1 Einleitung

Eines ist sicher: Ohne die PISA-Studien der OECD hätte sich kaum jemand auf dieser Welt für finnische Schulen interessiert! Seit der Veröffentlichung der ersten Studie, PISA 2000, am 4. Dezember 2001 (Deutsches PISA-Konsortium 2001) hat sich ein europaweites und darüber hinaus ein globales Interesse an der Geschichte der finnischen Schulreform und an ihren heute dokumentierten Erfolgen entwickelt. Dabei kann man zwei Gruppen von Ländern unterscheiden, aus denen seit der Veröffentlichung von PISA 2000 Schulpolitiker, Forscher, Schulbeamte, Lehrer und Eltern als willkommene Gäste nach Finnland kommen: Es sind einmal Länder, in denen seit Jahrzehnten über die Notwendigkeit von Reformen im Schulwesen gesprochen, in denen aber wenig getan wird; zum anderen sind es Länder, die ähnliche Reformwege wie Finnland beschritten haben und die bei internationalen Vergleichsstudien, wie Finnland, recht gut abgeschnitten haben. Zur ersten Gruppe sind Länder wie Deutschland und Österreich zu zählen, zur zweiten die anderen skandinavischen Länder und Länder aus dem fernöstlichen Raum wie Japan und Südkorea.

Die finnische Öffentlichkeit ist von den Ergebnissen der ersten PISA-Studie aus dem Jahre 2001 überrascht worden. Sie war nach der Veröffentlichung eher verwundert, nach den nachfolgenden Veröffentlichungen dann aber mehr und mehr davon überzeugt, dass man sich seit Jahrzehnten bei der Entwicklung des Schulwesens auf dem richtigen Wege befinde (vgl. Valijärvi et al. 2002, 2007; Hautamäki et al. 2008; Sarjala u. Häkli 2008; Kupialainen et al. 2009): von einem gegliederten oder parallelen Schulsytem hin zu einem integrierten System und zugleich von einer eher an der Lehre orientierten Schulkultur hin zu einer offenen, transparenten und demokratischen Lehr-Lern-Struktur. Dabei ist man in Finnland davon überzeugt, dass Bildung als ein lebendiger Prozess zu verstehen ist, der kein Ausruhen auf Lorbeeren erlaubt.

In meinem Essay werde ich zunächst einen historischen Rückblick geben, da hohe Lesekompetenz in Finnland eine Tradition hat, die bis in die Reformationszeit zurück verweist. Nachfolgend ist es mein Ziel, nachzuweisen, dass die Erfolge der finnischen Schüler in den PISA-Studien in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen ihre Begründung in Reformvorhaben auf der Ebene des Bildungssystems (Einführung der Gemeinschaftsschule) und auf der Ebene des Fachunterrichts haben (Lehrplanarbeit, Mathematikunterricht und naturwissenschaftlicher Unterricht, Förderung der Lesekompetenz. Synergieeffekte und Lehrerbildung). Dadurch soll deutlich werden, dass die finnischen Erfolge Effekt eines komplexen Zusammenspiels von Bedingungsfaktoren und konkreten Reformanstrengungen sind. Mein Essay schließt mit Überlegungen zur Zukunft des finnischen Bildungssystems.

2 Zur historischen Entwicklung

Die finnische Geschichte lässt erkennen, dass Bildung immer und uneingeschränkt allen Bevölkerungsgruppen und -schichten offen stand (vgl. Klinge 1990; Simola 2005). Dies zeigt sich schon an der Geschichte der Reformation in Finnland. Als Konsequenz aus der protestantischen Forderung des Laienpriestertums – jeder Christ in der evangelisch-lutherischen Tradition hatte das Recht, die Bibel zu lesen und zu deuten – erwuchs das Programm einer schulischen Reformation, in der die Unterrichtung aller Kinder verwirklicht wurde und die so eine finnische Volksbildung ermöglichte, in der dem Lesen als Basiskompetenz und der Kenntnis der finnischen Literatur als Voraussetzung für alles Lernen größte Bedeutung zukam. Noch heute kennt jedes finnische Kind das erste, 1543 erschienene Buch in finnischer Sprache, das ABC-Buch des Reformators Mikael Agricola (um 1509–1557), wobei es sich um eine Fibel, also um ein Lernbuch handelte und eben nicht um die Bibel, deren Übersetzung ins Finnische Agricola erst ein Jahr später veröffentlichte. Schon im Jahre 1686 wurde dann in das Kirchengesetz eine Vorschrift aufgenommen, die von Heiratswilligen eine Grundlesekompetenz verlangte. Und im Jahre 1723 folgte ein schwedisch-königlicher Beschluss, der Eltern unter Androhung einer Geldstrafe dazu verpflichtete, ihren Kindern das Lesen beizubringen und den man als Geburtsstunde der allgemeinen Volksbildung betrachten darf. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die finnischen Schulen in der damaligen Zeit, anders als in Deutschland, nicht durchgängig von der Kirche, sondern oft auch von den Bürgermeistern bzw. von den Gemeindevertretungen kontrolliert und finanziert wurden.

Finnland gehörte bis zum Jahre 1809 zum schwedischen Königreich und wurde danach als relativ unabhängiges Großfürstentum Russland angegliedert. Der junge Zar, Alexander II (1818–1881), forderte bei seinem Besuch in Helsinki im Jahre 1856 dazu auf, die Bildung des Volkes in den Provinzen auszubauen und mehr Schulen einzurichten. Die Idee hierzu soll von dem Ökonomen und Philosophen Johann Vilhelm Snellman (1806–1881) stammen, der als wichtigster Promotor der finnischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts gilt und der sich mit seinen Reformvorschlägen an Entwicklungen in Mitteleuropa, vor allem in Deutschland, orientierte. Ein Ergebnis der Aktivitäten war im Jahre 1866 die Einführung der Volksschule, die allen Bürgern eine Grundausbildung vermitteln sollte. Dem zuvor wurde im Jahre 1863 das erste Lehrerausbildungsseminar in Jyväskylä gegründet. Die ersten Absolventen dieses Seminars – 16 Volksschullehrer und 7 Volksschullehrerinnen – erhielten 1867 ihre Abschlusszeugnisse. Dem Seminar war eine Übungsschule angegliedert, die man damals, wie in Deutschland auch, als „Normalschule“ (Normen für die anderen Schulen setzende Schule) bezeichnete. Die Normalschule von Jyväskylä hatte erhebliche Bedeutung für die finnische Volksbildung, weil sie mit Bezug auf die Unterrichtsfächer und Lehrinhalte als Vorbild für die Volksschulen des Landes dienen konnte. Angemerkt sei, dass die Ausbildungs- und Übungsschulen der Universitäten in Finnland bis zum heutigen Tage „Normalschulen“ heißen.

Die Hauptverantwortung bei der Planung der neuen Volksschule hatte der Pfarrer, Pädagoge und Schulreformer Uno Cygnaeus (1810–1888), der zuvor in St. Petersburg und auf der Insel Sitka in Alaska als Lehrer und Schulleiter gewirkt hatte. Cygnaeus kann als eigentlicher Schöpfer der finnischen Volksbildung betrachtet werden. Für die Vorbereitung seiner Reform wurde er auf eine lange Studienreise nach Mitteleuropa geschickt, um hier die neuesten pädagogischen Strömungen und die unterschiedlichen Schulsysteme kennenzulernen. Cygnaeus wandte die neuesten mitteleuropäischen Erziehungsideen auf die Gestaltung der neuen finnischen Volksschule an: Der Unterricht sollte anschaulich sein, er sollte einen Bezug zum Lebensmilieu der Schulkinder herstellen und die altersabhängig unterschiedlichen Entwicklungsstände der Kinder berücksichtigen. Cygnaeus‘ eigener Beitrag zur Ausgestaltung des Curriculums der Volksschule war die – im Vergleich mit anderen europäischen Ländern sehr frühe – Einführung des Werk- und Handarbeitsunterrichts, ergänzt durch Zeichenunterricht und Gartenpflege. Diese praktischen Schwerpunkte im Curriculum der Volksschule, die von der Vorstellung getragen sind, dass es bei Erziehung und Bildung darum geht, eine Gesamtpersönlichkeit ganzheitlich zu förderen, finden sich bis in die Gegenwart hinein in den Stundentafeln der finnischen Schulen. Bis heute sind die Fächer Werken, Handarbeit, Hauswirtschaft und Gesundheitslehre für alle Schülerinnen und Schüler in der seit den 1970er-Jahren bestehenden Gemeinschaftsschule obligatorisch.

Über das Konzept einer gemeinsamen Schule für alle Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs ist in Finnland schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus gesellschaftspolitischer Perspektive diskutiert worden und in Helsinki wurde schon im Jahre 1956 im Stadtteil Käpylä eine Gemeinschaftsschule gegründet, deren erste Abiturienten im Herbst 1966 die weiße Studentenmütze und damit die Hochschulreife erhielten. Die Gründer dieser Reformschule – Touko Voutilainen, der von 1956 bis 1969 die Schule leitete, und andere Mitglieder des reformpädagogisch orientierten „Urania-Zirkels“ – wollten das damals noch bestehende parallele Schulsystem nicht akzeptieren. In diesem System wurden die Schüler nach vier Jahren Grundschule – wie bis heute in den meisten deutschen Bundesländern – auf der Basis von leistungsbezogenen Aufnahmeprüfungen und damit de facto nach ihrer sozialen Herkunft aufgeteilt in solche, die über kostenpflichtige Oberschulen zum Hochschulstudium gelangten, und solche, die nach dem Besuch der kostenlosen Volksschule eine berufliche Ausbildung absolvierten. Die Verfechter der gemeinsamen Schule für alle glaubten an die Lernfähigkeit des Menschen und betonten, dass man Schüler nicht in Begabte und Unbegabte einteilen könne, da alle Menschen mit Verstand auf die Welt kämen. Einen Unterschied gebe es nur in der Art und Weise, wie sie ihren Verstand verwenden und bezüglich der damit verknüpften Ziele.

Kennzeichnend für die Gemeinschaftsschule in Käpylä war ein Kurssystem mit Lernepochen, das der Gründungsschuleiter Touko Voutilainen schon in den Jahren 1950 und 1951 an der ländlichen Gemeinschaftsschule in Sysmä erprobt hatte und das in den 1980er-Jahren nach mehrjährigen Pilotversuchen an allen gymnasialen Oberstufen Finnlands eingeführt wurde.

Die Kritik der Mitglieder des Urania-Zirkels und anderer Reformpädagogen am alten System gründete teils auf philosophisch-ideologischen Aspekten, teils ergab sie sich aber auch aus praktischen Problemen, die innerhalb des alten Systems nicht zu lösen waren. Man kam dabei bald zu der Einsicht, dass Teilreformen im alten System zu nichts führen würden. Finnland sollte sich, davon war man überzeugt, von einem Schulsystem, das für eine Standesgesellschaft charakteristisch gewesen ist, trennen: Denn die fragwürdige Zweiteilung in Volksschule und Oberschule konnte man für eine agrarisch geprägte Gesellschaft noch einigermaßen begründen, aber spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg war infolge der Veränderungen der Wirtschaftsstruktur und der technischen Entwicklung die Zweiteilung der schulischen Grundbildung aus Sicht der Reformer nicht mehr haltbar gewesen. Die Anforderungen der Wirtschaft nahmen kontinuierlich zu, die zunehmende Internationalisierung verlangte mehr Fremdsprachen von allen Schülern eines Jahrgangs und zugleich wachsende Kompetenz im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich.

Zeichen dafür, dass Reformen anstanden, waren nicht zu übersehen. So erschien in „Helsingin Sanomat“, der größten finnischen Tageszeitung, am 29.12.1954 ein Artikel zur Schulpolitik, der wie folgt begann:

Für ein System einer gemeinsamen Schule für alle. – Zur Zeit wird mit allem Ernst über die Reform des Schulsystems diskutiert. Man denkt an eine sechsjährige Volksschule, auf der zwei weiterführende Schulen aufbauen sollten: Eine zweijährige allgemeinbildende Schule und eine dreijährige Mittelschule. Zur Zeit brechen etwa 5.000 Schüler die Mittelschule ab, die bereits ab Klasse 5 beginnt. Wenn man die Schüler zwei Jahre länger gemeinsam unterrichten würde, gäbe es ganz bestimmt weniger Schulwechsel als bisher. Eine gemeiname Schule brächte auch eine Stärkung der Erziehungsaufgabe mit sich. Eine Oberschule kann ihrer Natur nach nicht so erzieherisch wirken wie eine Schule für alle. Dazu kommt, dass praktische Fächer für alle Schüler erzieherisch wertvoll sind und die daraus erwachsenen Fertigkeiten sich bei einer längeren gemeinsamen Schulzeit wesentlich besser entwickeln, als wenn man Schüler schon nach der vierten Klasse trennt, wie es immer noch der Fall ist.

Parallel mit den Diskussionen in der bildungspolitisch interessierten Öffentlichkeit zur Gemeinschaftsschule setzte sich in den pädagogischen Diskussionen die Ablehnung des genetischen Determinismus durch. Man sah zwar Unterschiede zwischen den Schülern, aber man kam mehr und mehr zu der Überzeugung, dass unterschiedliche Lernleistungen nicht in erster Linie von genetischen Faktoren herrühren. Angemerkt sei, dass auch dies der pädagogischen Debatte in Deutschland entsprach, die hier aber erst zehn Jahre später einsetzte (Roth 1968).

Der lerntheoretische Umbruch führte in Finnland zu einer deutlichen Änderung im Einstellungsklima und in der Folge zur Aufforderung an Schulen und Lehrer, die sich wie folgt kurz zusammenfassen lässt: Schwache Lernergebnisse können nicht allein auf Probleme der Schüler reduziert werden.

Im Unterrichtsplan für die Grundschule aus dem Jahre 1970 hieß es dementsprechend:

„Insbesondere in der sogenannten aussortierenden Schule werden schwache Lernergebnisse der Schüler leicht als Folge ihrer schlechten Lernvoraussetzungen interpretiert. Es ist natürlich möglich, Schüler mit guten Leistungen auszulesen, indem man alle diejenigen, die unter einer definierten Punktzahl liegen, durchfallen lässt. Der Lehrer hat dann aber diejenigen Schüler ausgewählt, die mit den gerade von ihm verwandten Methoden am besten lernen. […] In der Grundschule, in der keine Aussortierung stattfindet, ist die Situation anders. Ein schwaches Lernergebnis des Schülers kann auch dadurch entstehen, dass die Verfahrensweise oder die Einstellung des Lehrers nicht geeignet ist“ (Kouluhallitus POP 1970, S. 159).

Ich fasse zusammen: Das gesellschaftliche Interesses an einer umfassenden Schulreform war in den 1960er-Jahren gegeben. Für die parlamentarische Mehrheit gab es dann im Frühjahr 1968 vor allem drei Motive für das integrierte Schulsystem:

  • Eine kostenfreie, gleichartige schulische Grundausbildung für alle Kinder eines jeden Schülerjahrgangs ist zu garantieren – und dies unabhängig vom Wohnort, von der sozialen Herkunft und der finanziellen Lage der Familien.

  • Das Bildungsniveau des ganzen Volkes soll nachhaltig angehoben werden.

  • Der notwendige gesamtgesellschaftliche Wirtschaftsaufschwung und der parallel dazu angestrebte höhere Lebensstandard sind nur möglich, wenn es ein neues Ausbildungssystem gibt.

Trotz des politischen Konsenses gab es vor allem von zwei Seiten erheblichen Widerstand gegen die Gemeinschaftsschule: Einmal waren es die Gymnasiallehrer und zum anderen die Elternschaft mit akademischer Bildung. Man befürchtete mit der Einführung des integrierten Schulsystems eine Leistungsnivellierung und dadurch eine Senkung des Niveaus im ganzen Bildungssystem. Nach heftigen Auseinandersetzungen wurde der Gesetzentwurf für das integrierte Schulsystem aber mit großer Mehrheit verabschiedet. Alle großen Parteien stimmten ihm zu.

Nach dem Parlamentsbeschluss für die Integration gingen noch einmal vier Jahre ins Land, bis man tatsächlich mit der praktischen Umgestaltung und Neuorganisation des Schulsystems begann; von 1972 bis 1977 wurde die Schulreform tatsächlich umgesetzt. Sie begann in Lappland und endete in der Hauptstadtregion.

Nach wenigen Jahren war die Kritik am neuen System grundsätzlich überwunden, wofür vor allem zwei Gründe zu nennen sind: Eine Niveausenkung war nicht sichtbar und es wurde deutlich, dass durch die Schulreform nicht einer Gruppe Bildung vorenthalten wurde, sondern dass jeweils dem ganzen Schülerjahrgang mehr Bildung abverlangt wurde. Die eigentliche Arbeit der Schul- und Unterrichtsentwicklung fing allerdings nach der äußeren Strukturreform erst in den 1970er-Jahren an (vgl. Pekonen 2002; Sarjala u. Häkli 2008).

3 Zentrale Aspekte des heutigen finnischen Schulsystems

Rückblickend erscheinen folgende Stationen und Phasen der Entwicklung des finnischen Schulsystems in den Jahren von 1960 bis in die Gegenwart als bedeutsam (vgl. Aho et al. 2006):

(1) Das finnische Schulsystem hat sich seit Mitte der 1970er-Jahre zielgerichtet in die Richtung eines integrativen Systems entwickelt und ist so zu einer Schule für alle geworden, die den Schülern ungeachtet ihres Geschlechts, ihres sozialen Hintergrunds und ihrer ethnischen Zugehörigkeit gleichwertige Bildungsmöglichkeiten garantiert, wie es die finnische Verfassung schon immer verlangt hat. Die Schulgesetzgebung wurde diesem Ziel entsprechend geändert.

(2) Neben der Schulstrukturreform war die umfassende Übertragung der Schulträgerschaft auf die Kommunen ein wichtiger Schritt. Nur einige wenige Sonderschulen sowie die Ausbildungsschulen der Universitäten blieben staatliche Schulen. Trotz kommunaler Trägerschaft folgten die Schulen aber einem gemeinsamen zentralen Lehrplan. In Mathematik und in den Fremdsprachen richtete man Niveaukurse ein. Die Unterrichtsentwicklung wurde landesweit durch ein Schulinspektionssystem kontrolliert.

(3) Im Jahr 1985 wurden die Niveaukurse abgeschafft, um für alle Schüler gleichwertige Bildungsgänge zu schaffen. Gleichzeitig hat man sich aber darum bemüht, durch ein erweitertes Unterrichtsangebot sicherzustellen, dass die Lerngruppen ausreichend klein blieben, wobei man jeweils den Unterricht für den ganzen Schülerjahrgang im Auge behielt. Die Schulträger und die Schulen erhielten erweiterte Möglichkeiten, über die Organisation des Unterrichts selbst zu entscheiden. Zehn Jahre nach der Abschaffung der Niveaukurse gingen so z. B. viele Schulen zum sogenannten flexiblen Gruppenunterricht über, bei dem unterschiedlich leistungsstarke Lerner in verschiedenen Lerngruppen arbeiteten, wobei aber der Wechsel von einer Gruppe in eine andere zu jeder Zeit, auch mitten im Schuljahr, und ohne formale Bestimmungen möglich wurde. Für die Zeugnisse galten dabei für alle Schüler dieselben Kriterien, unabhängig davon, in welchen Lerngruppen sie unterrichtet worden waren.

(4) Im Jahre 1994 kam es zu weiteren gewichtigen Veränderungen. Die zentrale Administration wurde für alle die Aufgabenbereiche abgebaut, in denen es um Unterrichtsinhalte und -ziele ging. Das Finnische Zentralamt für das Unterrichtswesen (Opetushallitus) gab nur sehr allgemeine auf die Unterrichtsfächer bezogene Ziele und Inhalte vor. Die Schulträger und letztlich die Schulen selbst konnten auf dieser Grundlage ihre eigenen Lehrpläne erarbeiten. In ihnen konnte man besser lokalen Verhältnissen Rechnung tragen und so von der besonderen Umgebung der Schule profitieren. Zu Beginn der 1990er-Jahre verzichtete man auch auf die Genehmigungspflicht für Schulbücher. Die zentrale Schulverwaltung vertraute mehr und mehr den Schulträgern und den Lehrern und ihrer Fähigkeit, die am besten geeigneten Lehrmaterialien anzuschaffen. Dies hatte zur Folge, dass sich ein freier Wettbewerb entwickelte und dass man sich auf Verlagsseite den Vorgaben der Lehrpläne mehr und mehr verpflichtet fühlte.

(5) Zu Beginn der 1990er-Jahre wurde dann auch die Schulinspektion abgeschafft, wobei es bemerkenswert ist, dass der Impuls dazu von den Schulinspektoren selbst kam, die der Meinung waren, dass eine Inspektion durch Außenstehende nicht im gewünschten Maße zur Qualitätsentwicklung der schulischen Arbeit beitragen könne. Um die nationalen Bildungsziele umzusetzen, verfolgte man statt dessen systematisch nationale und internationale Evaluationen der Lernergebnisse.

(6) Unmittelbar nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1917 hat Finnland ein Schulsystem aufgebaut, zu dessen charakteristischen Eigenschaften Konsens, kostenfreier Unterricht, Schulessen und sonderpädagogischer Unterricht nach dem Prinzip der Inklusion gehören. Ein Effekt dieser Entwicklungsarbeit ist, dass die Unterschiede zwischen den Schulen verhältnismäßig gering sind. Die Unterschiede können dadurch erklärt werden, dass man keine Rangfolge und keine Rankinglisten der Schulen erstellt; außerdem dadurch, dass man die sogenannten guten Lehrer gleichmäßig an allen Schulen findet.

(7) Besonders wichtig bezüglich der positiven Bewertung des Bildungssystems ist aus meiner Sicht, dass Finnland eine bis zum heutigen Tag ausgesprochen bildungsfreundliche Gesellschaft darstellt. 73% der 25- bis 64-Jährigen haben mindestens eine Prüfung des Zweiten Ausbildungsniveaus absolviert, was in Deutschland in etwa der Sekundarstufe II entspricht, und 33% haben eine Hochschul- oder Universitätsausbildung, was der höchste Anteil in der Europäischen Union ist. Der Abschluss der Schule für die Grundbildung (Peruskoulu, Klasse 1 bis 9) ist die Voraussetzung für weitere Bildungsgänge. Nur etwa 1% eines Schülerjahrganges bleibt ohne Abschlusszeugnis der Peruskoulu. Im vergangenen Schuljahr waren dies 250 von 60.000 Schulabgängern nach der 9. Klassenstufe. Über die Hälfte der Schüler ohne Peruskoulu-Abschluss holt nach einer bisher unveröffentlichten Langzeituntersuchung des Opetushallitus von 2007 diesen Abschluss auf irgendeine Weise später nach und schafft darüber hinaus weitere Qualifikationen.

(8) Insgesamt ist festzustellen, dass die Bildungsadministration in Finnland sehr eng und umfangreich mit den Lehrer-, Fachlehrer- und Schulleiterorganisationen des Landes zusammenarbeitet, was für Maßnahmen der Schulentwicklung eine gute Grundlage darstellt.

4 Reformprojekte zur Unterrichtsentwicklung

Nachfolgend konkretisiere ich die These, dass in Finnland günstige Bedingungen für die Schul- und Unterrichtsentwicklung bestehen, mit der Darstellung wichtiger Reformvorhaben der letzten Zeit.

4.1 Lehrplanarbeit

Die finnischen Schüler des 9. Schuljahres, die an der PISA-Studie im Frühjahr 2003 teilgenommen haben, wurden nach den Lehrplänen aus dem Jahre 1994 unterrichtet. Diese Grundlagen für die Lehrpläne übergaben den Kommunen und Schulen eine in der finnischen Schulgeschichte bisher noch nie gegebene Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Innerhalb sehr offen und kurz gefasster Rahmenbeschreibungen bekamen die Schulen die Aufgabe, ihre schuleigenen Lehrpläne zu gestalten und zu konkretisieren.

Ich konzentriere mich in der Darstellung jetzt auf Mathematik und die Naturwissenschaften.

Der Mathematikanteil in diesen Lehrplänen orientiert sich im Wesentlichen an Leitlinien, die von einer 1992 eingesetzten Planungsgruppe erarbeitet worden sind. Deren Gründung stellte eine Reaktion auf den internationalen Lernergebnisvergleich dar, der Ende der 1980er-Jahre durchgeführt worden war, die sogenannte Kassel-Studie: Auf deren Grundlage hat u. a. von 1987 bis 1989 das sogenannte Leikola-Komitee gearbeitet, das wiederum die Einsetzung einer speziellen Arbeitsgruppe für die Reform des Mathematikunterrichts empfohlen hat. Die Vorschläge dieser Arbeitsgruppe zielten

  • auf einen an Lernzielen orientierten Unterricht,

  • auf die Klassifizierung mathematischer Information,

  • auf die Wichtigkeit der Aneignung mathematischer Kenntnisse und die Bedeutung ihres operationalen Gebrauchs,

  • auf Problemlösungsstrategien und

  • ganz besonders auf die Bedeutung verschiedener Lernstile.

Viele der Vorschläge der Arbeitsgruppe sind im Jahre 1994 unverändert in die Grundlagen für die Lehrpläne (Standards) übernommen worden.

Die Entwicklung des naturwissenschaftliches Unterrichts wurde u. a. in den abschließenden Überlegungen des mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildungskomitees, des sogenannten Leikolan-Komitees, überprüft, das von 1998 bis 1999 gearbeitet hat. Außerdem gab es ein bedeutendes Protokoll der Evaluationsgruppe für den naturwissenschaftlichen Unterricht aus dem Jahre 1992. In den beiden Papieren wurde vorgeschlagen,

  • den naturwissenschaftlichen Unterricht in forschender und experimentierender Richtung weiter zu entwickeln,

  • den operativen Umgang mit Wissen zu stärken,

  • begriffliches Verstehen und die Umsetzung von Wissen und

  • naturwissenschaftliches Verständnis bei der Lösung von Umweltproblemen zu fördern.

4.2 LUMA 1996–2002 – ein mathematisch-naturwissenschaftliches Pilotprojekt

In Finnland gibt es im Bereich der schulischen Grundbildung (Klassenstufen 1 bis 9) 600.000 Schüler an knapp 4000 Schulen mit ungefähr 40.000 Lehrern, von denen 25.000 in irgendeiner Weise mit dem Fach Mathematik in der schulischen Grundbildung zu tun haben. Das Programm für das landesweite Entwicklungsprojekt Mathematik und Naturwissenschaften (LUMA) wurde 1996 vom Unterrichtsministerium veröffentlicht. Bereits ein Jahr zuvor war vom Zentralamt für das Unterrichtswesen (Opetushallitus) ein gemeinsames mathematisch-naturwissenschaftliches Projekt für allgemeinbildende und berufsbildende Schulen gestartet worden, an dem anfangs 24 finnischsprachige und 2 schwedischsprachige Pilotkommunen teilgenommen haben. Später wurde das Projekt um 80 Schulträger erweitert; hinzu kamen auch noch die Ausbildungsschulen der Universitäten.

Viele gesellschaftlich bedeutsame Persönlichkeiten und Gruppen waren an dem Projekt beteiligt, was der Sorge um eine genügend große Zahl von gut ausgebildeten Schulabsolventen in der Mathematik und den Naturwissenschaften entsprach. Man wollte sicherstellen, dass die finnischen Schüler bezüglich der Kenntnisse und Fertigkeiten in Mathematik und in den Naturwissenschaften in das beste Viertel der OECD-Länder aufsteigen und dass darüber hinaus die Motivation der Schüler für diese Fächer gestärkt würde. Nicht alle der im Projekt beschriebenen Ziele wurden erreicht, aber als es im Jahre 2000 noch einmal erweitert wurde, waren schon erste Anzeichen einer qualitativen Entwicklung zu spüren (unter anderem bei der Evaluation der Lernergebnisse im 6. Schuljahr im Jahre 2000; vgl. Opetushallitus 2001).

Der Erfolg der Projektarbeit von LUMA beruhte nach meiner Einschätzung:

  • auf einer effektiven Lehrerfortbildung,

  • auf umfangreicher Kooperation innerhalb des Netzwerkes,

  • auf der Erarbeitung von geeignetem Unterrichtsmaterial und

  • auf Unterstützung für die Weiterentwicklung des Projekts auf kommunaler Ebene.

Hilfreich war, dass Forscher, Lehrer, Beamte aus der Schuladministration und Experten der Industrie zusammenkamen und dass die Medien eine außerordentlich positive Einstellung zu Mathematik und Naturwissenschaften vermittelten.

Ein weiteres Ziel von LUMA bestand darin, Mädchen für Mathematik und den naturwissenschaftlichen Unterricht zu motivieren. Zwar hatten schon frühere landesweite Untersuchungen mehrfach gezeigt, dass es in Finnland bei den Lernergebnissen in Mathematik keine signifikanten geschlechtsspezifischen Unterschiede gab (vgl. Opetushallitus, Arvioinnin tulokset, jährlich). Es war aber bis dahin nicht gelungen, die Mädchen für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht stärker zu motivieren, was sich immer noch bei der Wahl für langen und vertiefenden Mathematikunterricht in der gymnasialen Oberstufe zeigt (Tilastokeskus, Lukio). Es ist meines Erachtens aufschlussreich, dass man an den Schulen, die am LUMA-Projekt teilgenommen hatten, bessere Erfolge verzeichnen konnte als an anderen Schulen.

Die besten praktischen Erfahrungen und Ideen, die man im LUMA-Projekt gewonnen hat, wurden bei der Erstellung der Grundlagen für die Rahmenlehrpläne (Standards) in den Jahren 2000 bis 2003 verwertet.

Obwohl Finnland von seiner Fläche her im europäischen Vergleich ein sehr großes Land ist, bestehen doch gute äußere Bedingungen für die Durchführung von schulischen Großprojekten. Die Schulen und ihre Lehrer verfügen über ein weit entwickeltes Kommunikationsnetz. Die Lehrer sind im Allgemeinen gerne bereit, bei Entwicklungsprojekten mitzuarbeiten, obwohl man nicht immer finanzielle Unterstützung gewähren kann. Ein Grund für diese positive Einstellung der Lehrer besteht sicherlich in der verbreiteten Motivation, das Ansehen des eigenen Unterrichtsfaches zu heben und sich ganz allgemein für die eigene Arbeit weiter zu qualifizieren. Ich merke an, dass ein schulisches Großprojekt wie LUMA in einem Land von der Größe Finnlands sicherlich leichter zum Erfolg zu führen ist als in Ländern mit einer wesentlich größeren Bevölkerungszahl und mit einer anderen Bevölkerungsstruktur.

4.3 Externe Evaluation im Fach Mathematik

In Finnland gibt es im Bereich der schulischen Grundbildung (Klassenstufen 1 bis 9) keinerlei Jahresabschlussprüfungen, aber das Zentralamt für Unterrichtswesen hat die Ergebnisse im Fach Mathematik in diesem Bereich in einer nationalen Evaluation für die Klassenstufe 9 regelmäßig überprüft – seit dem Jahre 1998 jedes zweite Jahr, also bisher bereits vier Mal; hinzu kommt seit kurzem eine Evaluation in der 6. Jahrgangsstufe. Man hat die Kompetenz der Schülerinnen und Schüler im Fach Mathematik in Bezug zu den in den Grundlagen für die Lehrpläne (Standards) vorgegebenen Zielen kontrolliert. Die Evaluation wurde mithilfe von repräsentativen Auswahlgruppen durchgeführt, aber die nicht einbezogenen Schulen hatten die Möglichkeit an allen Evaluierungen teilzunehmen, da sie die Evaluationsmaterialien beim Zentralamt für Unterrichtswesen bestellen konnten. Die Schulen und die Lehrer können so regelmäßig Auskunft über den Kompetenzstand ihrer Schüler im Vergleich zu anderen und im Verhältnis zu den landesweiten Ergebnissen erhalten. Auf der Basis dieser Informationen konnte man sowohl auf lokaler als auch auf regionaler Ebene Korrekturen für die Unterrichtsgestaltung in Angriff nehmen, wenn sich dafür Gründe ergeben hatten.

Die Evaluationsergebnisse passen zu PISA 2000, wo die finnischen Schüler bezüglich ihrer Gesamtleistung in Mathematik auf Platz 4 kommen (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 139–190, Abb. Nr. 3.12 auf S. 174).

4.4 Zur Förderung der Lesekompetenz

Gute Lesekompetenz verhindert Ausgrenzung und stellt die Voraussetzung für Lernerfolge in allen Bereichen dar. Die finnische Unterrichtsbehörde hat deshalb schon während der 1990er-Jahre die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler in den drei offiziellen Muttersprachen (Finnisch, Schwedisch, Samisch) in nationalen Evaluationen systematisch ausgewertet, obwohl bekannt war, dass sie gut war. Die Behörde hat dann in den späten 1990er-Jahren Lesekompetenz zum Hauptthema gemacht, nachdem sich in den Evaluationsergebnissen 1995 gezeigt hatte, dass sich das Niveau der Lesekompetenz der 8. Klassen nach unten bewegte. 1996 wurde ein Schulbibliotheksprojekt gestartet, 1997 wurde zum Lesekompetenzjahr erklärt und zwischen 2001 und 2004 wurde das Lese-Finnland-Pilotprojekt durchgeführt (vgl. auch Linnakylä 2002), auf das ich gleich näher eingehe. Der Verband der Zeitungsverleger, der Verband der Verleger der Wochenzeitschriften, der Verband der Muttersprachenlehrer, der Finnische Bibliothekenverband sowie einzelne Bibliotheken, die Finnische Schulbuchvereinigung sowie die Vertreter der Verlage haben sich zu einer verstärkten Förderung der Lesekompetenz verpflichtet. Man wollte schnell sicherstellen, dass die Lesekompetenz der Finnen nicht schwächer wird.

Bei der Auswertung der Ergebnisse des Zentralabiturs im Jahr 1996 wurde gleichfalls ein Niveauverlust festgestellt, was zu einer heftigen öffentlichen Diskussion geführt hat, durch die die Bedeutung einer hohen Kompetenz in der Muttersprache noch einmal bewusst geworden ist.

Trotzdem gehörten die finnischen Jugendlichen, wie in PISA 2000 ausgewiesen, zu den besten Lesern der Welt (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001: Die Tabelle 2.6, S. 102, zeigt, dass Finnland auf Platz 2 bezüglich der sehr guten und sehr schwachen Leser steht. Tabelle 2.11 auf S. 106 zeigt, dass Finnland in der Gesamtskala Lesen auf Platz 1 rangiert.). Auf die historischen Wurzeln dieser Leistung habe ich zu Beginn hingewiesen. Die Spitzenergebnisse ergaben sich vor allem durch die ausgezeichnete Lesekompetenz der Mädchen. Aber auch die Jungen zählten zu den besten Lesern der OECD-Staaten, obwohl der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen in Finnland am größten unter allen Teilnehmer-Staaten ist. Außerdem unterstützt man in Finnland Schüler mit schwachen Leseleistungen so effektiv, dass die Gruppe der Schüler mit den schwächsten Leseleistungen unter allen OECD-Ländern am kleinsten ist.

4.5 Zum Pilotprojekt Lese-Finnland

„Lese-Finnland“ war der Name eines fakultativen Pilotprojekts des Finnischen Zentralamts für das Unterrichtswesen in den Jahren 2001 bis 2004 (vgl. Linnakylä 2002). An dem Projekt nahmen 69 Kommunen, sechs Ausbildungsschulen der Universitäten sowie eine Schule in staatlicher Trägerschaft teil. Das Projekt begann im Mai 2001 mit einem Startseminar, an dem 250 Personen teilgenommen haben. Ziel des Projekts war die Verbesserung der Lese- und Schreibkompetenz aller Schülerinnen und Schüler in den Gesamtschulen und gymnasialen Oberstufen. Beteiligt waren jeweils die Schulleitungen, Vertreter aller Unterrichtsfächer und die gesamte Lehrerschaft.

Worum ging es? Man war mit etwa einem Fünftel der dokumentierten Kompetenzen in der Muttersprache nach den Ergebnissen in den nationalen finnischen Evaluationen nicht zufrieden, obwohl die PISA-Studie 2000, wie eben erläutert, die Lesekompetenz der finnischen Schüler als die beste aller OECD-Staaten herausgestellt hatte. Die Unterschiede zwischen einzelnen Schülern waren aus der Perspektive der Beteiligten zu groß, die Jungen waren besonders in der muttersprachlichen Lesekompetenz wesentlich schwächer als die Mädchen. Vor allem die Fähigkeit, aus Gelesenem Schlüsse zu ziehen und dabei auch kritisch zu lesen, fällt den Schülern schwerer als den Schülerinnen.

Die Teilnehmer am Pilotprojekt arbeiteten in sechs Feldern mit folgenden Zielsetzungen:

  • Entwicklung des Lehrplanes aller Fächer, um die Lese- und Schreibkompetenz sowie das literarische Wissen zu verbessern, wofür die Lehrer aller Unterrichtsfächer zusammen gearbeitet haben,

  • Verbesserung der Grundfertigkeiten Lesen und Schreiben als Kooperation zwischen allgemeinem Unterricht und Unterricht für Schüler mit Förderbedarf,

  • Entwicklung der Schulbibliotheken und Zusammenarbeit zwischen Schule und Bibliothek, wobei die Bibliotheksmitarbeiter auch in den Schulen mitarbeiten (Leseanimateure, Lesekoffer),

  • Förderung von Autorenlesungen,

  • Förderung des schlussfolgernden und kritischen Lesens und

  • Förderung der Befähigung zum Verfassen unterschiedlicher Textformen und Schreiben lernen in allen Unterrichtsfächern.

Dabei stellten sich die folgenden konkreteren Zielsetzungen und methodischen Verfahren als besonders wichtig heraus:

  • Gezielte Förderung des schwächsten Fünftels der Schülerschaft,

  • Verbesserung der Lesekompetenz von Jungen und Entwicklung von speziellen Methoden, Jungen zum Lesen zu motivieren,

  • Ermunterung der Schülerinnen und Schüler, selbst auszuwählen: Jugendliteratur, Zeitungen, Medientexte,

  • Bessere Kenntnis der Kinder- und Jugendliteratur auf Seiten der Lehrer,

  • Förderung der Fähigkeit der Lehrer, Kinder mit einer anderen Muttersprache sowohl in Finnisch als Zweitsprache als auch in der eigenen Muttersprache zu unterrichten,

  • Förderung der Bereitschaft, in der Schule und in der Freizeit zu schreiben,

  • Förderung der Kooperation zwischen Schule und Elternhaus,

  • Förderung des zielgerichteten Lesens auf höherem Niveau.

Die finnische Regierung hat, wie oben erläutert, die Stundentafel für den grundbildenden Schulunterricht im Jahr 2001 genehmigt. Sie ist gemeinsam mit den neuen Lehrplänen im Jahr 2005 in Kraft getreten. In der neuen Stundentafel wurden die Minimalstunden für Mathematik und den Muttersprachenunterricht um eine bzw. zwei Stunden erhöht. Gleichzeitig wurde die Stundentafel neu geordnet.

Die Standards der Lehrpläne legen den Schwerpunkt auf Lesen und Schreiben als strategische Fertigkeiten. Dabei ist den Lehrern freigestellt, welche Methoden zum Einsatz kommen. Die Bewertung und die Notengebung sind „weich“. Es gibt eine Vielfalt von Lehrmaterial; jeder Lehrer kann sich sein Lehrmaterial selbst aussuchen.

Es ist bekannt, dass gerade die Lesekompetenz stark durch außerschulische Faktoren beeinflusst wird, vor allem durch die familiale Lesepraxis. Auch in dieser Hinsicht sind die Bedingungen in Finnland günstig. Die Finnen schätzen das Lesen ganz allgemein (Abonnement von Zeitungen, Vorlesen zu Hause); es wird weithin anerkannt, dass die Lesekompetenz Grundlage für alle anderen schulischen Lernerfolge ist. Die Medien haben dabei aktiv mitgearbeitet. Außerdem ist es sehr hilfreich, dass es in Finnland ein flächendeckendes Netz von Bibliotheken gibt und dass die Bibliotheken sehr gut ausgestattet sind. Finnische Familien benutzen fleißig Bibliotheken (Zeitungen, Bücher, Internet). Dabei zeigt sich, dass die soziale Stellung der Mutter gerade für die Mädchen ein wichtiges Modell darstellt. Finnische Frauen haben allgemein eine hohe Schulbildung, sind berufstätig und lesen mehr als Männer.

Angemerkt sei, dass das finnische Fernsehen viele ausländische Programme mit finnischen Untertiteln zeigt, was dazu führt, dass Kinder und Jugendliche beim Fernsehen auch lesen, was vor allem die Lesegeschwindigkeit fördert.

4.6 Synergie-Effekte durch andere Projekte

In den vergangenen Jahren hat man in Finnland einen Schwerpunkt auf die Erforschung von Lernschwierigkeiten gelegt und versucht, aus diesen Ergebnissen Nutzen für die praktische Unterrichtsarbeit zu ziehen. Die ergriffenen Maßnahmen bildeten den Schlüssel für bessere Lernergebnisse schwacher Lerner. Man hat erfolgreich Lernblockaden abgebaut und so vielen Schülern zu mehr Selbstvertrauen verholfen.

Zugleich haben Anstrengungen der Schulen im Bereich der Schülerfürsorge (obligatorischer Ausschuss an jeder Schule, berät einmal in der Woche: Schulleiter, Lehrer, Gesundheitsbetreuung, Psychologe, Sozialarbeiter, Sonderpädagoge, Schullaufbahnberatung) es den Lehrern erleichtert, sich auf das Unterrichten zu konzentrieren. Interessanterweise hat sich dabei gezeigt, dass für den Erfolg im Mathematikunterricht die Fertigkeiten im Bereich Lesen und Schreiben sehr wichtig sind. Viele Entwicklungsprojekte, welche die Kompetenz der Schüler in diesen Bereichen erhöht haben, haben sich gleichzeitig positiv auf die Entwicklung der mathematischen Kompetenz ausgewirkt.

4.7 Zur Bedeutung der Lehrerausbildung

In Finnland verlangt man sowohl von Klassenlehrern (Grundschullehrer für die Klassenstufen 1 bis 6) als auch von Fachlehrern den höheren Hochschulabschluss (Magister). Obwohl der Beruf des Mathematiklehrers wahrscheinlich nicht zu den beliebtesten Berufen unter jungen Menschen zählt, haben sich bisher immer hoch motivierte Studenten gefunden, die die Studienrichtung Mathematik für die Schule gewählt haben. Offene Stellen für Mathematiklehrer konnten in Finnland bisher immer mit Lehrern besetzt werden, die für diese Aufgabe die entsprechende Ausbildung und Eignung mitbringen.

Besonders die Fort- und Weiterbildung der Klassenlehrer zu Fachlehrern für Mathematik war bisher sehr beliebt. Außerdem wählen immer mehr Studenten mit der Studienrichtung Klassenlehrer als Schwerpunktfach die Mathematik. Obwohl diese Klassenlehrer nie als Fachlehrer in den oberen Klassenstufen unterrichten werden, bedeutet die breite und kompetente Fachbeherrschung viel für die Entwicklung des mathematischen Denkens bei den Grundstufenschülern.

In nächster Zeit wird in Finnland allerdings ein großer Teil der Lehrer in Pension gehen. Es wird nicht leicht sein, den dadurch entstehenden Lehrermangel durch Fortbildung und Zusatzqualifikationen auszugleichen.

5 Die Zukunft der schulischen Bildung

Ich habe dargelegt, was im finnischen Schulsystem schulorganisatorisch (Einführung der Gemeinschaftsschule) und was in zwei zentralen Unterrichtsbereichen (Mathematik und naturwissenschaftlicher Unterricht, Lesen) initiiert wird, um die Unterrichtsqualität und die Lernleistungen der Schüler zu stärken und weiter zu entwickeln. Die Ergebnisse sind aus meiner Sicht ein Zeichen dafür, dass das finnische Schulsystem effizient ist und sich um alle Schülerinnen und Schüler in gleicher Weise kümmert.

Das finnische Schulsystem ist in der Vergangenheit zielgerichtet verbessert worden; die Ergebnisse dieser Arbeit sind klar zu erkennen. Zurück zu einem parallelen Schulsystem will niemand, was nicht ausschließt, dass ständig offen und kritisch über Erreichtes und über noch ausstehende Ziele diskutiert wird. Aus meiner Sicht können auf diesem Fundament zwei Probleme der Schul- und Unterrichtsentwicklung zukünftig ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Das erste betrifft die Frage, wie man auf die Herausforderungen der globalen Migration reagieren kann. Das zweite ist eng mit dem ersten verflochten. Es geht um die Mittel und Möglichkeiten einer individuellen Förderung.

Kinder mit Migrationshintergrund erhalten während des Vorschuljahres in den größeren Städten und Kommunen zentral organisierten Unterricht in Finnisch als Fremdsprache und als Zweitsprache, um sie für den Schulbeginn so zu stärken, dass sie am allgemeinen Unterricht aktiv teilnehmen können. In kleineren Kommunen wird der Förderunterricht entsprechend organisiert. Die Schülerinnen und Schüler mit einer anderen Muttersprache erhalten während ihres Vorschuljahres etwa 600 Stunden Finnischunterricht. Der Förderunterrichtsbedarf hat seit Mitte der 1990er-Jahre ständig zugenommen. Heute gibt es in Helsinki Schulen, an denen fast die Hälfte der Schüler einen Migrationshintergrund hat.

Für die individuelle Förderung dieser und aller anderen Schüler mit Förderbedarf gibt es an allen Schulen des Landes Ausschüsse für Schülerfürsorge. Sie kommen mindestens einmal pro Woche zusammen. Ihre Mitglieder sind: der Schulleiter, die Klassenlehrer und die Fachlehrer. Schulpsychologen, Gesundheitsfürsorger, Sonderpädagogen, Kuratoren, Schullaufbahnberater, die Eltern und, falls notwendig, Ärzte oder Neurologen. Beschlüsse von Sondermaßnahmen können nur mit dem Einverständnis der Eltern umgesetzt werden.

Derzeit ist die Arbeit an den Grundlagen für neue Rahmenpläne, die 2013 in Kraft treten sollen, in vollem Gange. Zentrale Bereiche werden sein:

  • neue Lernumgebungen

  • individuelle Förderung aller Begabungen und

  • Weiterentwicklung der Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Bedarf

Zusammenfassend kann man feststellen, dass in Finnland seit Beginn der großen Strukturreform in den 1970er-Jahren und der Entwicklung einer Lernkultur, die sich an deren Zielen orientiert, permanent an der schulischen Qualitätsentwicklung gearbeitet worden ist, und zwar sowohl auf der politisch verantwortlichen Ebene als auch auf dem Hauptschauplatz schulischer Bildung, in den schulischen Einrichtungen vor Ort. Ich gehe deshalb davon aus, dass auch die Kooperation des Finnischen Zentralamts für das Unterrichtswesen mit den lokalen Schulträgern und den Schulen wesentlich zu den hohen Leistungsständen beigetragen hat, die in den PISA-Studien evaluiert worden sind.

Ich komme zum Schluss. Mit dem Titel meines Beitrags habe ich beansprucht, dass das hohe Niveau des finnischen Schulsystems nicht einen Mythos darstellt, sondern in fundierten Schulreformprojekten begründet liegt. Wie diese Projekte realisiert worden sind und dass sie erfolgreich waren, habe ich dargestellt. Angesichts der zukünftigen Herausforderungen ist abschließend dennoch zu fragen, ob nicht vielleicht beide Seiten, der Mythos und die fundierte Reform, die Wirklichkeit des finnischen Schulsystems kennzeichnen. Ob die finnischen Schülerinnen und Schüler ihre Spitzenposition in den Basiskompetenzen auch zukünftig halten können, ist deshalb eine offene Frage.