenssituation voraussichtlich nicht zu tilgenden Schulden hat. Er verfügt darüber hinaus über Bausparverträge, Sparkonten oder Ähnliches, auf die er regelmäßig Einzahlungen leistet. |
Auch im Umgang mit seinen Sachen lässt er jegliche Sorgfalt vermissen und kümmert sich in keiner Weise um sein Hab und Gut. Auch wertvolle Sachen werden nicht gepflegt oder repariert, gelegentlich auch einfach in einer verlassenen Wohnung zurückgelassen. | Anschaffungen erfolgen nur nach eingehendem Abwägen der langfristigen Vor- und Nachteile. Mit dem persönlichen Eigentum (aber auch mit dem Dritter) wird pfleglich und sorgsam umgegangen, was sich u. a. darin äußern kann, dass Versicherungen abgeschlossen werden, die Kleidung gepflegt, das eigene Kraftfahrzeug schonend gefahren und auf die Wohnungseinrichtung geachtet wird. |
Inadäquat hohes Anspruchsniveau | Adäquates Anspruchsniveau |
Bezieht sich auf rein materielle Ansprüche, z. B. viel zu verdienen, sich einen in materieller Hinsicht (verhältnismäßig) hohen Lebensstandard zu leisten usw., oder aber auf unmittelbare Annehmlichkeiten und Vorteile. | Zeigt sich in einer – auch von Außenstehenden – als realistisch angesehenen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten. |
Diese Ansprüche stehen in keinem Verhältnis zu den eigenen legalen (wirtschaftlichen) Möglichkeiten und (beruflichen) Fähigkeiten oder auch zum eigenen Beitrag im zwischenmenschlichen Umgang. Meist fehlt es schon an der grundsätzlichen Bereitschaft hierzu. | Probanden mit adäquatem Anspruchsniveau stellen jedoch, und darauf kommt es bei diesem Kriterium an, geringere (materielle) Ansprüche an das Leben und an ihre Umwelt, als ihnen aufgrund ihrer beruflichen Leistungen und finanziellen Situation eigentlich möglich wäre (Understatement). Sie sind deshalb zufrieden und gelassen, auch wenn sie in bescheidenen Verhältnissen leben. |
Der Proband ist mit jeder Arbeit und jeder Bezahlung unzufrieden, ohne einzusehen, dass andere, an deren beruflicher Position und deren Lebensstandard er sich orientiert, bessere Voraussetzungen mitbringen, höhere Qualifikationen aufweisen und weit mehr Leistung erbracht haben, als er zu erfüllen bereit ist | Hinweis: Streng zu trennen vom adäquaten Anspruchsniveau in diesem Sinne sind manche hohen Ansprüche, die ein Proband an sich selbst oder an ein etwaiges Lebensziel stellt. Beides schließt sich nicht aus: Sofern bei einem Probanden – trotz hoher Lebensziele – die gegenwärtigen Ansprüche seinen derzeitigen Möglichkeiten entsprechen, ist das Kriterium durchaus gegeben. |
Ausleben eigener Bedürfnisse | Engagement für Sachinteressen |
Die Freizeit ist geprägt von der Suche nach Reizsituationen und dem ungebremsten Leben im Augenblick. Weder die jeweiligen Freizeitaufenthaltsorte noch die Verweildauer dort noch die möglichen Kontaktpersonen können konkret genannt werden, weil allein die Befriedigung jederzeit wechselnder eigener Bedürfnisse den Verlauf dieser unstrukturierten Freizeitgestaltung bestimmt. | Im Vordergrund der Freizeitgestaltung steht die Übernahme von Aufgaben und Tätigkeiten, die für den Probanden einen echten Lebensinhalt darstellen, sodass er in ihnen geradezu aufgeht. Im Einzelnen kann sich diese produktive Freizeitgestaltung sowohl in Überstunden und Nebentätigkeiten, in (gegenseitiger) Nachbarschaftshilfe, in der Pflege von Haus und Garten, in Fort- und Weiterbildung, im aktiven Sporttreiben als auch im (bisweilen ausgesprochen schöpferischen) Ausüben eines Hobbys äußern. |
Beispiele sind übermäßiger Alkohol-/Drogenkonsum, gewalttätige Auseinandersetzungen, ungeplante Sexualkontakte, zielloses Umherfahren oder exzessiver Konsum elektronischer Medien. Meist enden solche Aktionen in Lokalen oder an Orten, wo sich andere Personen mit vergleichbarem Lebensstil finden und wo man sich wohlfühlt | Beispiele für die Förderung von ideellen/kulturellen Zielen, die hier auch in Betracht kommen, sind Ehrenämter und vielfältige Funktionen in Vereinen, in der Gemeinde, in politischen, karitativen oder kirchlichen Organisationen |
Ausweitung der Freizeit zulasten des Leistungsbereichs | Einschränkung der Freizeit durch Selbstverpflichtung |
Liegt schon bei nicht nur sporadischem und/oder stundenweisem Fernbleiben vom Arbeitsplatz (Schule, Universität) durch Schwänzen, „Blaumachen“ oder Krankfeiern vor, das bei Müdigkeit oder sonstigen Folgen der Freizeitgestaltung (Kater, Nicht-zu-Hause-Aufwachen) jederzeit und ohne Rücksicht auf den Verlust des Arbeitsplatzes (oder die Verweisung von der Schule) in Betracht gezogen wird. | Liegt vor, wenn zusätzlich zu einem kompletten Leistungsbereich auch die Freizeit des Probanden von langfristig angelegten, systematisch betriebenen und/oder formal organisierten, häufig stark leistungsorientierten Tätigkeiten mit feststehenden, geregelten Abläufen ausgefüllt ist, die verpflichtenden Charakter haben und daher nicht disponibel sind. |
Verschwindet durch Kündigung des Arbeitgebers oder eigenes „Hinwerfen“ der Leistungsbereich vollends, ergibt sich in der Folge eine Tageslaufverschiebung: Es wird tagsüber geschlafen und die Freizeit vom frühen Nachmittag bis in den Morgen des nächsten Tages ausgeweitet | Hinweis: Die Freizeit mit der Familie oder Freunden tritt dadurch bisweilen in den Hintergrund, was diese Beziehungen durchaus belasten kann. Es fehlt aber auch an frei verfügbarer Zeit für die eigene Entspannung und Zerstreuung |
Forderung nach örtlicher Ungebundenheit | Gebundenheit an Wohnung und Umgebung |
Wegen Abenteuerlust, Erlebnishunger sowie verstärkter Suche nach Reizsituationen und Abwechslung darf es keine Einschränkung der Möglichkeit geben, im Interesse dieser Bedürfnisse jederzeit sofort an einen anderen Ort zu gehen. | Meint das starke Bedürfnis, sich zu Hause und im sozialen Nahraum eingebettet zu fühlen. So konzentriert sich z. B. die Freizeit fast ganz auf die (persönlich ausgestaltete) eigene Wohnung und bekannte Örtlichkeiten (Stammlokal, Weg zur Arbeit, Spazierweg, Vereinsheim) |
Die weitgehende Beliebigkeit der jeweiligen räumlichen Umgebung zeigt sich in einer Unbeständigkeit des Aufenthaltsbereichs (häufiger Wechsel, Unterschlupfmöglichkeiten, Herumstreunen, Wohnung oder Unterkunft ist nur Schlafstelle) oder auch in der Weigerung, ein an einen Ort gebundenes Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis einzugehen. | Für das Gefühl der Einbettung ist das beruhigende Wiedererkennen von Bekanntem (Landschaften, Gebäude, Personen, Speisen und Getränke, Töne, Gerüche) wesentlich, weshalb jede Art von Ortswechsel (möglicherweise sogar Urlaub) als störend empfunden und möglichst vermieden wird. Hinweis: Wird dieses Kriterium bejaht, handelt es sich regelmäßig auch um einen örtlichen Relevanzbezug. |
Forderung nach personaler Ungebundenheit | Tragende menschliche Bindungen |
Liegt vor, wenn der Proband um jeden Preis seine "Selbstständigkeit", "Unabhängigkeit" und "Freiheit" in dem Sinn bewahren will, dass er sich jederzeit seinen momentanen Wünschen, Bedürfnissen und Launen hingeben kann. Es gibt daher keine in irgendeiner Form verpflichtenden Freizeittätigkeiten, keine festen Kontakte, insbesondere keine feste Partnerschaft oder Heirat – und wenn Partnerschaft oder Heirat, dann ohne Änderung des Lebensstils unter Beibehalten aller bisherigen Freiheiten. | Setzen voraus, dass der Proband mindestens einen Menschen hat, der für ihn als individuelle Persönlichkeit von Bedeutung ist, dem er vertraut, dem er sich zugehörig und für den er sich verantwortlich fühlt. Solche Beziehungen können beispielsweise zunächst zu den Eltern, später auch zu Freunden, zur Freundin und v. a. zur Ehefrau (und zu den Kindern) bestehen. |
Bindungen dieser Intensität und Tiefe setzen voraus, dass man regelmäßig gemeinsame Zeit verbringt bzw., wenn das aus zwingenden Gründen nicht möglich ist (z. B. in einer berufliche bedingten Fernbeziehung), man dies als Belastung und Mangel empfindet und sich bemüht, Abhilfe zu schaffen | |
Hinweis: Wird dieses Kriterium bejaht, handelt es sich regelmäßig um einen personalen Relevanzbezug. | |
Fehlende Lebensplanung a | Lebensplanung a und Zielstrebigkeit |
Kann in allen Lebensbereichen seinen Ausdruck finden: im Leistungsbereich etwa in der wiederholten, unüberlegten und spontanen Aufgabe des Arbeitsplatzes, aber auch in einer unvorbereiteten Heirat. | Liegt vor, wenn das Verhalten und die bisherige Entwicklung des Probanden von realistischer Vorausschau und Planung sowie von Beständigkeit und Beharrlichkeit im Verfolgen bestimmter Ziele zeugen. |
Der Proband lebt im Augenblick, in den Tag hinein, lässt sich treiben und ist stets offen für alle von außen auf ihn eindringenden Impulse, für momentane Lust- und Unlustgefühle, für Stimmungen usw., denen widerstandslos nachgegeben wird | Der Proband ist in der Lage, die eigene Person im Hinblick auf langfristige Ziele „einzuspannen“, also zugunsten zwar erst längerfristig erreichbarer, jedoch (in materieller und ideeller Hinsicht) für ihn höherwertiger Ziele aktuellen Verzicht zu leisten. |
Auch aus dem gegenwärtigen Verhalten kann auf keinerlei konkretes, über die Befriedigung der alltäglichen Bedürfnisse hinausgehendes Streben nach irgendeinem Ziel, etwa in beruflicher oder familiärer Hinsicht, geschlossen werden. | Auch aktuell lässt sich Vorsorge erkennen, und es werden konkrete Vorkehrungen für die Zukunft getroffen. |
Mangelnde Realitätskontrolle | Gute Realitätskontrolle |
Liegt vor, wenn sich der Proband von Wunschvorstellungen leiten lässt, die in einem Missverhältnis zu seiner konkreten Situation sowie zu seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten stehen. Den zähen, kontinuierlichen Einsatz für diese (beruflichen und privaten) Ziele lehnt er ab und hofft stattdessen auf das Glück beim nächsten Versuch. Selbst aus früheren Rückschlägen und Fehlversuchen zieht er keinerlei Lehren, sondern sucht die Ursachen dieser Misserfolge in eher irrelevanten Umständen. | Kann angenommen werden, wenn der Proband seine eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten (etwa hinsichtlich des beruflichen Fortkommens), aber auch seine Schwächen und „Probleme“ realistisch einzuschätzen und mit ihnen umzugehen vermag, nicht etwa Wunschträumen nachhängt und auch nicht versucht, sein Leben auf irgendwelchen irrationalen Erwartungen aufzubauen. |
Paradoxe Anpassungserwartung | Anpassungsbereitschaft |
Ist die Ablehnung jeglicher eigener Anpassung an die Umgebung bei gleichzeitigem Anspruch auf Anpassung der Umwelt | Kann angenommen werden, wenn der Proband bereit ist, begründet erscheinenden Ansprüchen und Erwartungen Dritter an sein Verhalten (mindestens zunächst) zu entsprechen. |
Der Proband schreibt die Schuld für seine von ihm als unbefriedigend empfundene Lage stets Benachteiligungen durch andere Personen (Eltern, Mitschüler, Kollegen oder Lehrer und Vorgesetzte) oder den „Umständen“ (z. B. einem Migrationshintergrund), dem Pech oder dem Schicksal zu. So beklagt er sich z. B. über die angebliche Verweigerung des ihm „ja wohl selbstverständlich“ zustehenden Respekts oder der Akzeptanz seiner „doch völlig normalen“ materiellen Ansprüche oder Freiheiten in der Partnerschaft, ohne die vergleichbaren bzw. aufgrund von Alter, Status, Betriebszugehörigkeit und Ähnlichem eventuell zu Recht höheren Ansprüche anderer zu sehen und sich nach diesen zu richten | Anhaltspunkte hierfür finden sich beispielsweise in der Bereitschaft des Probanden, Notwendigkeiten des Arbeitsablaufes im Betrieb zunächst eher hinzunehmen als sofort gegen seinen Vorstellungen zuwiderlaufende Anordnungen anzukämpfen. Entsprechendes gilt für den Aufbau einer Partnerschaft, in der nicht sofort Übereinstimmung in allen Punkten besteht. Das bedeutet jedoch keineswegs Anpassung um jeden Preis. Wenn der Proband seine eigenen Vorstellungen und Ansichten dauerhaft nicht einbringen kann, sucht er dafür ein passenderes Tätigkeitsfeld oder eine andere Partnerin. |
Hinweis: Es geht hier nicht um fallweise tatsächliche Diskriminierungen und ein möglicherweise feines Gespür für Ungerechtigkeit und Respektlosigkeit, sondern um eine generalisierte Zuschreibung zur eigenen Verantwortungsentlastung | Hinweis: Die Anpassungsbereitschaft ist nicht zu verwechseln mit leichter Beeinflussbarkeit; sie ist vielmehr stets das Ergebnis einer gewissen Toleranz, für die wiederum feste (ideelle) Grundsätze Voraussetzung sind. |
Geringe Belastbarkeit b | Hohe Belastbarkeit b |
Kommt im zwischenmenschlichen Umgang zum Ausdruck, zeigt sich aber v. a. auch bei den üblichen Anforderungen im Alltags- und Arbeitsleben: Der Proband verträgt z. B. keinerlei Kritik an seiner Person, seinem Verhalten, seinen Arbeitsleistungen usw. und reagiert darauf in gewisser Weise überschießend. Er läuft vor belastenden Situationen jedweder Art im buchstäblichen Sinne des Wortes davon und führt damit letztlich eine weitere Verschlechterung seiner Lage herbei. | Kommt v. a. in einem besonderen Einsatz im Rahmen der Berufstätigkeit zum Ausdruck, kann sich aber ebenso auf die Verarbeitung des eigenen Lebensschicksals beziehen. Der Proband nimmt sein Leben in die Hand, meistert schwierige und belastende Situationen, sucht sich sozial unauffällige Ausweichmöglichkeiten und beruft sich beispielsweise nicht auf etwaige Benachteiligungen oder wartet, bis er von außen irgendwelche (z. B. staatliche) Hilfen erlangt. |
Hinweis: Nicht immer treten in der Biografie Belastungssituationen der hier gemeinten Schwere auf, sodass eine Prüfung nicht erfolgen kann und das Kriterium nicht bejaht wird. | |
Risikoverhalten | Eigenverantwortung |
Damit sind (nicht nur sporadisch auftretende) Verhaltensweisen gemeint wie schwere Schlägereien, das Surfen auf U- oder S-Bahnen, „Crash“-Fahrten bzw. überhaupt riskantes Fahren oder ungeschützter Geschlechtsverkehr. | Meint die grundsätzliche Bereitschaft, die „Zuständigkeit“ für die Gestaltung des eigenen Lebens zu sehen, zu akzeptieren und sich darauf einzustellen. Im alltäglichen Verhalten wird deshalb in allen Lebensbereichen darauf geachtet, von vornherein Kontakte, Orte und Situationen zu meiden, in denen es evtl. zu Gefahren, Schwierigkeiten und Konflikten kommen könnte, auch wenn es dafür gar keine konkreten Anhaltspunkte gibt. |
In all dem kommt ein mangelndes Gefühl der eigenen körperlichen Integrität zum Ausdruck. Ähnliches gilt etwa auch für unbedachte Tätowierungen. Verhalten dieser Art wird regelmäßig ausgelöst oder verstärkt durch die mit unkontrolliertem (ggf. auch in der Beliebigkeit unterschiedlicher Stoffe, deren komplexe Wirkung und Abhängigkeitspotential gar nicht erwogen wird) Alkohol- oder auch Drogenkonsum verbundene Enthemmung. | |
Gemeint ist aber auch, alternativ oder kumulativ, ein übermäßiger und unkontrollierter Alkohol-/Drogenkonsum für sich, sofern er eine Hintergrundwirkung in den einzelnen Lebensbereichen entfaltet, indem er Kontakte zerstört, das Freizeitverhalten in unstrukturierte, offene Abläufe drängt, den Leistungsbereich schwächt und letztlich alle Voraussetzungen für ein straffreies Leben vernichtet. Im Extremfall kann dies auch bei nichtstoffgebundenen Süchten der Fall sein | Zu diesem vorsichtigen, auf Sicherheit bedachten und oft geradezu ängstlich erscheinenden Verhalten im Alltag kommen die Aufmerksamkeit für die Gesundheit (Ernährung, Bewegung, Ausgleich, Vorsorge) und die Achtsamkeit für Alarmsignale der Überforderung, aus denen Konsequenzen für das Maß beruflicher und persönlicher Anforderungen, das man sich zutraut, gezogen werden. |
Hinweis: Die besondere kriminologische Relevanz all dieser Formen von Risikoverhalten besteht darin, dass es nicht nur in der aktuellen Situation regelmäßig zu Straftaten führt, sondern dass es schwere, auch irreversible körperliche (Krankheiten, Unfälle), psychische (Persönlichkeitsveränderungen, Psychosen) und soziale (Führerscheinentzug, -sperre) Beeinträchtigungen zur Folge haben kann, die auch langfristig den Ausstieg aus der Delinquenz erschweren. | Hinweis: Mit Egoismus hat dies nichts zu tun, denn nur mit dieser Art von Eigenverantwortung bleibt man dauerhaft in der Lage, auch für andere Verantwortung übernehmen zu können und diesen nicht infolge von ansonsten unvermeidlichen Krisen, Krankheiten oder Zusammenbrüchen zur Last zu fallen. Nicht selten steht nämlich gerade bei sozial integrierten Menschen die Bereitschaft, für andere Menschen oder betriebliche Abläufe Verantwortung zu übernehmen, in einem Missverhältnis zur Verantwortung für das eigene Leben und Wohlergehen. |
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Brockmann, M., Bock, M. Die Kriminalprognose bei persönlichkeitsgestörten Straftätern. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 7, 193–201 (2013). https://doi.org/10.1007/s11757-013-0206-7
Received:
Accepted:
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s11757-013-0206-7