figure a

Sie hatte wundervolles, weißes Haar, blaue Augen und vornehme Manieren. Ich schätzte, dass sie ungefähr 60 Jahre alt und 1,65 m groß war. Sie trug ein langes Kleid, das fast den Boden berührte. Sie wiederholte ihre Einladung zum Abendessen. Als ich ihr näher kam, um sie in den Speisesaal zu geleiten, roch ich Alkohol in ihrem Atem. Ich spürte sofort, dass sie eine starke Trinkerin war.

So schildert Moreno (1995, S. 114) seine erste Begegnung mit Gertrude Francot Tone; jener Frau, die -ebenso wie ihr Mann- das Beacon-Projekt großzügig finanziell unterstützte und im Gegenzug einige Monate lang ebendort von Moreno gegen ihre Alkohol- und Nikotin-Sucht behandelt wurde: „Ich stelle die Bedingung, dass Sie keinerlei Alkohol trinken, solange Sie hier sind.“ (ebda, S. 115). Mehr erfahren wir über die -erfolgreiche- Behandlung leider nicht.

Für das vorliegende Heft sind wir auf literarische Spurensuche gegangen: Wo findet sich in der Psychodramaliteratur das Thema Sucht?

Noch einmal bei Moreno selbst, er erzählt in seiner Biografie (1995, S. 64 f.), wie er im zweiten Jahr seines Medizinstudiums als wissenschaftlicher Assistent von Otto Pötzl, Chefarzt an der psychiatrischen Klinik Wagner von Jaureggs, tätig war: „Ich half ihm [Pötzl, Anm.] bei seiner Erforschung der Träume von Alkoholikern. Pötzl dachte, er könne verschiedene bei Alkoholikern übliche neurologische Zustände anhand der Struktur ihrer Träume diagnostizieren. Und so war es. Als die Ergebnisse der Studie veröffentlicht wurden, fügte Pötzl meinen Namen als Koautor hinzu. Dies war das erste Mal, dass mein Name in Verbindung mit einer wissenschaftlichen Veröffentlichung auftauchte.“

Später wird Moreno (2001, S. 111) dafür plädieren, dass im Psychodrama mit AlkoholikerInnen ganz realistische Szenen aus deren Milieu nachgespielt werden sollen: „Der Psychodramatiker muss neben der telischen Empfindsamkeit ein Wissen über die Codes der Alkohol- und Drogenabhängigen (..) haben, um in wirksamer Weise auf sie eingehen zu können. Jeder Art von Rollenspiel auf einer fiktiven Ebene, das nicht in Verbindung mit ihren tatsächlich dynamischen Problemen steht, wird sie nicht erreichen. Sie brauchen direktes und realistisches Psychodrama“.

Petzold (1993, S. 265 ff.) beschreibt 1978 sehr ausführlich und anschaulich, wie tetradisches Psychodrama in der Gruppentherapie mit Alkoholikern funktioniert. Viele weitere Publikationen zum Thema Sucht folgen, Petzold entwickelt auch ein Suchtmodell, allerdings im Rahmen der integrativen Therapie – seine psychodramatischen Wurzeln und Einflüsse, die in all seinen Arbeiten deutlich werden, benennt er leider nicht mehr.

Bei Grete Leutz (1983) stehen in der Beschäftigung mit Suchtkranken deren Beziehungsstörungen im Vordergrund – jene zum kosmischen Dasein, zu den Mitmenschen und zu sich selbst.

Simenson veröffentlicht 1990 das Buch „Abhängigkeit und Loslösung. Psychodramatische Ansätze in der stationären Langzeittherapie mit Alkohol- und Medikamentenabhängigen“.

Drei Jahre später erscheint in der Zeitschrift Psychodrama (1993) ein erstes Heft mit dem Themenschwerpunkt Sucht. Herausgeber Stimmer (ebda, S. 165) schreibt im Editorial: „Der Bereich „Drogenabhängigkeit und Sucht“ ist geprägt durch eine tiefe Kluft zwischen einer im wesentlichen therapeutisch orientierten sehr differenzierten und kreativen Suchtkrankenhilfe und einer höchst unterentwickelten und auf andere Begründungskonzepte ausweichenden Suchttheorie; Suchtforschung gar, die sich des psychodramatischen und soziometrischen Instrumentariums bedient, ist kaum auszumachen.“ Folgerichtig haben die Beiträge in diesem Heft den Schwerpunkt in der psychodramatischen Suchtpraxis, welche die AutorInnen jeweils mit psychodramatischen Theorieelementen zu verknüpfen suchen: Göb beispielsweise beschreibt psychodramatische Konzepte stationärer Drogentherapie, Waldhelm-Auer die Chancen des Psychodramas für Alkoholabhängige oder Frank-Trapp den Wert der Abstinenz in der Psychodrama-Therapie Suchtkranker (eine Auflistung aller Artikel dieses Heftes im Literaturverzeichnis).

Im Monodrama-Buch (1996) findet sich ein Artikel von Grimmer (ebda, S. 222 ff.) über Problemstellung, therapeutische Haltung und Monodramatechnik sowie ein Fallbeispiel aus der psychodramatischen Einzeltherapie mit Alkoholabhängigen.

Elf Jahre nach dem ersten Themenheft Sucht bringt die Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie (2004) wieder ein Heft mit diesem Schwerpunkt heraus. Die Weiterentwicklung auf dem Gebiet der Theoriebildung wird bereits in der Leitfrage, die Zwilling (ebda, S. 129) in seinem Vorwort für das Themenheft stellt, sichtbar: „Welche Chancen für präventive, beratende und therapeutische Interventionen bietet das Psychodrama als Methode der Wahl – unter Berücksichtigung dieser Wirkfaktoren – gemessen an seiner Axiologie, Theorie und Praxeologie?“ Antworten darauf geben unter anderem Schwehm (Wirkfaktoren des Psychodramas bei der Behandlung Abhängigkeitskranker), Krüger (Theorie und Praxis der störungsspezifischen Psychodramatherapie) und Voigt (Produktives therapeutisches Arbeiten mit Ambivalenzen in der Suchtbehandlung). Alle Artikeln dieses Heftes befinden sich im Literaturverzeichnis.

2010 beschreiben Kern und Stadler (S. 200 f.) in ihrem Lehrbuch die psychodramatische, psychosoziale Beratung, wie sie besonders im Rahmen der Suchthilfe angeboten wird.

Bender und Stadler (2012, S. 117 ff.) widmen dem Thema „Abhängigkeit und Sucht“ ein ganzes Kapitel ihres Psychodrama-Buches, in dem sie auch ihr psychodramatisches Suchtmodell vorstellen.

Im vorliegenden Sonderheft nun wird die aktuelle Landschaft psychodramatischer Suchtbehandlung abgebildet: Von der Ätiologie über die Diagnostik bis hin zur Prävention, von Komorbidität bis Online-Sucht, von der ambulanten über die stationäre Behandlung bis hin zum Leben mit Konsum und Rückfällen sowie dem Tod als letztes Ausstiegsszenarium spannt sich der Bogen der Begegnungen im Drama der Abhängigkeit.

Wir bedanken uns sehr herzlich bei den Autorinnen und Autoren für die Beteiligung an diesem Heft, sowie bei Marie Prochazka (www.marie-prochazka.at) für die Illustration dieses Prologs, und wünschen den Leserinnen und Lesern spannende und anregende Szenen des Lesens!

Sabine Kern und Sabine Spitzer