1 Einleitung

Im Kontext der Professionalisierung von Lehrkräften spielt die Reflexion von Unterricht sowohl national als auch international eine zentrale Rolle (te Poel und Heinrich 2020) und kann definiert werden als „ein anlassbezogener mentaler Prozess, der unter explizitem Selbstbezug auf ein erweitertes Verständnis pädagogischer Praxis abzielt“ (siehe Editorial in diesem Themenheft). Als Gegenstand der unterrichtsbezogenen Reflexion kann zwischen dem eigenen Unterrichtshandeln (Selbstreflexion) und dem Unterrichtshandeln fremder Lehrpersonen (Fremdreflexion) unterschieden werden (Elsner et al. 2020; Weber et al. 2022a). Dabei kann die Reflexion fremden Unterrichts, insbesondere bei angehenden Lehrkräften mit wenig Unterrichtserfahrung, dazu beitragen, zunächst ein erweitertes Verständnis pädagogischer Praxis zu entwickeln, um diese Erkenntnisse anschließend auf die eigenen professionellen Kompetenzen zu übertragen (Kleinknecht und Weber 2019). Als Fokus der Reflexion bietet sich dabei Klassenführung an, da diese einen zentralen Aspekt guten Unterrichts darstellt (Ophardt und Thiel 2008) und zudem von Studierenden oft als zentrale Herausforderung beim ersten eigenen Unterrichten wahrgenommen wird (Kleinknecht und Weber 2020).

Bei der Reflexion eigenen wie auch fremden Unterrichts lassen sich verschiedene Prozesse identifizieren. Zunächst müssen Lehrkräfte relevante Situationen des Unterrichtsgeschehens wahrnehmen (selektive Wahrnehmung), bevor sie diese im Rahmen einer wissensgesteuerten Verarbeitung auf der Grundlage professionellen Wissens interpretieren und Handlungsalternativen entwickeln (Weber et al. 2020). Diese Teilprozesse der Reflexion können beschrieben werden als reflexionsbezogene Denkprozesse (Aufschnaiter et al. 2019; Stender et al. 2021), die sich auch in dem Kompetenzmodell von Blömeke et al. (2015) wiederfinden (unter dem Begriff situationsspezifische Fähigkeiten). In der empirischen Bildungsforschung werden sie auch unter den Begriffen teacher noticing (König et al. 2022), Analysekompetenz (Plöger und Scholl 2014) oder Professionelle Wahrnehmung (Gold und Holodynski 2017) operationalisiert. Die selektive Wahrnehmung und wissensgesteuerte Verarbeitung sind dabei als relevante Bestandteile einer Reflexion zu verstehen, wobei zu berücksichtigen ist, dass Reflexion per Definition nicht allein durch diese Prozesse zu beschreiben ist. In der vorliegenden Studie fokussieren wir uns auf diese Denkprozesse als Teilprozesse der Reflexion fremden Unterrichts, wodurch der einleitend beschriebene explizite Selbstbezug, welcher einer Reflexion zugrunde liegt, unberücksichtigt bleibt.

In den Modellen von Aufschnaiter et al. (2019) und Stender et al. (2021) wird Reflexivität in Anlehnung an das Kompetenzmodell von Blömeke et al. (2015) als Kompetenz beschrieben, welche die Bestandteile „Dispositionen“, „Denkprozesse“ und „Performanz“ (Aufschnaiter et al. 2019, S. 152) beinhaltet. Dispositionen umfassen dabei zum einen kognitive Dispositionen in Form des professionellen Wissens (Stender et al. 2021) und zum anderen affektiv-motivationale Dispositionen wie Einstellungen oder die Bereitschaft, sich auf Reflexionsprozesse einzulassen (Aufschnaiter et al. 2019) und gelten als wichtige Voraussetzungen für reflexionsbezogene Denkprozesse. In aktuellen Studien wurde diese Annahme empirisch geprüft. Dabei konnten Junker et al. (2021) zeigen, dass Wissen über Klassenführung (kognitive Disposition) nur teilweise mit der Beschreibung und Interpretation von klassenführungsspezifischen Situationen zusammenhing. Stender et al. (2021) nutzen schriftliche Situationsvignetten und fanden signifikante, positive Zusammenhänge zwischen dem bildungswissenschaftlichen Professionswissen, den Einstellungen zur Reflexion und der Reflexionsperformanz.

In der vorliegenden Studie schließen wir an diese Erkenntnisse an und nutzen im Rahmen eines Mixed-Method-Designs schriftliche videobasierte Reflexionen von Klassenführungssituationen. Anhand einer Stichprobe von 193 Bachelor-Studierenden untersuchen wir Zusammenhänge zwischen dem deklarativen und konzeptuellen Wissen über Klassenführung (kognitive Dispositionen), der Reflexionsbereitschaft (affektiv-motivationale Disposition) und reflexionsbezogenen Denkprozessen im Sinne der selektiven Wahrnehmung und wissensgesteuerten Verarbeitung klassenführungsbezogener Situationen.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Reflexionsfokus: Klassenführung

Klassenführung wird oftmals als Reflexionsfokus im ersten Unterrichtspraktikum gewählt, da verschiedene Studien zeigen, dass Studierende Klassenführung als besonders herausfordernd empfinden (z. B. Wolff et al. 2017). Hellermann et al. (2015) unterscheiden drei Facetten (Allgegenwärtigkeit, Prozessuale Strukturierung, Regeln und Routinen) einer guten Klassenführung und wählen damit eine „engere“ Definition von Klassenführung.

Durch Allgegenwärtigkeit können Störungen präventiv oder intervenierend unterminiert werden (Kounin 2006). Allgegenwärtigkeit umfasst zudem (non-)verbales Feedback und Lob sowie das prompte Reagieren auf unangemessenes Verhalten (Doyle 2006; Evertson und Emmer 2012). Prozessuale Strukturierung beinhaltet die Anpassung des Unterrichts an das Lerntempo der Schüler:innen, klare Anweisungen, Transparenz über Ziel und Struktur der Unterrichtseinheit, gut vorbereitete Materialien und die Aufrechterhaltung des Gruppen-Fokus (Doyle 2006; Kounin 2006). Etablierte und positiv formulierte Regeln und Routinen dienen als Orientierung und Struktur und können das Verhalten der Schüler:innen positiv beeinflussen sowie die effektive Arbeitszeit einer Aufgabe maximieren (Evertson und Emmer 2012).

In diversen Studien zeigen sich positive Wirkungen einer effektiven Klassenführung auf Leistungen, Arbeitsverhalten, Selbstwirksamkeit, und andere sozial-emotionale und motivationale Faktoren auf Seiten der Schüler:innen (z. B. Metaanalysen von Hattie 2009; Korpershoek et al. 2016). Entsprechend sind die Vermittlung des Wissens über Klassenführung sowie die Reflexion über klassenführungsbezogene Situationen relevante Bestandteile der universitären Lehrkräftebildung.

2.2 Reflexionsbezogene Dispositionen

2.2.1 Reflexionsbereitschaft als affektiv-motivationale Disposition

Nach Dewey (1933) gilt Reflexion als Schlüsselkompetenz zur Verbesserung der Unterrichtsqualität und beginnt beim Willen, schwierige Inhalte durchdringen zu wollen. Für die erfolgreiche Realisierung von Reflexionsprozessen ist neben der Vermittlung geeigneter Methoden und Strategien daher insbesondere die Kultivierung einer reflexiven Grundhaltung erforderlich (van Eekelen et al. 2006). Auch Helmke (2010) differenziert zwischen Reflexionsbereitschaft als individuelle Disposition und der eigentlichen Reflexion des Unterrichts.

Zur Erfassung der Reflexionsbereitschaft wird in der empirischen Bildungsforschung oftmals auf Items zurückgegriffen, welche die Einstellungen gegenüber der professionellen Reflexion erfassen (z. B. Hosenfeld 2010; Wyss 2013). Einstellungen gelten als multidimensionale Konstrukte und umfassen sowohl affektive als auch kognitive und behaviorale Komponenten (Rosenberg und Hovland 1960). In bisherigen Studien wurde Reflexionsbereitschaft entweder in Bezug auf das Verhalten im Sinne der Häufigkeit reflexionsbezogener Handlungen, oder im Sinne einer positiven oder negativen affektiven Wertung erhoben (z. B. Hosenfeld 2010; Neuber und Weber 2022). In der Studie von Stender et al. (2021) wurde beispielsweise untersucht, ob eine hohe Einschätzung der Relevanz von Reflexion mit einem höheren Reflexionsniveau bei der Reflexion von Situationsvignetten zusammenhängt. Es zeigte sich ein schwacher Zusammenhang zwischen den Konstrukten.

2.2.2 Wissen über Klassenführung als kognitive Disposition

Aufschnaiter et al. (2019) beziehen in ihrem theoretischen Modell das Wissen als reflexionsbezogene Disposition mit ein, fokussieren dabei aber vor allem Wissen über Reflexion. In aktuellen Studien wurde dieses Modell empirisch erweitert um die Relevanz des Professionswissens. So stellten beispielsweise Vogelsang et al. (2022) einen Zusammenhang zwischen dem allgemein-pädagogischen Wissen von Physiklehramtsstudierenden mit ihrer Reflexionsfähigkeit vor Beginn des Praxissemesters fest. Auch bei Stender et al. (2021) zeigte sich, dass das bildungswissenschaftliche Wissen die Reflexionsperformanz von Lehramtsstudierenden signifikant vorhersagen konnte.

Andere Studien zum Zusammenhang zwischen Wissen und reflexionsbezogenen Denkprozessen kommen zumeist aus dem Bereich der professionellen Wahrnehmung und fokussieren fachdidaktische Aspekte (u. a. Mathematik und Naturwissenschaften: Blömeke et al. 2014; Meschede et al. 2017; Yang et al. 2021). In einer aktuellen Längsschnittstudie konnten Blömeke et al. (2022) zeigen, dass das mathematische und mathematikdidaktische Wissen signifikant die Fähigkeit, das Unterrichtsgeschehen zu interpretieren und Handlungsalternativen zu generieren, voraussagen konnten. Gold und Holodynski (2017) stellten ebenfalls einen moderaten Zusammenhang zwischen dem Wissen über Klassenführung und den Prozessen Beschreiben und Interpretieren von klassenführungsspezifischen Situationen fest. Zudem benötigen Lehramtsstudierende Wissen über Klassenführung, um klassenführungsspezifische Situationen zunächst einmal wahrnehmen zu können (Wolff 2015), bevor sie diese dann reflektieren können (siehe 2.3).

In der vorliegenden Studie beziehen wir uns ebenfalls auf das Wissen über Klassenführung als möglichen Prädiktor für reflexionsbezogene Denkprozesse. Das Wissen über Klassenführung zählt dabei zum allgemeinen pädagogischen Wissen (Voss et al. 2015) und kann definiert werden als „teacher’s specific knowledge and skills related to the challenge of managing a classroom“ (König und Kramer 2016, S. 142). Nach Anderson und Krathwohl (2001) lassen sich verschiedene Wissensdimensionen unterscheiden (deklaratives, konzeptuelles, prozedurales und metakognitives Wissen), die auf einem Kontinuum von konkret (deklarativ) bis abstrakt (metakognitiv) liegen. Während sich deklaratives Wissen auf Begriffs- und Faktenwissen bezieht (Anderson und Krathwohl 2001; Lenske et al. 2015), handelt es sich beim konzeptuellen Wissen um vielfach vernetztes Begriffswissen, welches in Form von Klassifikationen, Konzepten oder Schemata sichtbar werden kann (Anderson und Krathwohl 2001). Als anwendungsbezogenes Wissen gilt das konditional-prozedurale Wissen (Lenske et al. 2015).

In einer aktuellen Studie konnten Junker et al. (2021) zeigen, dass das standardisiert erfasste Wissen über Klassenführung (kognitive Disposition) bei Lehramtsstudierenden nicht mit dem standardisierten Beschreiben und Interpretieren von klassenführungsspezifischen Situationen korrelierte, während es bei Lehrkräften im Berufseinstieg einen signifikant positiven Prädiktor darstellte. Für das Wissen über Klassenführung wurden die Werte für deklaratives und konditional-prozedurales Wissen kombiniert.

In anderen Studien wurde das konzeptuelle Wissen inhaltsanalytisch erfasst, indem überprüft wurde, inwieweit die Probanden in der Lage sind, Fachbegriffe zu nennen und ihre Aussagen in übergeordnete Konzepte einzubetten (siehe Weber et al. 2020; Schwindt 2008). Nach Schwindt (2008) zeichnen sich Lehramtsstudierende durch differenziertes (deklaratives) Wissen aus, bei gleichzeitiger eingeschränkter Unterrichtserfahrung. Hierdurch ist bereits das Herausfiltern relevanter Unterrichtssituationen (selektive Wahrnehmung) kognitiv anspruchsvoll und Studierende neigen dazu, Einzelereignisse ausschließlich zu beschreiben und nicht in theoretisch fundierte Konzepte einzubetten.

Zusammenfassend zeigt sich eine inkonsistente Befundlage, die auf die Relevanz weiterer Forschung in diesem Bereich und eine differenzierte Betrachtung verschiedener Wissensdimensionen wie z. B. deklaratives und konzeptuelles Wissen verweist.

2.3 Reflexionsbezogene Denkprozesse

In der Reflexionsforschung wird ein enger Zusammenhang zwischen Denkprozessen und Performanz vermutet. So wird beispielsweise angenommen, dass sich reflexionsbezogene Performanz in der Verschriftlichung der Denkprozesse zeigt, anhand derer wiederum auf die dahinter liegenden reflexionsbezogenen Denkprozesse geschlossen werden kann (z. B. Kücholl und Lazarides 2021; Stender et al. 2021). Auch Aufschnaiter et al. (2019) betonen, dass der reflexionsbezogene Denkprozess „beobachtbare Anteile enthalten kann (z. B. als Verbalisierungen und Verschriftlichungen), die insbesondere in Forschungskontexten eingefordert und genutzt werden, um die Reflexionsprozesse zu untersuchen“ (S. 152). Dennoch geben sie zu bedenken, dass der Begriff Performanz doppeldeutig ist, da er auch auf der konkreten Verhaltensebene im Unterricht sichtbar werden kann. In der vorliegenden Studie verwenden wir daher den Begriff reflexionsbezogene Denkprozesse.

Während sich reflexionsbezogene Dispositionen vor allem durch Selbstberichte oder Wissenstests erfassen lassen, können reflexionsbezogene Denkprozesse, wie bereits dargelegt, durch verbale oder schriftliche Artefakte sichtbar gemacht werden. Zudem können Unterrichtsvideos als Reflexionsstimulus genutzt werden, um reflexionsbezogene Denkprozesse Studierender zu erfassen (u. a. Stahnke und Blömeke 2021; Weber et al. 2022).

Die Qualität reflexionsbezogener Denkprozesse wird in empirischen Studien oftmals anhand von Stufenmodellierungen oder auch Reflexionsaktivitäten erfasst (Kücholl und Lazarides 2021; Weber et al. 2022). Zur Operationalisierung dienen entsprechend unterschiedliche Phasen bzw. Handlungsabfolgen der Reflexion (u. a. Dewey 1933; Korthagen und Wubbels 2002), wie beispielsweise die Phasen Beschreiben, Bewerten und Entwicklung von Handlungsalternativen (Seidel und Stürmer 2014; Schwindt 2008; Stender et al. 2021; Vogelsang et al. 2022; Weber et al. 2020). Während die selektive Wahrnehmung der eigentlichen Reflexion vorgelagert ist und den Ausgangspunkt für die Reflexion darstellt (Kilimann et al. 2020), kann das Beschreiben als erster Schritt der wissensgesteuerten Verarbeitung beschrieben werden. Das Beschreiben dient einer „Um- oder Neustrukturierung des Wahrgenommenen“ (Kilimann et al. 2020, S. 334) und soll einem vorschnellen Bewerten entgegenwirken. Nach dem Beschreiben erfolgt die vertiefte Auseinandersetzung mit der Unterrichtssituation, indem gelungene und nicht gelungene Aspekte bewertet werden und auf Basis dieser Bewertung Handlungsalternativen generiert werden.

Studien aus dem Bereich der Expertiseforschung zeigen, dass Lehramtsstudierende weniger in der Lage sind, klassenführungsspezifische Situationen zu interpretieren und Handlungsalternativen zu generieren als erfahrene Lehrkräfte (u. a. Stahnke und Blömeke 2021). Bezüglich der Reflexion fremder, aber auch eigener Unterrichtsvideos zeigen andere Studien ebenfalls, dass Lehramtsstudierende größtenteils auf einer Ebene des Beschreibens (Schwindt 2008; Weber et al. 2022) oder auf der Ebene des Bewertens (Stender et al. 2021) verbleiben, was möglicherweise daran liegen könnte, dass Lehramtsstudierende über zu wenig Wissen (kognitive Disposition) verfügen oder eine geringe Reflexionsbereitschaft (affektiv-motivationale Disposition) mitbringen.

3 Fragestellungen und Hypothesen

Um Aussagen über die selektive Wahrnehmung, die wissensgesteuerte Verarbeitung klassenführungsbezogener Situationen sowie das konzeptuelle Wissen über Klassenführung treffen zu können, erfolgte in der vorliegenden Studie eine inhaltsanalytische Untersuchung schriftlicher videobasierter Reflexionen von Lehramtsstudierenden. Die Reflexionsbereitschaft sowie das deklarative Wissen über Klassenführung wurden standardisiert erhoben. Um zu überprüfen, ob die Reflexionsbereitschaft sowie das Wissen über Klassenführung (reflexionsbezogene Dispositionen) Prädiktoren für die selektive Wahrnehmung sowie die wissensgesteuerte Verarbeitung klassenführungsbezogener Situationen (reflexionsbezogene Denkprozesse) darstellen, wurden die Auswertungen der inhaltsanalytischen Untersuchung in ein numerisches Rating transformiert und in den quantitativen Datensatz integriert (siehe 4.3.5). Folgende Fragestellungen und Hypothesen liegen der Studie zugrunde:

  1. 1.

    Wie viele klassenführungsbezogene Ereignisse nehmen die Studierenden wahr (selektive Wahrnehmung) und wie hoch ist der Fokussiertheitsgrad der Reflexionen?

Im Gegensatz zu erfahrenen Lehrkräften nehmen Lehramtsstudierende weniger klassenführungsbezogene Situationen wahr (Stahnke und Blömeke 2021). Wir gehen daher davon aus, dass die Lehramtsstudierenden in der vorliegenden Studie beim Reflektieren des fremden Videos nur eine begrenzte Anzahl der möglichen klassenführungsbezogenen Situationen wahrnehmen. Zudem haben Lehramtsstudierenden mit wenig Unterrichtserfahrung Schwierigkeiten damit, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren (Wolff 2015). Entsprechend erwarten wir einen geringen Fokussiertheitsgrad der Reflexionen.

  1. 2.

    Welche Phasen der wissensgesteuerten Verarbeitung durchlaufen die Studierenden beim Reflektieren fremden Unterrichts?

Studien, die das Reflexionsniveau von Lehramtsstudierenden beim Reflektieren fremder Videos (Weber et al. 2022) oder beim Reflektieren von schriftlichen Situationsvignetten (Stender et al. 2021) untersuchten, konnten zeigen, dass die Mehrheit der Reflexion auf der Ebene des Beschreibens oder Bewertens verbleibt (siehe 2.3). Im Gegensatz zu der Studie von Stender et al. (2021) erhielten die Studierenden in unserer Studie ein authentisches Unterrichtsvideo als Reflexionsstimulus, sodass sich hier andere Befunde zeigen könnten. Dennoch erwarten wir, dass die meisten Studierenden klassenführungsspezifische Ereignisse eher beschreiben und bewerten anstatt Handlungsalternativen zu generieren.

  1. 3.

    Können reflexionsbezogene Dispositionen (deklaratives Wissen über Klassenführung und Reflexionsbereitschaft) die selektive Wahrnehmung sowie die wissensgesteuerte Verarbeitung vorhersagen?

Basierend auf theoretischen Annahmen (Aufschnaiter et al. 2019; Blömeke et al. 2015) und aktuellen empirischen Befunden (Blömeke et al. 2022; Stender et al. 2021) gehen wir davon aus, dass sowohl das Wissen über Klassenführung (UV) als auch die Reflexionsbereitschaft (UV) der Studierenden die selektive Wahrnehmung (AV) sowie die wissensgesteuerte Verarbeitung (AV) klassenführungsbezogener Ereignisse vorhersagen können. Bezogen auf die selektive Wahrnehmung (AV) vermuten wir, dass Lehramtsstudierende deklaratives Wissen über Klassenführung (UV) benötigen, um klassenführungsspezifische Unterrichtssituationen wahrnehmen zu können (Schwindt 2008). Um diese Situationen wissensgesteuert verarbeiten zu können, sollten Studierende zudem in der Lage sein, ihr Begriffswissen in Form von Klassifikationen und Konzepten zu vernetzen (Anderson und Krathwohl 2001), sodass wir erwarten, dass das konzeptuelle Wissen (UV) die wissensgesteuerte Verarbeitung klassenführungsbezogener Situationen (AV) vorhersagen kann.

4 Methode

4.1 Stichprobe

Insgesamt nahmen 211 Lehramtsstudierende (MAlter = 23,17, SDAlter = 3,69; 79,6 % weiblich) des vierten Bachelorsemesters an der Studie teil. Von diesen verfassten 193 Studierende schriftliche Reflexionen. Die Studierenden verfügten über keine (39,3 %) oder nur wenig Unterrichtserfahrung (45,5 % = 1–10 eigene Unterrichtsstunden; 8,0 % = 11–30 eigene Unterrichtsstunden; 7,1 % = über 30 eigene Unterrichtsstunden). Alle Studierenden studierten Grund‑, Haupt- und Realschullehramt und absolvierten am Ende des vierten Bachelorsemesters ihr erstes Unterrichtspraktikum. Im Kontext des Praktikums sollten die Studierenden ihre eigene Klassenführung sowie die Klassenführung ihrer Mitstudierenden reflektieren (siehe Kleinknecht und Weber 2020). Die Teilnahme an der vorliegenden Studie erfolgte im Rahmen eines Studienseminars zur Vorbereitung des Praktikums.

4.2 Design und Durchführung der Studie

Um theoretisch fundierte Reflexionsprozesse zu ermöglichen, erhielten die Studierenden im vierten Semester im Rahmen einer Vorlesung und einem begleitenden Seminar zum Thema „Didaktik und Methodik“ theoretischen Input zum Thema Klassenführung und führten themenbezogene Fall- und Videoanalysen durch (siehe Kleinknecht und Weber 2019, 2020). Dabei wurde Klassenführung im Sinne einer „engeren“ Definition thematisiert, d. h. es wurden die drei Klassenführungsfacetten „Allgegenwärtigkeit“, „Strukturierung“ und „Regeln und Rituale“ nach Hellermann et al. (2015) dargestellt und anhand der Fall- und Videoanalysen besprochen. Im Anschluss an die Lehrveranstaltungen erhielten alle Studierenden einen Link zu einem Online-Fragebogen. Nach einer kurzen standardisierten Einführung wurden die demographischen Angaben der Studierenden erfasst (z. B. Alter, Geschlecht, Unterrichtserfahrung, Erfahrungen mit Unterrichtsvideos, Vertrautheit mit Klassenführung). Im Anschluss beantworteten die Studierenden die Items zur Reflexionsbereitschaft und den Test zur Klassenführung (siehe 4.3.1 und 4.3.2) Danach wurde den Studierenden ein authentisches Video einer fremden Lehrkraft gezeigt. Alle Studierenden erhielten dasselbe Video. Das Video stammte aus dem Meta-Videoportal (https://unterrichtsvideos.net/metaportal/) und enthielt verschiedene Aspekte einer guten, aber auch suboptimalen Klassenführung. Bevor das Video gezeigt wurde, erhielten die Studierenden einen Input zu den drei Dimensionen der Klassenführung („Allgegenwärtigkeit“, „Strukturierung“ und „Regeln und Rituale“). Dieser Input basierte auf den Inhalten der Vorlesung und des Seminars und diente der Wiederholung und Sicherung des Wissens zum Thema Klassenführung. Weiterhin erhielten die Probanden Kontextinformationen zum Video (Unterrichtseinheit „Schwimmen und Sinken“, dritte Klasse, Inhalt und Ziel der Unterrichtsstunde). Danach durften die Studierenden das Video zunächst ohne konkrete Aufgabenstellung anschauen. Nachdem die Studierenden das Video angeschaut hatten, wurde ihnen die Aufgabe gegeben, das Video im Hinblick auf die drei Dimensionen der Klassenführung zu reflektieren („Reflektieren Sie das Video im Hinblick auf klassenführungsspezifische Situationen. Beziehen Sie sich dabei bitte auf die drei Dimensionen einer guten Klassenführung ‚Allgegenwärtigkeit‘, ‚Strukturierung‘ und ‚Regeln und Rituale‘. Beschreiben, Bewerten und generieren Sie Handlungsalternativen für jedes wahrgenommene Event“). Danach wurde das Video erneut abgespielt und die Studierenden wurden gebeten, ihre Reflexion zu verschriftlichen. Als Strukturierungshilfe diente dabei eine Tabelle, in der sie ihre Gedanken eintragen sollten (1 Spalte: Beschreiben, 2 Spalte: Bewerten, 3 Spalte: Handlungsalternativen generieren; es konnten maximal sechs Ereignisse eingetragen werden).

4.3 Instrumente und Datenanalyse

Die Reflexion klassenführungsbezogener Situationen fremden Unterrichts stellt einen komplexen Untersuchungsgegenstand dar, weshalb die Kombination quantitativer und qualitativer Methoden im Sinne von Mixed Methods besonders ertragreich scheint (Gläser-Zikuda et al. 2012). Die Untersuchung folgt dem Ansatz eines konvergenten Designs, indem qualitative und quantitative Daten parallel erhoben wurden (Kuckartz 2014).

4.3.1 Wissen über Klassenführung

Da es sich bei unserer Stichprobe um Lehramtsstudierende mit kaum Unterrichtserfahrung handelt, fokussieren wir in unserer Studie auf das deklarative Wissen über Klassenführung (standardisiert gemessen) sowie das konzeptuelle Wissen über Klassenführung (inhaltsanalytisch gemessen).

Das deklarative Wissen über Klassenführung wurde mit einem Instrument von Kurz und Lenske (2018) gemessen, welches das Wissen um Klassenführung erfasst. Die dazugehörigen Aufgaben bestehen mehrheitlich aus einem Itemstamm mit mehreren Antwortoptionen. Der Test zielt auf das unter 2.1 beschriebene Verständnis von Klassenführung ab. Ein Beispielitem zum Thema Regeln und Routinen lautete „Was sollte bei der Einführung von Regeln im Unterricht beachtet werden?“ und die Proband:innen sollen bei sechs Antwortoptionen (z. B.: Die Regeln sollten von der Lehrperson vorgegeben werden, um eine klare Struktur und Transparenz zu gewährleisten) bewerten, ob diese Antwort (eher) richtig oder (eher) falsch ist. Ein Beispielitem zum Thema Allgegenwärtigkeit lautete „Allgegenwärtig ist eine LP aus Sicht der Klassenführung unter anderem dann, wenn sie …“ (Beispielantwortoption: sich adäquat im Raum positioniert). Die endgültige Testpunktzahl wurde berechnet als Anteil der richtigen Antworten an der Anzahl der potenziell richtigen Antworten und reichte von 0 bis 1. Ebenso wie bei Bönte et al. (2021) weist der Test eine schlechte interne Konsistenz auf (α = 0,36).

Um zusätzlich das konzeptuelle Wissen über Klassenführung zu erfassen, wurden die schriftlichen Reflexionen (von n = 193 Studierenden vorliegend) in Anlehnung an Schwindt (2008) inhaltsanalytisch ausgewertet (deduktive Kategorienanwendung im Sinne einer Strukturierung, vgl. Mayring 2015). Dabei wurde für jedes wahrgenommene Ereignis geprüft, inwieweit dieses in übergeordnete Konzepte integriert und mit dazugehörigen Fachbegriffen beschrieben wird (siehe hierzu auch Weber et al. 2020). Die Klassifikation der Wissensbestände konnte drei Stufen einnehmen. Für jedes wahrgenommene Ereignis wurde eine Stufe vergeben, sodass sich eine ordinale Stufung ergab. Reflexionen, in denen die Studierenden die Ereignisse unter korrekter Nutzung der zugehörigen Fachtermini beschreiben und einordnen (z. B. Rituale, Sicherung, Allgegenwärtigkeit, Monitoring, Mobilisation usw.), wurden mit der Kategorie „Integration in Fachkonzepte“ [2] codiert. Dem Manual von Schwindt (2008) folgend, wurde die fehlerhafte Nutzung von Fachbegriffen sowie die Nutzung von alltagssprachlichen Begriffen auf einer Stufe innerhalb der Kategorie „Integration in Alltagskonzepte“ [1] kodiert. Wenn Einzelereignisse ohne inhaltliche Einordnung beschrieben werden, wurde die Kategorie „Einzelereignisse“ [0] vergeben. Die Intracoder-Übereinstimmung für die Kategorien zum konzeptuellen Wissen über Klassenführung liegt bei 81,02 %. Der Kappa-Koeffizient (nach Brennan und Prediger 1981) kann als gut beschrieben werden, κ = 0,72 (siehe Tab. 1).

Tab. 1 Mittelwerte, Standardabweichungen sowie Interkorrelationen der Konstrukte

Von den 450 wahrgenommenen Ereignissen wurden 77 unter korrekter Verwendung von Fachtermini in übergeordnete Konzepte eingeordnet (17,1 %). In 188 Darstellungen wurden Ereignisse alltagssprachlich beschrieben (41,8 %) und in 185 Situationsbeschreibungen wurde kein Bezug auf Fach- oder Alltagskonzepte genommen, sondern Ereignisse wurden ohne inhaltlichen Zusammenhang thematisiert (41,1 %). Die Studierenden erreichten im Durchschnitt die Stufe „Integration in Alltagskonzepte“ (Tab. 1).

4.3.2 Reflexionsbereitschaft

Die Reflexionsbereitschaft der angehenden Lehrkräfte wurde anhand von sieben Fragebogenitems erfasst, welche die generell empfundene Relevanz von unterrichtsbezogener Reflexion im Lehrberuf adressieren (Neuber und Göbel 2018). Die Skala „Relevanz von Reflexion im Lehrberuf“ wurde durch Mittelwertbildung über die jeweiligen Fragebogenitems (Beispielitems: „Ich halte das systematische Nachdenken über Unterricht für ausgesprochen wichtig“ oder „Meiner Einschätzung nach ist das Lernen von Reflexionsfähigkeit für die professionelle Entwicklung von Lehrpersonen sehr wichtig“) gebildet. Anhand einer vierstufigen Likert-Skala (1 = stimme gar nicht zu bis 4 = stimme voll und ganz zu) sollten die Befragten ihre Zustimmung ausdrücken. Die interne Konsistenz der Skala „Relevanz von Reflexion im Lehrberuf“ kann als akzeptabel (α = 0,75) eingestuft werden. Die affektive Komponente der Reflexionsbereitschaft ist im Mittel hoch ausgeprägt; so schätzen die Studierenden die Relevanz von unterrichtsbezogener Reflexion durchschnittlich als hoch ein (M = 3,30, SD = 0,43, siehe Tab. 1).

4.3.3 Selektive Wahrnehmung und Fokussierung klassenführungsbezogener Ereignisse

Ein zentraler Bestandteil der Online-Befragung war die Betrachtung einer authentischen Videosequenz aus dem Unterricht einer fremden Lehrkraft; diese Sequenz sollte anhand strukturierter Leitfragen mit offenem Antwortformat schriftlich reflektiert werden (siehe 4.2). Um die selektive Wahrnehmung zu erfassen, wurde gezählt, wie viele Ereignisse die Studierenden in ihren Reflexionen fokussierten. Dabei konnten die Studierenden maximal sechs Ereignisse in Bezug auf die Klassenführung der beobachteten Lehrkraft wahrnehmen.

Zudem wurde in Anlehnung an Gold et al. (2017) die Art der Fokussierung auf Klassenführung eingeschätzt (deduktive Kategorienanwendung im Sinne einer Strukturierung, vgl. Mayring 2015). Die Art der Fokussierung drückt aus, ob der Beobachtungsfokus der Studierenden auf eine der drei Facetten von Klassenführung ausgerichtet war. Reflexionen wurden als „fokussiert“ codiert, wenn darin Ereignisse oder Beobachtungen adressiert werden, die einen expliziten Bezug auf Aspekte der Klassenführung aufweisen. Dabei kann die Kategorie „fokussiert“ die Facetten Allgegenwärtigkeit (Verhaltensmanagement der Lehrkraft, z. B. Umgang mit Störungen, Positionierung im Klassenzimmer, positive Verstärkung, Beispielcodierung: „Unruhe und mögliche Streitsituationen bemerkt die Lehrkraft sofort und unterbindet diese.“), Strukturierung (Instruktionsmanagement, z. B. Gestaltung von Übergängen, klare Anweisungen, Mobilisierung der Gruppe oder Erklärungen der Lehrkraft; Beispielcodierung: „Die Verwendung von einfachen Worten zur Verdeutlichung ist hier sinnvoll.“) sowie Regeln & Rituale (z. B. Rituale bei Sanktionen oder für den Stundeneinstieg; Beispielcodierung: „Regeln für Gruppenarbeit/Experimente festlegen und für alle sichtbar festhalten.“) einnehmen (Gold et al. 2017). Als „nicht fokussiert“ wurden entsprechend Reflexionen eingeschätzt, in denen Ergebnisse oder Beobachtungen ohne expliziten Bezug auf die Facetten von Klassenführung thematisiert wurden (Beispielcodierung: „LK [Lehrkraft] lehrt forschendes Lernen.“).

Das Kodierschema wurde von zwei Kodiererinnen unabhängig voneinander angewendet. Die Intercoder-Übereinstimmung – als zentrales Gütekriterium der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2015) – liegt über alle Kategorien zur Art der Fokussierung auf Klassenführung bei 80,95 %. Der Kappa-Koeffizient (nach Brennan und Prediger 1981) kann als gut beschrieben werden, κ = 0,75.

4.3.4 Wissensgesteuerte Verarbeitung

Die wissensgesteuerte Verarbeitung wurde über die schriftlichen Reflexionen der Studierenden mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse mit deduktiver Kategorienanwendung (Strukturierung, vgl. Mayring 2015) erfasst. Dazu wurden die Reflexionen zunächst in thematische Einheiten (Analyseeinheiten) unterteilt. Insgesamt wurden die Reflexionen in 1413 Analyseeinheiten segmentiert; diese Analyseeinheiten wurden unter Nutzung des Programms MAXQDA 2022 (VERBI Software 2021) anhand des Kodierschemas von Lohse-Bossenz et al. (2018) in Hinblick auf die Reflexionsaktivitäten untersucht. Die Kategorie „Reflexionsaktivität“ konnte dabei die Stufen Beschreiben, Bewerten und Alternativen formulieren einnehmen. Das Kodierschema bezieht sich nur auf die Quantität der einzelnen Denkprozesse und nicht auf die Qualität bzw. die Güte oder Korrektheit der vorgenommenen Bewertungen und formulierten Handlungsalternativen.

Für jede Analyseeinheit wurde eine Stufe vergeben (Exklusivität; vgl. Döring und Bortz 2016) bzw. wurde eine Einheit nicht codiert, sofern keine der drei Reflexionsaktivitäten identifiziert werden konnte. Die Stufe Beschreiben wurde codiert, wenn ein wahrgenommenes Ereignis in Hinblick auf das Verhalten der Lehrkraft und/oder der Lernenden oder die Gestaltung der Lernumgebung objektiv beschrieben, aber nicht gedeutet, erklärt oder begründet wurde (Beispielcodierung: „Die Lehrkraft erklärt einem Schüler, dass zunächst die Aufgabenstellung gelesen werden soll.“). Analyseeinheiten wurden der Stufe Bewerten zugeordnet, wenn diese affektive, evaluative Äußerungen zur dargestellten Situation enthalten (Beispielcodierung: „Es fällt positiv auf, dass die Lehrkraft einen Überblick über die Schüler:innen hat, die sie alle scheinbar gleichzeitig ansprechen.“). Die Bewertungen können sich auf das wahrgenommene Ereignis allgemein oder auf die Handlungen der Lehrkraft und/oder der Lernenden beziehen. Die Stufe Alternativen formulieren wurde codiert, wenn eine Alternative für die Gestaltung der Lernumgebung oder für das Verhalten der fremden Lehrkraft formuliert wurde (Beispielcodierung: „Da viele Schüler:innen die Aufgabenstellung nicht richtig ausführen, wäre es sinnvoll, die Aufgabe noch einmal im Plenum zu besprechen.“). Bei der Codierung wurden stets vorangehende und nachfolgende Analyseeinheiten berücksichtigt, da sich einzelne Einheiten in ihrem Sinnzusammenhang möglicherweise erst vollständig mit den weiteren Einheiten erschließen. Die Intercoder-Übereinstimmung für 193 Reflexionen (18 Studierende legten keine schriftliche Reflexion vor) mit insgesamt 1413 Analyseeinheiten liegt bei 91,29 %. Der Kappa-Koeffizient (nach Brennan und Prediger 1981) lag im sehr guten Bereich, κ = 0,91 (siehe Tab. 1).

4.3.5 Datentransformationen und Analysen

Um die ersten beiden Forschungsfragen zu beantworten, werden die Ergebnisse der Datenanalyse deskriptiv im Sinne absoluter und relativer Codierhäufigkeiten dargestellt. Zudem wurden die qualitativen Daten zur wissensgesteuerten Verarbeitung in ein numerisches Rating transformiert und die Werte in einen quantitativen Datensatz integriert. Der Transformation in quantitative Daten liegt ein theoretisches Verständnis zugrunde, dem nach das Beschreiben als erster Schritt der wissensgesteuerten Verarbeitung und die Formulierung von Handlungsalternativen als Ziel dieser erachtet werden kann (vgl. 2.3). Die qualitativen Stufen der Kategorie „Reflexionsaktivitäten“ stehen somit in einem ordinalen Verhältnis zueinander und wurden entsprechend in das folgende numerische Rating transformiert: Beschreiben: 1, Bewerten: 2, Alternativen formulieren: 3. Die Werte wurden anschließend aufsummiert und durch die Anzahl der jeweils reflektierten Ereignisse geteilt. Daraus ergab sich ein numerischer Wert (Maximum: 6), der als Indikator für die Qualität der wissensgesteuerten Verarbeitung in den weiteren Analysen berücksichtigt werden konnte.

Auch die Kategorien zum konzeptuellen Wissen über Klassenführung stehen in einem ordinalen Verhältnis zueinander und wurden für die weiteren Datenanalysen in folgendes numerisches Rating transformiert: Integration in Fachkonzepte: 2, Integration in Alltagskonzepte: 1, Einzelereignisse: 0. Als Indikator für das konzeptuelle Wissen wurden die Werte aufsummiert und durch die Anzahl der jeweils reflektierten Ereignisse geteilt; die sich ergebenen Mittelwerte variieren somit zwischen 0 (entspricht der Beschreibung von Einzelereignissen) und 2 (entspricht der Integration in Fachkonzepte). Die Zusammenhänge zwischen den Konstrukten (Forschungsfrage 3) wird mithilfe nichtparametrischer Korrelationen (Spearman-Rho) dargestellt. Zur Beantwortung der vierten Forschungsfrage, inwiefern die reflexionsbezogenen Denkprozesse von kognitiven und affektiven Dispositionen erklärt werden können, wurden multiple Regressionsanalysen berechnet.

4.3.6 Deskriptive Kennwerte der Instrumente und Interkorrelationen

In Tab. 1 sind die deskriptiven Kennwerte der erhobenen Variablen aufgeführt sowie die Interkorrelationen der Konstrukte. Als Kontrollvariable haben wir zusätzlich erfragt, wie vertraut die Studierenden mit dem Thema Klassenführung sind (1 = gar nicht bis 5 = sehr vertraut). Hier zeigt sich zum einen, dass die meisten Studierenden eher vertraut mit dem Thema sind und dass diese subjektive Einschätzung mit allen erhobenen Variablen, außer der wissensgesteuerten Verarbeitung, signifikant positiv korreliert. Zudem hängen ebenso wie in der Studie von Stender et al. (2021) die Wissensdimensionen mit der Reflexionsbereitschaft zusammen und es zeigt sich ein zwar schwacher, aber signifikanter Zusammenhang zwischen dem deklarativen und dem konzeptuellen Wissen. Ebenso hängen die selektive Wahrnehmung und die wissensgesteuerte Verarbeitung negativ zusammen.

5 Ergebnisse

5.1 Selektive Wahrnehmung und Fokussierung klassenführungsbezogener Ereignisse

Die deskriptive Auswertung der schriftlichen Reflexionen verdeutlicht, dass mehr als ein Drittel der Studierenden lediglich ein klassenführungsbezogenes Ereignis reflektierten (n = 66, 31,3 %). Nur acht Studierende (3,8 %) nahmen mehr als vier von sechs möglichen klassenführungsbezogenen Ereignissen wahr und fokussierten diese in ihren Reflexionen. 18 Studierende (8,5 %) reflektierten kein Ereignis. Im Mittel lag die Anzahl an wahrgenommenen Situationen in den schriftlichen Reflexionen bei M = 2,33 (SD = 1,24). Die Auswertung der Art der Fokussierung auf Klassenführung in den wahrgenommenen Ereignissen (insgesamt N = 450) zeigt auf, dass die Studierenden in knapp zwei Drittel der Ereignisse auf die Dimension Allgegenwärtigkeit fokussieren (300 Codierungen; 66,7 %). Die Facette Strukturierung wurde in 118 Ereignisdarstellungen (26,2 %) und bei 38 wahrgenommenen Situationen (8,4 %) fokussierten die Studierenden die Dimension Regeln & Rituale. In Einzelfällen kam es zu Doppelcodierungen, da mehrere Facetten der Klassenführung im Fokus der jeweiligen Darstellung eines wahrgenommenen Ereignisses waren. 56 Situationsbeschreibungen (12,4 %) wiesen hingegen keinen Bezug auf eine Dimension der Klassenführung auf und wurden entsprechend als „nicht fokussiert“ codiert.

5.2 Wissensgesteuerte Verarbeitung klassenführungsbezogener Situationen

In Hinblick auf die wissensgesteuerte Verarbeitung konnte ein Maximalwert von 6 Punkten (abgeschlossener Reflexionsdreischritt) erreicht werden. Die deskriptiven Analyseergebnisse zeigen, dass die Studierenden in Abhängigkeit von der Anzahl der wahrgenommenen Ereignisse einen durchschnittlichen Wert von M = 4,79 (SD = 1,28) erreichen. Über alle sechs Ereignisse hinweg wurden insgesamt 415 Textstellen der Kategorie Beschreibung zugeordnet, 353 Textpassagen enthielten eine Bewertung und in 340 Textstellen waren Handlungsalternativen formuliert.

Beispiel für einen Reflexionsdreischritt (HEWE302, Pos. 1–3, Auslassungen durch die Autor:innen):

„Die Lehrkraft versucht den orientierungslosen Schüler*innen zum Arbeiten zu verhelfen, sie steht in der Ecke und spricht viele Kinder direkt an, u. a. Ferdi, der nicht so recht weiß, was zu tun ist. Er wirft immer wieder Material ins Wasser, ohne die Aufgabenstellung zu beachten. (…)

Die Lehrkraft hat die wuselige Ecke im Blick und versucht, durch direkte Instruktionen für mehr Ruhe zu sorgen. Das ist positiv. Negativ ist, dass sie versucht, jeden Einzelnen anzusprechen und gehetzt wirkt. (…)

Vielleicht würde es Ferdi helfen, ihn zu einer Gruppe zu setzen, die konzentriert arbeitet. (…) Die Lehrkraft könnte durch direkte Ansprache um Mithilfe der anderen orientierungslosen Schüler*innen bitten und gezielt Aufgaben verteilen.“

5.3 Der Einfluss von Wissen und Reflexionsbereitschaft auf die selektive Wahrnehmung und die wissensgesteuerte Verarbeitung

Die multiplen Regressionsanalysen zeigen, dass das deklarative Wissen über Klassenführung (UV) einen signifikanten Prädiktor für die selektive Wahrnehmung (AV) klassenführungsbezogener Situationen darstellt, während das konzeptuelle Wissen (UV) die wissensgesteuerte Verarbeitung (AV) vorhersagen kann (siehe Tab. 2). Das konzeptuelle Wissen (UV) ist zudem ein negativer Prädiktor für die selektive Wahrnehmung (AV). Die Reflexionsbereitschaft (UV) stellt keinen Prädiktor dar, hängt jedoch signifikant mit beiden Wissensdimensionen zusammen (siehe Tab. 1).

Tab. 2 Zusammenhänge zwischen den Konstrukten (lineare Regressionsmodelle)

6 Diskussion

6.1 Einordnung der Befunde

Die eingangs beschriebenen Modelle von Aufschnaiter et al. (2019) und Stender et al. (2021) beschreiben den Zusammenhang zwischen reflexionsbezogenen Dispositionen und Denkprozessen. Bislang gibt es keine Studie, die diese Zusammenhänge anhand videobasierter Reflexionen und mit Bezug auf Klassenführung untersucht hat. In der vorliegenden Studie wurde daher der Zusammenhang zwischen reflexionsbezogenen Dispositionen (Wissen über Klassenführung und Reflexionsbereitschaft) und reflexionsbezogenen Denkprozessen (Wahrnehmung und wissensgesteuerte Verarbeitung von klassenführungsbezogenen Situationen) empirisch geprüft.

Im Hinblick auf die erste Fragestellung zeigte sich hypothesenkonform, dass über die Hälfte der Studierenden nur ein bis zwei Ereignisse wahrnahmen; lediglich drei Prozent der Studierenden nahm mehr als vier Ereignisse wahr. Der Befund, dass Studierende nur einen Bruchteil der tatsächlichen Situationen wahrnehmen, kann durch die Expertiseforschung gestützt werden. Im Vergleich zu Lehramtsstudierenden (Noviz:innen) verfügen erfahrene Lehrkräfte (Expert:innen) über sogenannte Chunks (Doyle 1977) und Schemata (Peterson und Comeaux 1987), die durch Unterrichtserfahrungen aufgebaut werden und es ihnen ermöglichen, verschiedene Unterrichtssituationen schneller und genauer wahrzunehmen, zu analysieren und zu interpretieren (Blömeke et al. 2014; Wolff et al. 2015). Auch Stahnke (2021) unterstreicht, dass erfahrene Lehrkräfte mehr Situationen wahrnehmen als Noviz:innen. Die Lehramtsstudierenden in der vorliegenden Studie verfügten über kaum eigene Unterrichtserfahrungen, sodass davon ausgegangen werden kann, dass ihnen Chunks und Schemata fehlten, um alle klassenführungsbezogenen Situationen in dem Video wahrnehmen zu können. Es wurde erwartet, dass Lehramtsstudierende mit wenig Unterrichtserfahrung im Gegensatz zu erfahrenen Lehrkräften Schwierigkeiten damit haben, ihre Aufmerksamkeit auf relevante Situationen im Klassenzimmer zu lenken. Dies zeigte sich bspw. in der Studie von Wolff (2015), die Eye-tracking verwendete und damit zeigen konnte, dass die Blicke von Lehramtsstudierenden eher diffus und über das gesamte Klassenzimmer gestreut waren, während die von den erfahrenen Lehrkräften eher fokussiert und auf relevante Informationen gerichtet waren. In unserer Studie zeigte sich, dass die Studierenden zwar durchaus in der Lage waren, in ihren Reflexionen eine Facette der Klassenführung – insbesondere das Monitoring der Lehrkraft – zu fokussieren. Dennoch muss berücksichtigt werden, dass mehr als ein Drittel der Studierenden nur ein klassenführungsbezogenes Ereignis reflektierte. Dies deutet darauf hin, dass entweder noch zu wenig Wissen vorliegt und/oder der Blick auf das Unterrichtsgeschehen – wie in der Studie von Wolff (2015) beschrieben – noch recht diffus ist. Diese Annahmen werden auch dadurch gestützt, dass die Studierenden im Mittel lediglich 30 % der Punkte im deklarativen Klassenführungswissentest erzielten. Entsprechend scheinen die Studierenden noch über kein vernetztes Konstruktwissen (Schemata) zu verfügen, was den oben beschriebenen Erkenntnissen der Expertiseforschung entspricht (Peterson und Comeaux 1987).

Im Kontext des Expertiseparadigma zeigen Studien (u. a. Stahnke und Blömeke 2021; Wolff et al. 2015) zudem, dass erfahrene Lehrkräfte wahrgenommene Unterrichtsereignisse eher interpretieren und Handlungsalternativen generieren, während Noviz:innen diese Ereignisse lediglich beschreiben. Im Hinblick auf die Qualität der wissensgesteuerten Verarbeitung (Fragestellung 2) zeigte sich auch in der vorliegenden Studie, dass die Lehramtsstudierenden größtenteils Beschreibungen der wahrgenommenen Ereignisse vornahmen und weniger Handlungsalternativen generierten. Im Schnitt bewegten sich die Reflexionen auf dem Niveau des Bewertens, was unsere Hypothese sowie bisherige Erkenntnisse bestätigen kann (u. a. Stender et al. 2021).

Die Hauptfragestellung der vorliegenden Studie (Forschungsfrage 3) betraf den Einfluss kognitiver Dispositionen (deklaratives und konzeptuelles Wissen über Klassenführung) und affektiv-motivationaler Dispositionen (Reflexionsbereitschaft) auf reflexionsbezogene Denkprozesse von Lehramtsstudierenden. Hier zeigte sich hypothesenkonform, dass das deklarative Wissen über Klassenführung einen signifikanten Prädiktor für die selektive Wahrnehmung darstellt, während das konzeptuelle Wissen über Klassenführung die wissensgesteuerte Verarbeitung klassenführungsspezifischer Ereignisse vorhersagen kann. Lehramtsstudierende scheinen also deklaratives Wissen zu benötigen, um zunächst klassenführungsspezifische Ereignisse wahrnehmen zu können, müssen dann aber auch in der Lage sein, dieses Begriffs- und Faktenwissen vernetzen zu können (konzeptuelles Wissen) um die Ereignisse wissensgesteuert verarbeiten zu können.

Zudem zeigte sich ein negativer Zusammenhang sowohl zwischen dem konzeptuellen Wissen und der selektiven Wahrnehmung sowie auch zwischen der wissensgesteuerten Verarbeitung und der selektiven Wahrnehmung. Reflexionen, in denen zwar viele Ereignisse enthalten waren, enthielten zugleich kaum Textstellen, in denen diese Ereignisse in übergeordnete Konzepte integriert wurden oder auf einem entsprechenden Niveau der wissensgesteuerten Verarbeitung reflektiert wurden. Einseitige Testungen der Zusammenhänge zwischen den Variablen bekräftigen die gefundenen Korrelationen. Da es keine zeitlichen Restriktionen gab, kann ausgeschlossen werden, dass Zeitdruck hier eine Rolle spielte. Dieser Befund deutet darauf hin, dass diese Studierenden zwar mehr relevante Unterrichtssituationen wahrnehmen, allerdings noch nicht adäquat analysieren und interpretieren können. Die Studierenden scheinen Chunks für die Reflexion zu nutzen, die noch nicht in Schemata integriert sind (Doyle 1977; Peterson und Comeaux 1987). Dies zeigte sich auch in dem Expert:innen-Noviz:innen-Vergleich von Wolff et al. (2015). Im Gegensatz zu Expert:innen, setzten Noviz:innen verschiedene Unterrichtssituationen nicht in Verbindung, sondern betrachteten diese als voneinander losgelöste Ereignisse.

In der Studie von Junker et al. (2021) zeigten sich keine Zusammenhänge zwischen dem Wissen über Klassenführung und dem Beschreiben und Interpretieren klassenführungsspezifischer Ereignisse. Dieser Befund zeigte sich in unserer Studie ebenfalls für das deklarative Wissen. Beim konzeptuellen Wissen zeigten sich hingegen Zusammenhänge, was die Ergebnisse der Studie von Junker et al. (2021) erweitert und zudem die Relevanz des konzeptuellen Wissens (Anderson und Krathwohl 2001) für die Reflexion fremden Unterrichts betont. Inwieweit dieser Befund auch auf die Reflexion eigenen Unterrichts übertragen werden kann und welche Rolle prozedurales und metakognitives Wissen für Reflexionsprozesse spielt, müsste in weiterführenden Studien geprüft werden.

Die Reflexionsbereitschaft hatte hingegen keinen Einfluss auf die reflexionsbezogenen Denkprozesse. Hier lässt sich vermuten, dass Lehramtsstudierende, die einen generellen Nutzen in der Reflexion über Unterricht sehen, zwar stärker motiviert sein könnten zu reflektieren, aber dennoch Wissen und gegebenenfalls noch andere Dispositionen benötigen, um klassenführungsspezifische Ereignisse wahrzunehmen und wissensgesteuert zu verarbeiten. Bei der Interpretation der Ergebnisse sollte berücksichtigt werden, dass die Reflexionsbereitschaft, ebenso wie in der Studie von Stender et al. (2021), einen hohen Mittelwert und eine geringe Standardabweichung erreichte, was auf einen eventuellen Deckeneffekt oder den Effekt sozialer Erwünschtheit hindeuten kann. Insgesamt bestätigen und erweitern die Ergebnisse unserer Studie die Befunde von Stender et al. (2021).

In Abgrenzung zu der Studie von Stender et al. (2021), in der das bildungswissenschaftliche Wissen und die reflexionsbezogene Performanz mit Hilfe schriftlicher Situationsvignetten erfasst wurde, verwendeten wir als Reflexionsstimulus ein authentisches Video fremden Unterrichts und wählten einen engeren Reflexionsfokus (Klassenführung). Zudem war unsere Studie eingerahmt in ein Lehr-Lern-Setting, da Lehramtsstudierende ihre professionelle Kompetenz durch Annäherungen an die Praxis entwickeln sollten („approximations of practice“; Grossman und McDonald 2008, S. 190). Die Erhebung der Daten stellte somit gleichzeitig eine Trainingssituation dar, in der die Studierenden in einer geschützten Umgebung und ohne Handlungs- oder Prüfungsdruck, das Reflektieren von klassenführungsbezogenen Situationen üben konnten und dadurch zu einem erweiterten Verständnis pädagogischer Praxis gelangen sollten.

Diese Trainingssituation bereitete die Studierenden auch auf ihr erstes Unterrichtspraktikum vor, welches zwei Wochen nach Durchführung des Online-Tests stattfand. Im Praktikum sollten die Studierenden ihre eigene Klassenführung anhand eigener Videos oder schriftlich (erinnerungsbasiert) reflektieren (siehe hierzu auch Weber et al. 2018, 2020). In zukünftigen Studien könnte untersucht werden, inwieweit Studierende, die bereits bei der Reflexion fremden Unterrichts eine hohe Reflexionsqualität aufweisen, diese auch auf die Reflexion eigenen Unterrichts übertragen können. Hier könnte auch eine Interventionsstudie ansetzen, die mit einer Gruppe von Studierenden das Reflektieren anhand fremder Unterrichtsvideos trainiert, während eine andere Gruppe nur theoretisches Wissen zum Thema Reflexion erhält. Zudem sollte der Selbstbezug bei der Auswertung von Reflexionen über eigenen Unterricht miterfasst werden. Dieser wurde in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt, wodurch nur ein Teilprozess von Reflexion beleuchtet werden konnte.

6.2 Limitationen

Bei der Interpretation der Befunde muss auf einige methodische Limitationen hingewiesen werden. Diese betreffen zum einen die Erfassung des deklarativen Wissens, da sich hier nur eine geringe interne Konsistenz zeigte (vergleichbare Ergebnisse fanden sich auch bei Bönte et al. 2021 und Junker et al. 2021) und zum anderen die Erfassung der selektiven Wahrnehmung. Wir haben diese durch die Anzahl der wahrgenommenen Ereignisse gemessen. Auch in anderen Studien wurde dieser Ansatz gewählt, indem beispielsweise die Beschreibungen als selektive Wahrnehmung kodiert wurden (Stahnke 2021). Dennoch bleibt hier offen, ob die Studierenden nicht mehr Situationen wahrnehmen als sie dann beschreiben. In weiterführenden Studien sollten daher noch andere Methoden wie beispielsweise Eye-Tracking zum Einsatz kommen.

Bei der Erfassung der wissensgesteuerten Verarbeitung muss limitierend erwähnt werden, dass nur das Vorliegen der Teilprozesse (Reflexionsaktivitäten), aber nicht deren Qualität berücksichtigt wurde. Zusammenhänge könnten daher womöglich eher unterschätzt werden. In zukünftigen Studien sollte daher auch die Qualität der Bewertungen und Handlungsalternativen berücksichtigt werden. Eine weitere Limitation bezieht sich auf die Konfundierung der Variablen konzeptuelles Wissen und wissensgesteuerte Verarbeitung. Da beide Variablen auf Basis der schriftlichen Reflexionen erfasst wurden, kann der Zusammenhang auch methodisch bedingt sein. In künftigen Studien sollte daher das konzeptuelle Wissen im Vorhinein oder durch einen entsprechenden Wissenstest erfasst werden, um diese Konfundierung auszuschließen.

Auch die Erfassung der affektiv-motivationalen, reflexionsbezogenen Dispositionen stellt eine Limitation dar. Hier haben wir uns auf die affektive Komponente der Reflexionsbereitschaft fokussiert, die in der vorliegenden Studie durch die generell empfundene Relevanz von unterrichtsbezogener Reflexion im Lehrberuf erfasst wurde. Hierdurch wurden gegebenenfalls nicht alle affektiv-motivationalen Dispositionen abgedeckt und entsprechend sollten in zukünftigen Studien weitere affektiv-motivationale, reflexionsbezogene Dispositionen (z. B. reflexionsbezogene Selbstwirksamkeitserwartung) erfasst werden. Die Einbeziehung solcher Variablen könnte auch einen größeren Teil der interindividuellen Varianz der reflexionsbezogenen Denkprozesse erklären. Zudem stellt die Erfassung der reflexionsbezogenen Denkprozesse über schriftliche Verbalisationen ein grundlegendes Problem dar, da die Studierenden eventuell nicht alles verschriftlichen, was sie denken. Dies lässt sich auch durch die Aussage von Nückles (2021) unterstreichen, der betont, dass „teachers sometimes can do more than they can tell“ (S. 161). In zukünftigen Studien könnte entsprechend untersucht werden, inwieweit sich verbale reflexionsbezogene Denkprozesse von schriftlichen Reflexionsprodukten unterscheiden.

7 Fazit

Unsere Studie konnte aufzeigen, dass Studierende deklaratives Wissen über Klassenführung benötigen, um zunächst klassenführungsbezogene Ereignisse wahrzunehmen, während konzeptuelles Wissen eine Voraussetzung für eine höherwertigere wissensgesteuerte Verarbeitung darstellt. Es kann entsprechend angenommen werden, dass Studierende, die mehr konzeptuelles Wissen vorweisen, in ihrer Expertise Entwicklung schon fortgeschrittener sind. Expert:innen-Noviz:innen-Vergleiche verdeutlichen, dass Expert:innen auf stark vernetztes Wissen zurückgreifen können (Chunks und Schemata) und somit Unterrichtssituationen schneller wahrnehmen, analysieren und interpretieren können (Blömeke et al. 2014; Wolff et al. 2015). Diese Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die Reflexionskompetenz eng mit Unterrichtserfahrungen verknüpft ist. Durch Unterrichtserfahrungen können Lehramtsstudierende auch prozedurales Wissen aufbauen, welches eine Voraussetzung für die wissensgesteuerte Verarbeitung auf dem Niveau der Entwicklung von Handlungsalternativen darzustellen scheint (Junker et al. 2021). Neben eigenen Unterrichtserfahrungen, könnte die Einbindung eigener Unterrichtsvideos sowie die gemeinsame Reflexion dieser Videos mit Expert:innen Unterstützung bieten, um verschiedene Wissensdimensionen und damit auch reflexionsbezogene Denkprozesse zu fördern. So konnten erste Studien (u. a. Prilop et al. 2019) zeigen, dass das Reflexionsniveau von Studierenden durch die Reflexion eigener Unterrichtsvideos im Gegensatz zur erinnerungsbasierten Reflexion von eigenem Unterricht auch auf dem Niveau der Handlungsalternativen stärker gefördert werden konnte. Welche Rolle dabei die verschiedenen Wissensdomänen nach Anderson und Krathwohl (2001) spielen, sollte dabei in weiterführenden Studien geklärt werden.