1 Eine kuriose Debatte kurz skizziert

Für hilfreiche Anregungen, kritische Kommentare und die produktive Diskussion dieses Beitrags danken wir Wolfgang Knöbl, Stefan Kühl, den zwei anonymen Gutachter*innen sowie der ORDEX Forschungsgruppe, insbesondere Thomas Hoebel, Laura Fiegenbaum und Dennis Firkus.

In einer der wichtigsten Debatten der deutschsprachigen Gewaltforschung warf Trutz von Trotha (1997) vor allem quantitativ arbeitenden Kolleg*innen vor, dass diese gar keine Soziologie der Gewalt, sondern nur eine Soziologie der Ursachen der Gewalt betreiben würden. Sein programmatischer Vorschlag war, von Warum- auf Wie-Fragen umzustellen und so Analysen anhand dichter Beschreibungen im Sinne von Clifford Geertz (1973) anzufertigen. Peter Imbusch hielt die daran anschließende Debatte zwischen den nach Ursachen forschenden „Mainstreamern“ und den selbst ernannten „Innovateuren“ der Gewaltforschung (Nedelmann 1997) u. a. deshalb für „kurios“, weil echter Austausch gar nicht stattfände – es handele sich um ein „Geistergespräch“ zwischen zwei Fronten, deren Grenzen „äußerst unscharf“ seien (Imbusch 2004, S. 125 ff.).

Mehr als 20 Jahre später haben wir es mit einer ähnlich kuriosen Debatte zu tun, in der sich über die Grenzen situativer Gewaltforschung gestritten wird. Heute wie damals bleibt unklar, welche Grenzen wer gegenüber wem aus welchem Grund zieht, „weil häufig übereinander, selten jedoch miteinander gesprochen wird“ (Imbusch 2004, S. 127). Initiiert wurde dieser situative Drift der Gewaltforschung 2008 mit der Erscheinung von Randall Collins’ Monografie Violence, in der er eine mikrosoziologische Theorie der Gewalt entwickelt.Footnote 2 Collins formuliert selbstbewusst den Allgemeinheitsanspruch, jede Form von Gewalt über die Interaktionsdynamiken der Kontrahent*innen erklären zu können – unabhängig von sog. Hintergrundfaktoren wie „Armut, Rassendiskriminierung, familiäre Zerrüttung, Misshandlung und Stress“ (Collins 2011a, S. 36). In Konfrontationssituationen entstehe stets Anspannung und Angst, weil die Anwesenden den im Alltag üblichen solidarischen Interaktionsrhythmen zuwiderhandeln (Collins 2011a, S. 35). Sein Kernargument ist, dass es zu physischer Gewalt nur dann kommt, wenn die Täter*innen in einem hinreichenden Maße emotionale Dominanz aufbauen, mit der sie diese Barriere aus Konfrontationsanspannung und -angst überwinden können (Collins 2011a, S. 51).

Den an Collins anschließenden Situationist*innen (z. B. Klusemann 2012; Nassauer 2019) wird vorgeworfen, unter einer „Kontextlosigkeit“ zu leiden und so explanatorisches Potenzial auf der Strecke zu lassen (v. a. Sutterlüty 2015, 2017). Es wird problematisiert, dass Hintergrund- oder Kontextfaktoren allein zwar Gewalt nicht erklären können, diese Faktoren die Gewaltsituation vor Ort aber maßgeblich beeinflussen (Knöbl 2019, S. 37). In der aktuellen Debatte wird jedoch ähnlich wie damals gerne vergessen, welchen Einfluss die gewählte Beobachtungsskala auf die Forschungsergebnisse hat. Nach Dominique Desjeux (1996) basieren Konflikte innerhalb von Denkschulen meist darauf, dass die Autor*innen übersehen, dass ihre Ergebnisse anhand unterschiedlicher Beobachtungsskalen erstellt wurden und eigentlich gar nicht miteinander konkurrieren. Desjeux (1996, S. 52) macht den Einfluss von Beobachtungsskalen metaphorisch am Beispiel der Fokuseinstellung eines Fotoapparats deutlich. Es gäbe immer nur einen Bereich, in dem ein scharfes Bild entstünde – werde die Fokuseinstellung verändert, ändere sich auch der gewählte Bildausschnitt. Die Aussagefähigkeit von Forschungsergebnissen sei deshalb immer nur auf jenen Bereich begrenzt, den die gewählte Beobachtungsskala einfängt. Dass Forschungsergebnisse skalenabhängig sind, werde in kritischen Auseinandersetzungen oftmals wenig reflektiert, so dass Forschungsergebnisse unterschiedlicher Beobachtungsskalen miteinander verglichen werden (Desjeux 1996, S. 45). Debatten, wie sie aktuell in der soziologischen Gewaltforschung unter dem Stichwort „Situationismus“ stattfinden, sind somit auch Zeugnis einer sich weiterentwickelnden Disziplin, in der skalenabhängig unterschiedliche methodische und theoretische Zugänge angewandt und weiterentwickelt werden.

Würde die aktuelle Gewaltforschung nicht einem „zerklüfteten Felsen“ ähneln, „dessen Bewohner sich in verschiedene Felsspalten zurückgezogen haben“ (Hoebel 2019, S. 100 in Anlehnung an Scott 2004), könnte somit glatt auffallen, dass mikrosoziologische Analysen und Forschungen zu Kontextfaktoren einander gar nicht ausschließen, sondern ergänzen (ähnlich Groenemeyer 2016, S. 67). Statt situations- und kontextzentrierte Ansätze weiter gegeneinander zu profilieren, möchten wir zumindest einige der Felsenbewohner*innen unter einer integrativen Perspektive miteinander ins Gespräch bringen. Die Diskussion hat aus unserer Sicht einen Stand erreicht, in der es nicht mehr darum gehen sollte, auf die zweifellos bestehenden Inkonsistenzen der collinsschen Theorien hinzuweisen, sondern Wege aufzuzeigen, wie diese behoben werden können.

Unser Vorschlag ist, die Analyse von Kontexten nicht nur – wie es Axel Groenemeyer (2016, S. 67 f.) vorschlägt – als „Erweiterung mikrosoziologischer Analysen“ aufzufassen, sondern explizit in die mikrosoziologische Analyse zu integrieren und beide Perspektiven konsequent zu verknüpfen. Unter Kontexten verstehen wir im Anschluss an Ulf Tranow (2018, S. 24, 30) alle in Frage kommenden „Umweltbedingungen“, die eine situative „Handlungsrelevanz“ aufweisen (können), wobei die Relevantsetzung möglicher Kontexte als Konstruktionsleistung der Forscher*innen verstanden wird, die aus einer spezifischen „problem- und theorierelativen Perspektive“ auf das Geschehen schauen. Um indexikale Verweise auf relevante Kontexte im Material zu entdecken, ist es in diesem integrativen Ansatz unverzichtbar, der Analyse detaillierte mikrosoziologische Rekonstruktionen zugrunde zu legen.

Den aufkommenden diagnostischen Stimmen, die der situationistischen Gewaltforschung attestieren, dass diese „ihren Zenit mittlerweile überschritten hat“ (Hoebel und Malthaner 2019, S. 8), möchten wir somit widersprechen. Stattdessen plädieren wir dafür, die collinssche Gewaltforschung nicht auf ihr vermeintlich situationistisches Argument zu reduzieren, sondern auch das kontextsensible Potenzial ernst zu nehmen, das die Theorie in sich birgt. Damit schließen wir an aktuelle Veröffentlichungen an, die entsprechende Perspektiven einer mikrosoziologisch orientierten Gewaltforschung aufzeigen (siehe v. a. die Beiträge der Sonderhefte von Hartmann 2017; Hoebel und Koloma Beck 2019; Hoebel und Malthaner 2019; Malešević und Loyal 2019).

Zunächst werden wir den aktuellen Trend hin zur einer kontextsensibleren Gewaltforschung nachzeichnen und zeigen, dass es sich bei dem vielseits attestierten Vorwurf der Kontextignoranz der mikrosoziologischen Gewalttheorie vor allem um ein Rezeptionsproblem infolge theoretischer Grabenkämpfe handelt (Abschn. 2). Im Anschluss werden wir auf der Basis von zwei exemplarischen Fallstudien illustrieren, wie eine kontextsensible Mikrosoziologie der Gewalt forschungspraktisch umgesetzt werden kann (Abschn. 3), um daraus zukünftige Weiterentwicklungen der mikrosoziologischen Gewaltforschung abzuleiten (Abschn. 4).

2 Die vermeintliche Kontextlosigkeit der mikrosoziologischen Gewaltforschung

Jüngst äußerte sich Collins persönlich dazu, wo er die Grenzen situativer Gewaltforschung verortet. In einem Interview mit Eddie Hartmann stimmte er diesem „uneingeschränkt“ zu, „dass man die soziale Situation, aus der unter Umständen eine gewalttätige Begegnung wird, nicht auf die raumzeitliche definierte Anwesenheit der Akteure begrenzen kann“ (Collins 2019a, S. 60 f.). Er führt weiter aus, dass eine vollständige Erklärung selbstverständlich „multikausal“ angelegt sei, und neben der situationistischen Analyse „natürlich auch die Hintergrundbedingungen, die sozialen Bedeutungen und das Handlungsrepertoire“ berücksichtigt werden müssten, wobei es eine „rein pragmatische oder strategische Frage“ sei, welchem Bereich man sich zuwende (Collins 2019a, S. 60, 64). Die Frage, welche Beobachtungsskala er selbst für seine Forschung wählt, beantwortete er bereits auf den ersten Seiten seiner Studie Dynamik der Gewalt durchaus pragmatisch: Er werde nach Daten suchen, die „so nah wie möglich an die Dynamik“ gewaltsamer Situationen heranführen (Collins 2011a, S. 9). Ihm ginge es um die Erforschung von Mikrodynamiken, folglich müsse hierfür der „Rest“ ausgeklammert werden (Collins 2011a, S. 58). Er fokussiert somit die leibliche Interaktion, in der es zu Gewalt zwischen den Anwesenden kommen kann, wodurch transsituative Elemente in den unscharfen Randbereich seiner Forschungen geraten.

Dieser Ankündigung zum Trotz finden sich innerhalb der Monografie mehrere Kapitel, in denen er transsituative Elemente explanatorisch einbezieht. Genau genommen handelt es sich hier um Inkonsistenzen seiner Theorie, da er mit dem selbst gewählten Fokus bricht, ohne die Erweiterung seiner Beobachtungsskala theoretisch zu kontrollieren. Zwei prägnante Beispiele finden sich in den Passagen zu häuslicher Gewalt oder zu Riots während eines Straßenfests. Bei häuslicher Gewalt handele es sich, so Collins, um Lernprozesse, in denen die Beteiligten über Interaktionsritualketten die Rolle des Aggressors oder des Opfers habitualisierten (Collins 2011a, S. 202 ff.). Wie auch Laura Wolters (2019a, S. 196) kürzlich feststellte, wird die Gewalt hier „aus beziehungsspezifischen Dynamiken“ erklärt, wobei die zugrundeliegenden Interaktionsritualketten „durch Normen und innergesellschaftliche Konventionen beeinflusst sind“. Die kontextsensible Erweiterung seiner Argumentationslinie liegt hier wohl auch in den zur Verfügung stehenden Daten begründet. Während Collins in anderen Fallbeispielen Fotos oder Videos nutzt, also Daten, die in der Situation selbst entstehen und das Geschehen konservieren, nutzt er hier sowohl Gerichtsakten als auch Rekonstruktionen der Beteiligten, die transsituative Lernprozesse abbilden können (Collins 2011a, S. 202, 219 ff., 227 f.). Ein weiteres Beispiel findet sich in Passagen über Riots während eines Straßenfestes, die Collins als „moralische Auszeiten“ bezeichnet, bei denen die Anwesenden keine Strafverfolgung durch die Polizei fürchteten (Collins 2011a, S. 360). Trotz dieser enthemmten Situation stellt Collins fest, dass Bars nicht beschädigt werden und sexualisierte Gewalt verpönt ist – bestimmte moralische Tabus demnach bestehen bleiben und den Situationsverlauf beeinflussen (Collins 2011a, S. 362). Es finden sich noch viele andere Beispiele, bei denen Collins explizit Kontextfaktoren benennt, ohne diese theoretisch zu integrieren.

Eddie Hartmann (2019, S. 41) argumentiert, dass die „zu Recht beschworene Gefahr eines reduktionistischen Situationismus“ weniger aus Collins’ Feder stamme, als vielmehr eine Folge dessen sei, wie seine Theorie interpretiert und forschungspraktisch umgesetzt werde. Dieser Befund mag diejenigen überraschen, die Collins auf Passagen reduzieren, in denen er seinen Fokus auf Mikrointeraktionen betont und dabei regelmäßig hervorhebt, dass das Geschehen vor der Konfrontationssituation „nicht der Schlüssel dafür [ist], ob und wie die Menschen kämpfen werden“ (Collins 2011a, S. 36). Hier liegt aus unserer Sicht tatsächlich ein Rezeptionsproblem vor, richten sich diese Passagen doch vor allem gegen theoretische Erklärungsversuche, die erfolgreiche Gewaltausübung über die entsprechende Motivation der Akteur*innen begründen. Auf Motivationen basierende Erklärungen lehnt Collins vor allem deswegen ab, weil sie davon ausgingen, dass es den Anwesenden leichtfalle, Gewalt auszuüben, solange sie entsprechend motiviert wären (Collins 2011a, S. 36). Diese Annahme hält er für falsch, da alle Wege in die Gewalt letztlich das Nadelöhr der Konfrontationssituation passieren müssten, die auch von hochmotivierten Gewalttäter*innen interaktiv bewältigt werden müsse (Collins 2011a, S. 16). Dennoch sieht er die Möglichkeit einer „mehrere Ebenen umfassenden Theorie […], die Hintergrund- und Situationsbedingungen miteinander kombiniert“, wobei er lediglich sein Augenmerk zunächst auf die Mikromechanismen richte (Collins 2011a, S. 37, 58). Wenngleich die referierten Passagen zu häuslicher Gewalt und zu Riots die transsituativen Elemente eher kursorisch und vor allem theoretisch nicht systematisch einbeziehen, zeigt sich hier eine generelle Aufgeschlossenheit seiner Theorie für kontextsensible Analysen, die sich nicht zuletzt auch in seinem Gesamtwerk widerspiegelt.Footnote 3

Im Anschluss an Collins’ Monographie hat sich eine ganze Schule mikrosoziologisch inspirierter Gewaltforschung entwickelt, wobei eine Vielzahl empirischer Fallstudien entstanden ist. Ein Großteil der Studien konzentriert sich auf die Anwendung seiner Theorie und überträgt sie auf Fälle wie die Massaker während des Bosnienkrieges und in Ruanda (Klusemann 2012), den sog. „Bloody Sunday“ in Nordirland (McCleery 2016), die Gewalt in den Townships Johannesburgs (Gross 2016), gewaltsame Demonstrationen in Deutschland und den USA (Nassauer 2019) oder Jugendgewalt (Jackson-Jacobs 2013; Weenink 2015), um nur einige zu nennen. Nach und nach mehren sich auch kritische Stimmen, die bspw. den pazifistischen Kern der Theorie (Mann 2019), das Konzept der emotionalen Energie (Greve 2012; Wolters 2019a), den „Anwesenheitsbias“ (Hoebel und Malthaner 2019, S. 8), die fehlende Sensibilität für soziale Ordnungen (Groenemeyer 2016) oder für soziale Systeme (Kühl 2014, S. 324, Fn. 63), die Unschärfe des Situationsbegriffs (Cooney 2009, S. 592; Schützeichel 2019) oder den fehlenden Link zu politischen Ideologien (Malešević 2019, S. 12) bemängeln.Footnote 4

Einer der schärfsten Kritiker ist Ferdinand Sutterlüty (2015, 2017). Er diagnostiziert, dass durch die Situationsfixierung außer Acht gelassen werde, „was Akteure bereits an Erfahrungen, Deutungsmustern und Dispositionen in die Situation mitbringen“, und beanstandet neben dieser sozialen Entbettung der Akteur*innen das mechanistische Gewaltverständnis der Situationist*innen (Sutterlüty 2017, S. 149, 154). Er sieht die Gefahr, dass sich rein situationistische Erklärungsansätze zu einer „Situationsphysik“ hinreißen ließen und illustriert am Beispiel von französischen und englischen Riots im Jahr 2005 bzw. 2011, dass der situationistische Ansatz durchaus integrationsfähig für transsituative Deutungsmuster ist (Sutterlüty 2015, S. 232). Er zeigt eindrücklich, dass die Gewalt der Rioter*innen im französischen Fall sich eben nicht ausschließlich situativ erklären ließe, da die Gewalt eine Reaktion auf verletzte normative Erwartungen gewesen sei, die auch innerhalb der Situation von den Rioter*innen über Parolen wie „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, aber nicht in den Vorstädten!“ thematisiert wurden (Sutterlüty 2015, S. 241 ff.). Er plädiert für eine Theorie kollektiver Gewalt, die zeigen kann, „wie kulturelle Deutungsmuster und sozialstrukturelle Bedingungen situativ handlungsrelevant werden“ (Sutterlüty 2015, S. 256) und legt damit einen der ersten Bausteine für kontextsensible mikrosoziologische Analysen.

Weitere Studien, die über eine reine Situationsfixierung hinausgehen, finden sich vor allem in den Sammelbänden von Equit et al. (2016), Paul und Schwalb (2015) und Ziegler et al. (2015) sowie in vier kürzlich erschienen Sonderheften verschiedener Zeitschriften (Hartmann 2017; Hoebel und Koloma Beck 2019; Hoebel und Malthaner 2019; Malešević und Loyal 2019). In diesen Studien sind neben ausführlicher Kritik an der Kontextlosigkeit der situationistischen Perspektive auch mehr oder weniger konkrete Vorschläge enthalten, die Inkonsistenzen und Widersprüche des collinsschen Ansatzes zu bearbeiten versuchen und die mikrosoziologische Perspektive um transsituative Elemente ergänzen. Sie verweisen bspw. auf die erwartbare soziale Unterstützung (Armbruster 2016), die Verstrickung mit abwesenden Dritten (Hoebel 2019) oder Strafmotive während Gruppenvergewaltigungen (Wolters 2019b), erweitern die collinssche Perspektive um Konzepte wie Identität (Braun 2016), Biographie (Katz 2015), mittelbare Dritte (Leuschner 2019), Situationsrationalität (Malthaner 2019) oder Performativität (Fujii 2019), behandeln grundsätzlich das Verhältnis von sozialer Ordnung und Gewalt (Groenemeyer 2016; Hartmann 2017) oder bearbeiten das wechselseitige Verhältnis zwischen Prozessen auf der Meso-Ebene und situativen Bedingungen (Malešević 2019; Malthaner 2017). Wenngleich in keiner dieser Publikationen ein explizit kontextsensibles mikrosoziologisches Forschungsprogramm entwickelt wird, formulieren viele der Beiträge transsituative Argumente, die neue Perspektiven einer mikrosoziologisch orientierten Gewaltforschung aufzeigen.

3 Kontextsensibel Gewalt erforschen

Die aktuelle Herausforderung sehen wir darin, den Weg für ein Forschungsprogramm zu ebnen, das Kontextelemente systematisch in mikrosoziologische empirische Studien integriert und demnach beide Perspektiven konsequent miteinander verknüpft. Wenngleich die genannten Publikationen bereits richtungsweisend sind, wird die von uns vorgeschlagene integrative Perspektive selten durchgehalten (oder überhaupt angestrebt). Der Schwerpunkt verbleibt bisher meist auf einer situativen (Katz 2015) bzw. transsituativen (Groenemeyer 2016) Perspektive oder es handelt sich um programmatische Wegweiser ohne empirische Forschung (Hartmann 2019). Zugleich werden die Argumente der jeweiligen Autor*innen kaum aufeinander bezogen. Hier zeigt sich erneut, dass die Protagonist*innen der soziologischen Gewaltforschung sich in ihren jeweiligen Felsspalten sitzend zwar „wechselseitig beobachten, [einander] aber nicht näher kommen“ – um die eingangs referierte Felsenmetapher von Hoebel (2019, S. 100) noch einmal aufzunehmen.

Die sicherlich größte Schwierigkeit ergibt sich aus dem Umstand, dass in Anbetracht der nahezu unendlichen Möglichkeiten integrierbarer Kontextelemente eine Auswahl getroffen werden muss, was als relevanter Kontext analytisch mit einbezogen wird. Ein überzeugender Umgang mit diesem Problem ergibt sich unserer Ansicht nach nur, wenn man zum einen unter „Kontext“ alle in Frage kommenden „Umweltbedingungen“ fasst, die eine situative „Handlungsrelevanz“ aufweisen (können) (Tranow 2018, S. 24). Anhand detaillierter mikrosoziologischer Rekonstruktionen können diese handlungsrelevanten Kontexte über indexikale Verweise im Material entdeckt werden. Das Erklären von Gewaltsituationen mithilfe von situativen wie transsituativen Elementen sollte somit stets an Anhaltspunkte geknüpft werden, die sich in der Situation selbst beobachten lassen (Boudon 2014, S. 19). Hier folgen wir der These von Collins, dass sich die Wirksamkeit von Elementen der „Makro- und Mesoebene […] stets auf der Mikroebene beweisen [muss]“ (Collins 2011a, S. 51) und die Frage, was als relevanter Kontext der Situation in Betracht kommt, immer zunächst eine empirische Frage bleibt.

Zum anderen ist die Auswahl dessen, was zum Ausgangspunkt der Analyse gemacht wird, an die Beobachtungsskala der Forscher*innen geknüpft, die das jeweilige Erklärungsproblem in einem „soziologischen Lernprozess“ (Lau und Wolff 1983) entwickeln. Was analytisch als „der Fall“ (Ragin 1992, S. 7 f.) verstanden wird, ist immer abhängig vom Erkenntnisinteresse derer, die sich mit dem empirischen Material beschäftigen. Dies impliziert, dass die Auswahl relevanter Kontexte immer auch eine Konstruktionsleistung der Forscher*innen ist, die aus einer spezifischen „problem- und theorierelativen Perspektive“ auf das Geschehen schauen (Tranow 2018, S. 30; Falletti und Lynch 2009, S. 1153). Je nachdem, welches „puzzle“ die Forscher*innen zu lösen versuchen (Boudon 2014, S. 19), ergeben sich demnach andere Kontexte, mithilfe derer das jeweilige soziologische Problem entschlüsselt werden kann. Die Frage, ob und wie genau bspw. Organisationsmitgliedschaften, soziale Identitäten oder Rollenerwartungen die situative Dynamik und damit den Ausbruch, Abbruch oder die Kontinuität von Gewalt beeinflussen, ist somit immer relativ zur gewählten Problemstellung und der theoretischen Perspektive zu beantworten, sollte aber stets an indexikale Verweise im Material zurückgebunden werden (Hoebel und Knöbl 2019, S. 174). Die zentrale Aufgabe, die sich bei kontextsensiblen mikrosoziologischen Analysen stellt, ist somit, über die Auseinandersetzung mit dem empirischen Material eine integrative Perspektive auf die Gewaltsituationen zu entwickeln, die den Handlungslinien, Erfahrungen und Bewertungen der Beteiligten Rechnung trägt und situative Dynamiken konsequent mit transsituativen Verweisen verknüpft.

Wie diese integrative Perspektive forschungspraktisch umgesetzt werden kann, werden wir nachfolgend auf Basis von zwei Fallstudien zeigen. Neben der collinsschen Theorie nutzen wir insbesondere den Rahmenbegriff von Erving Goffman (1977), um herauszuarbeiten, inwieweit die Beteiligten sich in ihren Situationsdeutungen und Erwartungshaltungen an für sie relevanten Kontexten orientieren. Rahmen sind nach Goffman „Organisationsprinzipien“, nach denen Anwesende Situationen definieren, und die somit den Verständigungshintergrund bilden (Goffman 1977, S. 19, 32).

Zunächst illustrieren wir am Beispiel des Massakers von Srebrenica von 1995, wie gesellschaftlich und insbesondere organisational verankerte Mythen- und Propagandadiskurse in Konfrontationssituationen aktualisiert und in Form von trainierten Interaktionsritualen zur Gewinnung von emotionaler Dominanz genutzt werden. Am Beispiel der so genannten Welcome to Hell-Demonstration anlässlich des G20-Treffens in Hamburg im Juli 2017 zeigen wir zudem, wie präsituativ verfestigte Erwartungshaltungen Eskalationsdynamiken zwischen Polizei und Demonstrierenden fördern und das Ausbrechen von Gewalt begünstigen.

3.1 Das Massaker von Srebrenica 1995

Das Massaker von Srebrenica gilt als das schwerste Kriegsverbrechen auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Zeitraum vom 11. bis zum 16. Juli 1995 exekutieren bosnisch-serbische Soldat*innen insgesamt über 8000 bosnisch-muslimische Jungen und Männer zwischen 12 und 80 Jahren und deportieren etwa 25.000 Frauen, Kinder und Senior*innen hinter die Frontlinien des bosnisch-muslimisch kontrollierten Territoriums. Dabei waren verhältnismäßig wenig Streitkräfte notwendig, um über 8000 Menschen zu töten: Bei den Exekutionen erschießen acht bis zehn Soldat*innen durchschnittlich 800 Opfer; bei der vorangegangenen Deportation und Internierung bewacht ein*e Soldat*in meist 25 bis 35 Gefangene (Fink 2015, S. 725 f.). Durch die Gerichtsverfahren des International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY) ist das Massaker von Srebrenica gut dokumentiert, wenngleich bisher wenig (mikro-)soziologisch erforscht (für eine Ausnahme siehe Klusemann 2012). Insbesondere die Prozessakten aus den Verfahren gegen Radislav Krstić (IT-98-33) und Ratko Mladić (IT-09-92) ermöglichen eine mikrosoziologische Analyse des Geschehens.Footnote 5

Aus einer mikrosoziologischen Perspektive ist bemerkenswert, dass es den serbischen Soldat*innen gelingt, trotz beträchtlicher zahlenmäßiger Unterlegenheit immer wieder „emotionale Dominanz“ (Collins 2009, S. 16) zu generieren und die Situation und ihre Entwicklung über sechs Tage hinweg unter Kontrolle zu halten. Unter „emotionaler Dominanz“ fasst Collins einen (wahrgenommenen) situativen Vorteil, der notwendig ist, um aus einer Konfrontationssituation als überlegene Partei hervorzugehen (Collins 2009, S. 16). Als Folge der „strukturellen Eigenschaft von Situationsfeldern“ speist sich emotionale Dominanz immer aus der situativen Unterlegenheit der anderen Seite (Collins 2011a, S. 35). Dabei kommen Interaktionsrituale zum Tragen, die Collins „Angstmanagement“ nennt: Dominanzrituale, die es ermöglichen, die situative Unterlegenheit der Kontrahent*innen gegen sie selbst zu wenden (Collins 2011a, S. 272 ff.).

Eines dieser Dominanzrituale ist laut Collins das Vorwegnehmen der Initiative (Collins 2011a, S. 175). Indem die Täter*innen den Opfern zuvorkommen und den interaktiven „Takt“ vorgeben, kontrollieren sie die emotionale Dynamik – den Opfern werde der Einfluss auf das Geschehen entzogen und sie müssen sich den vorgegebenen Handlungen fügen (Collins 2011a, S. 264, 274). Im Material zum Massaker von Srebrenica finden sich unzählige Beispiele für dieser Art der Dominanzrituale seitens der serbischen Soldat*innen. So beschreibt bspw. der Zeuge O, der die Exekution am Petkovci-Damm überlebte, eine Deportationssituation, in der die Gefangenen mit Lastwagen zu einer Schule gebracht werden. Als sie aus dem Lastwagen aussteigen, ereignet sich die folgende Szene: „[D]er Soldat [hat] sein Gewehr beim Lauf gepackt und mit dem Kolben jedem auf den Rücken geschlagen, der [in die Schule] reinging. Aber die Leute gingen sehr rasch, und er hat es nicht geschafft, alle zu treffen. Also hat der Mann, der da stand, die Leute angehalten und sie einzeln reingeschickt, so dass man sie schlagen konnte.“ (Bogoeva und Fetscher 2002, S. 169 ff.) Der Soldat hält seine Dominanzgeste nicht durch, da die Gefangenen zu schnell gehen. Er stoppt sie, schickt sie einzeln hinein und kann so jeden Gefangenen einzeln schlagen. Sie wehren sich nicht, sondern – so Zeuge O – stellen sich in eine Reihe und warten darauf, dass sie „dran [sind], geschlagen zu werden“ (Bogoeva und Fetscher 2002, S. 169). Indem der Soldat die Gefangenen zwingt, sich im von ihm vorgegebenen Rhythmus schikanieren zu lassen, übernimmt er die „Führung bei der Festlegung der Mikro-Rhythmen“ (Collins 2016, S. 24).

Die Beispielsequenz veranschaulicht, wie der Soldat den interaktiven „Takt“ vorgibt, und bietet damit geeignetes Material für eine mikrosoziologische Analyseperspektive. Gleichzeitig übersieht ein rein situativer Blick auf diese Sequenz relevante Rahmungen der Situation, die von den Beteiligten zur Herstellung von emotionaler Dominanz genutzt werden und das Geschehen somit maßgeblich beeinflussen. Dies ist zum einen die Tatsache, dass es sich bei den Soldat*innen um Mitglieder einer militärischen Organisation handelt. Wenngleich Collins regelmäßig hervorhebt, dass Organisationen nur zu dem in der Lage seien, was ihre Mitglieder auf der Mikroebene vollbringen könnten (Collins 2009, S. 17, 2011a, S. 51), führt er an anderer Stelle aus, dass wiederholt gewalttätige Personen über die Zeit erfahrener darin würden, die situative Schwäche ihrer Opfer nicht nur zu identifizieren, sondern auch bewusst zu produzieren (Collins 2016, S. 29). Hier handelt es sich um eines der vielen Beispiele, bei denen Collins explizit Kontextfaktoren benennt, ohne diese theoretisch zu integrieren. So weist er darauf hin, dass Techniken zur Überwindung von Konfrontationsanspannung nicht nur durch Ausbildung und Training vermittelt (Collins 2016, S. 22, 29), sondern auch durch „Imitation“ erlernt und verbreitet würden (Collins 2017, S. 3). Der organisationale Rahmen hat somit hohe Handlungsrelevanz in Situationen, in denen die Soldat*innen in ihrer Organisationsrolle anwesend sind, da sie über die Zeit in ihrer Kompetenz geschult wurden, sich emotional dominant oder auch gewalttätig gegenüber den Gefangenen zu verhalten. Bei „professionell und instrumentell“ agierenden Täter*innengruppen fände sich häufig ein spezielles Muster des Interaktionsrituals, das Collins im Anschluss an Don Weenink (2015) als „Demütigungsspiel“ bezeichnet (Collins 2016, S. 29 f.). Dabei wird das Opfer „nicht nur wiederholt geschlagen, viel mehr als notwendig wäre, um eine Dominanz der Situation zu erreichen, es wird zudem verspottet und gezwungen, wiederholt Zeichen seiner oder ihrer Unterwürfigkeit zu zeigen“ (Collins 2016, S. 30). Collins zufolge fallen dabei häufig sprachliche Äußerungen der „Unterwerfung“ – das Opfer werde bspw. „gezwungen, um Gnade zu bitten, die Schuld auf sich zu nehmen und abfällige Bemerkungen über sich selbst zu machen, die die Vorwürfe der dominierenden Angreifer widerspiegeln“ (Collins 2016, S. 30).

Diese Passagen erweisen sich als sehr aufschlussreich, wenn man den weiteren Verlauf der oben zitierten Sequenz verfolgt. Nachdem die Gefangenen unter Schlägen aus dem Laster heraus und in die Schule hinein eskortiert wurden, werden sie im Innenraum der Schule von weiteren Soldat*innen erwartet: „Drinnen waren Soldaten, aber ich weiß nicht, wie viele. Einer von ihnen fragte: ‚Wem gehört dieses Land?‘ Und er gab die Antwort selbst: ‚Hier ist serbisches Land. Das war immer so und wird immer so sein.‘ Und er sagte: ‚Sprecht mir nach, Balijas – wiederholt, was ich sage‘, und wir mussten wiederholen, was er sagte: ‚Das hier ist serbisches Land. Das war immer so und wird immer so sein‘.“ (Bogoeva und Fetscher 2002, S. 169 f.) Im Material finden sich viele weitere Situationen dieser Art (z. B. Bogoeva und Fetscher 2002, S. 161 f.; Fink 2015, S. 621). Die Häufigkeit dieser Beispiele lässt die Annahme zu, dass die Soldat*innen routiniert darin waren, mithilfe dieser Interaktionsrituale emotionale Dominanz aufzubauen, und dass diese Routinen dem organisationalen Kontext entstammen. Im Kern geht es in diesen Situationen immer darum, dass die Gefangenen im Zusammenhang mit gewalttätigen Schikanierungen von den Soldat*innen gezwungen werden, serbische Legitimitätsansprüche an der Region Srebrenica nachzusprechen. Die Soldat*innen beziehen sich hier auf ein Narrativ der „Verteidigungsidentität“ (Bašić 2004, S. 13, 137 ff.), dessen Geschichte sich weit in die Vergangenheit des jugoslawischen Staates und damit zusammenhängenden historischen Mythen erstreckt. Zugrunde liegt die in der serbisch-nationalistischen Propaganda als notwendig und legitim dargestellte Forderung, sich mit der Region Srebrenica ein ehemaliges Eigentum zurückzuholen. Der ideologische Hintergrund ist die den bosnischen Muslim*innen vorgeworfene Kollaboration mit den ehemaligen osmanischen Besatzer*innen (siehe vertiefend Fink 2015, S. 20 ff.; Malešević 2019, Kap. 7).

Diese Mythen- und Propagandadiskurse gehörten in der bosnischen Gesellschaft der 1990er Jahre zum Alltagswissen, wurden aber auch fortwährend und gezielt innerhalb der militärischen Organisation aktualisiert. Narrative wie diese prägen das „kollektive Selbstverständnis“ und werden häufig dazu genutzt, „Handlungen zu motivieren, zu legitimieren oder zu delegitimieren“ (Jung et al. 2019, S. 16). So erklärte General Mladić, der das Massaker von Srebrenica vor Ort koordinierte, bspw. mehrere Male öffentlich seine Absicht, „an den Türken in dieser Region Rache zu nehmen“ (Fink 2015, S. 20). Die institutionelle Einbettung der Soldat*innen in die militärische Organisation schulte diese somit nicht nur in ihrer Kompetenz, „trainierte Gewalt“ auszuüben, bei welcher der interaktive Rhythmus vollständig von ihnen vorgegeben wird (Collins 2011a, S. 272 f.). Über die gemeinsame organisationale Rahmung bilden die Soldat*innen ferner eine „Sprechergemeinschaft“ (Scott und Lyman 1976, S. 104), in der sie häufig und regelmäßig miteinander interagieren und darüber angemessene sprachliche Formen etablieren, die sie unter sich verwenden. Insbesondere über Ansprachen von höherrangigen Organisationsmitgliedern wie Mladić bilden sich so „Motivvokabularien“ heraus – also „sozial gebilligte Vokabulare“, mit denen vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Handlungen innerhalb der Organisationsrolle erklärt werden können (Gerth und Mills 1973; Scott und Lyman 1976, S. 74; auch Kühl 2014, S. 75 ff.).

Werden Motive wie in der vorliegenden Beispielsequenz explizit gemacht, so dient die Äußerung auf der einen Seite der (Selbst‑)Vergewisserung der Sprecher*innen, dass sie angemessen handeln (Tilly 2006, S. 40). Auf der anderen Seite stabilisiert das Verbalisieren von Motiven die Situation, da die in Frage stehende Handlung über die Bezugnahme auf die organisationale Rahmung wieder sozial integriert wird (Gerth und Mills 1973, S. 158). Indem die Soldat*innen die Gefangenen zwingen, unter erniedrigenden Bedingungen die Mythen- und Propagandadiskurse zu verbalisieren, aktualisieren sie somit diejenigen Rahmungen in der Situation, aus denen sich die emotionale Dominanz für die infrage stehende Handlung generiert.

3.2 Die Welcome to Hell-Demonstration in Hamburg 2017

Die Welcome to Hell-Demonstration anlässlich des G20-Treffens in Hamburg beginnt am Nachmittag des 06. Juli 2017 mit Konzerten und Redebeiträgen und gleicht zunächst einem Straßenfest.Footnote 6 Gegen 18:30 Uhr befinden sich rund 12.000 Menschen auf dem Hamburger Fischmarkt, während sich Lautsprecherwagen auf der Hafenstraße aufstellen. Um sie herum sind viele, teilweise vermummte Demonstrierende in schwarzer Kleidung. Gegen 19:00 Uhr wird der Demonstrationszug von der Polizei aufgehalten. Der Einsatzleiter teilt dem Anmelder mit, dass es sich bei der Vermummung im Demonstrationszug um „massive Straftaten“ handelt und dass er sich darum kümmern soll, dass die Demonstrierenden die Vermummung ablegen. Der Anmelder bittet darum, in Ruhe auf die Demonstrierenden einwirken zu können, bevor die Polizei mit den Wasserwerfern vorfährt, denn sie seien sich ja einig darüber, dass sie kein „Szenario“ wie im Dezember 2013 wollten. Der Einsatzleiter erwidert, dass seine Erfahrung gezeigt hätte, dass es gut sei, wenn sie sich „von Anfang an zeigen“. Sobald die Vermummung abgenommen sei, könne man losgehen. Er hätte seine Kräfte aber so aufgestellt, dass er nicht von den Demonstrierenden überrascht werden könne. Kurz darauf versuchen Polizist*innen, die schwarzen Blöcke abzutrennen und es bricht Gewalt zwischen Demonstrierenden und Polizist*innen aus.

In der Protest- und Bewegungsforschung wurden die gewalttätigen Dynamiken einzelner Demonstrationen bisher wenig untersucht, da vor allem die Formen von Protesten bzw. der Protestrepertoires im Vordergrund standen (della Porta 2012). Dies mag an vorhandenen Sympathien der Forscher*innen gegenüber den zu erforschenden sozialen Bewegungen liegen (Piven 2012), ist aber auch darauf zurückzuführen, dass in der Protest- und Bewegungsforschung unter „Mikroebene“ meist nicht die interaktive Begegnung, sondern das Individuum verstanden wird (della Porta 2012, S. 243, 256).Footnote 7 Insbesondere zu Riots (z. B. Malthaner 2019; Tiratelli 2017) bzw. zivilem Widerstand (z. B. Bramsen 2017, 2018a, 2018b) gibt es jedoch zunehmend mehr Studien, die im Anschluss an Collins eine situative Perspektive auf die gewalttätigen Dynamiken entwickeln. Collins selbst untersucht Demonstrationen meist in Bezug auf das Muster der Vorwärtspanik (Collins 2011a, S. 185 ff.), das vor allem darauf fokussiert, wie sich Konfrontationsanspannung und -angst in der Situation aufbauen und sehr plötzlich entladen, wodurch es zu einer überschießenden Gewalt komme (Collins 2011c).

Die Frage, wie es während Demonstrationen überhaupt zu Konfrontationssituationen kommt und wie transsituative Faktoren und Erwartungshaltungen der Beteiligten daran mitwirken, blieb bislang überwiegend unberührt. Eine Ausnahme ist Anne Nassauer (2019), die in ihrer neuesten Publikation 30 Demonstrationen aus einer situativen Perspektive untersucht und dabei eine ambivalente Position zum Stellenwert von Kontextfaktoren für den Verlauf von Demonstrationen entwickelt. Einerseits folgert sie auf Basis ihrer Fälle, dass vorherige Gewalterwartungen nicht zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung führen, da die situative Dynamik der Demonstration ausschlaggebend für einen gewaltvollen Verlauf sei (Nassauer 2019, S. 71). Von dieser dichotomen Trennung von Situation und Kontext löst sie sich in ihrem Fazit und weist darauf hin, dass die Interpretationen der Anwesenden bei der Entstehung von Konfrontationssituationen einen hohen Stellenwert hätten, da diese Emotionen verändern könnten (Nassauer 2019, S. 179). Wenngleich sie dies nicht näher ausführt, wird hier die eingangs aufgemachte starke Trennung zwischen Kontextfaktoren und Demonstrationsverlauf nicht weitergeführt.

Im Verlauf der Welcome to Hell-Demonstration, die nicht in Nassauers Sample war, zeigt sich der von ihr hervorgehobene Stellenwert von Interpretationen eben gerade dadurch, dass eine kritische Masse an Anwesenden von einem gewaltsamen Verlauf ausgeht. In der Begegnung finden sowohl die Polizist*innen als auch die Demonstrierenden für diese Erwartung Bestätigung, was die Dynamik einer selbsterfüllenden Prophezeiung in diesem Fall durchaus plausibel macht (Malthaner et al. 2018, S. 53 ff.). Im Material finden sich Hinweise, dass insbesondere die Interpretationen und Situationsdeutungen der Anwesenden auf einer gemeinsamen diskursiven Vergangenheit beruhen, die den situativen Verlauf kontextualisiert.

Dies wird im Gespräch zwischen Einsatzleiter und Anmelder deutlich, das im Bereich zwischen Polizeieinheiten und der Spitze des Demonstrationszugs stattfindet und in dem die Beteiligten auf die gemeinsame Vergangenheit und eine antizipierte Zukunft verweisen (Tavory 2018). In den Wochen und Monaten vor der Demonstration äußern sowohl der Anmelder als auch die Polizei erhebliche Bedenken zum möglichen Verlauf der Demonstration. Die Polizei rechnet damit, dass es zu gewaltsamen Ausschreitungen kommen wird, und der Anmelder geht davon aus, dass die Polizei kein Interesse daran hat, dass die Demonstration planmäßig durchgeführt wird. Als der Anmelder nun gegenüber dem Einsatzleiter erwähnt, dass man ja kein „Szenario“ wie im Dezember 2013 wolle, verweist er auf einen gemeinsamen Wissensbestand zwischen Polizei und Demonstrierenden und aktualisiert diesen in der Situation. Mit „Szenario“ bezieht er sich auf die sog. Flora-Demonstration, die im Dezember 2013 stattfand, bei der es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden kam und die auch im Vorfeld der Demonstration mehrfach erwähnt wurde. In ihrer Lagebeurteilung für den G20-Einsatz schreibt die Polizei, dass sie damals einschreiten mussten, „nachdem es zu gewaltsamen Ausschreitungen durch Aufzugsteilnehmer gekommen war“ (Polizei Hamburg 2017, S. 25). Der Anmelder interpretiert die damalige Situation hingegen als einen Angriff der Polizei und weist im Vorfeld der Welcome to Hell-Demonstration darauf hin, dass sie sich im Falle eines erneuten Angriffs mit selbst gewählten Mitteln zur Wehr setzen würden (Freundeskreis Videoclips 2017).

Die gemeinsame Vergangenheit und die unterschiedlichen Begründungen dafür, warum es zur Gewalt kam, führen zu einer Erwartungshaltung, die wir im Anschluss an Goffman (1977) und Sutterlüty (2004) als „gewaltaffine Rahmung“ bezeichnen. Gewaltaffine Rahmung meint, dass beide Akteur*innen voneinander den Einsatz von Gewalt erwarten und diese Erwartung den tatsächlichen Verlauf der Demonstration kontextualisiert. Im Vorfeld der Welcome to Hell-Demonstration haben sich der Anmelder und die Polizei in eigenen Publikationsorganen, journalistischen Interviews, aber auch in internen Dokumenten der Polizei öffentlich dazu geäußert, wie sie ihr Gegenüber einschätzen. Die Welcome to Hell-Demonstration sei laut Hamburger Innensenator die schwierigste „mit dem deutlich höchsten Gewaltpotenzial“, da die „extremistische Szene“ alle, die für militanten Protest in die Stadt kommen, zur Teilnahme aufgerufen habe, weshalb „es entweder im Verlauf oder anschließend mit sehr sehr hoher Wahrscheinlichkeit eben auch zu Gewalt kommen“ werde (shz.de 2017). Noch am Tag der Demonstration empfiehlt der Innensenator den Bürger*innen, nicht an der Demonstration teilzunehmen, „denn die wird mit aller höchster Wahrscheinlichkeit einen gewalttätigen Verlauf nehmen“ (WELT 2017).

Das Aktionsbild der Demonstrierenden wiederum sieht vor, dass sie „offensiv, renitent und widerständig mit der Repression“ umgehen wollen, die sie für die Gipfeltage „in der Form von Vorkontrollen, einer massiven Bullenpräsenz oder willkürlichen Demoauflagen“ erwarten (g20tohell 2017). Sie kündigen den größten schwarzen Block Europas an (Kaiser 2017), der den Demonstrationszug anführen soll. Falls es zu einem Angriff seitens der Polizei kommen sollte, werden sie sich „solidarisch und verantwortungsvoll verteidigen“. Sollte die Demonstration aufgelöst werden, rufen sie dazu auf, „massenhaft in die Straßen und auf die Plätze im Viertel zu strömen“ (g20tohell 2017). Direkte Fragen zum Gewalteinsatz beantworten die Organisator*innen mit Ambivalenz. Ihnen ginge es zwar um militanten Widerstand, aber nicht darum, Menschen zu schädigen (ZDF 2017, 03:34–04:09). Der Anmelder sorge sich um den Verlauf der Demonstration, weil das Verhalten der Polizei bisher „versammlungsfeindlich“ war. Er habe wenig Hoffnung für „maßvolles“ Agieren der Polizei und gehe davon aus, dass es „große Probleme“ geben werde, die Demonstration bis zum Ende durchzugehen (FCMC 2017).

Die Situation wird somit von gegenseitigen Gewalterwartungen der Beteiligten gerahmt, die sich letztlich dann vor Ort für die Anwesenden bestätigen. Im Material zum Verlauf der Welcome to Hell-Demonstration finden sich zudem weitere Situationselemente, die auf transsituative Kontexte verweisen, also nicht erst in der Situation entstehen, aber für ihren Verlauf entscheidend sind. Dies ist zum einen die Vermummung und die schwarze Kleidung von einigen Demonstrierenden, die der Einsatzleiter als Auslöser für die polizeiliche Intervention in den Demonstrationszug angibt. Für die Vermummten ist die schwarze Kleidung und die verhüllende Kopfbedeckung eine „expressive Selbstdarstellung radikaler politischer Devianz“ (Paris 1991: 119), mit der sie ihre Gruppenzugehörigkeit ausdrücken. Für die Polizei handelt es sich bei der Vermummung hingegen um eine Straftat, zu dessen Verfolgung, das betont der Haupteinsatzleiter im Vorfeld der Gipfel-Woche, die Polizist*innen per Gesetz verpflichtet seien (N24 2017, 06:50–07:03). Der mit der Vermummung einhergehende Zugzwang für die Polizei entsteht somit nicht erst in der Situation, sondern ist im Gesetz verankert, was zum Wissensbestand beider Akteursgruppen gehört. Dieser Wissensbestand wird in der Begegnung aktualisiert, als der Einsatzleiter dem Anmelder gegenüber äußert, dass es sich bei der Vermummung um „massive Straftaten“ handele (leftvision clips 2017: 01:00–01:10), und damit begründet, warum der Demonstrationszug nun gestoppt werde.

Der Einsatzleiter entscheidet zum anderen, den Demonstrationszug an einer Stelle zu stoppen, an der linksseitig Gebäude und rechtsseitig eine Flutschutzmauer stehen, was zu einer Verknappung des zu Verfügung stehenden Raumes für alle Anwesenden führt. Die Anzahl der Anwesenden im Verhältnis zum Verfügung stehenden Raum ist ein wichtiges Situationselement, denn – so führt auch Collins aus – „allein schon durch die beengten Verhältnisse bieten sich permanent Gelegenheiten für Zusammenstöße“ (Collins 2011a, S. 414). Die Entscheidung des Einsatzleiters, den Zug an genau dieser Stelle zu stoppen, steht somit im Zusammenhang mit der räumlichen Situation vor Ort, die als transsituatives Element auf die Eskalationsdynamik einwirkt. Wie viel Raum letztendlich verfügbar ist, hängt zudem von der Anzahl der eingesetzten Polizeikräfte sowie der Anzahl der anwesenden Demonstrierenden ab, die wiederum im Zusammenhang mit der im Vorhinein erfolgten Mobilisierung der Bündnisse bzw. den von ihnen adressierten Themen steht.

Die Rekonstruktion des situativen Verlaufs zeigt, dass manche Situationselemente ihren Stellenwert für den Verlauf des Geschehens bekommen, gerade weil sie an transsituative Kontexte anknüpfen. Die gemeinsame Vergangenheit, die Vermummung oder die Verpflichtung zur Strafverfolgung haben ihre Bedeutung für die Akteur*innen auch außerhalb der Situation, sind aber in der wechselseitigen Interpretation während der Begegnung hochgradig relevant für das eigene Handeln. Diese wechselseitige Interpretation beginnt bereits vor der eigentlichen Demonstration und entwickelt sich zu einer gewaltaffinen Rahmung, die aus der gegenseitigen Gewalterwartung besteht und bis zur Demonstration stabil bleibt.

4 Plädoyer für eine kontextsensible Mikrosoziologie der Gewalt

Die kuriose Debatte, in die die deutschsprachige Gewaltforschung gegenwärtig verwickelt ist, wird wohl noch eine Weile anhalten. Gleichzeitig – so konnte der Beitrag zeigen – finden sich neben diversen Beiträgen über die vermeintlichen Grenzen des Situationismus auch mehr oder weniger konkrete Weiterentwicklungen der mikrosoziologischen Gewalttheorie, die Inkonsistenzen und Widersprüche des collinsschen Ansatzes zu bearbeiten versuchen. Der vorliegende Beitrag folgt dieser Entwicklung mit dem Vorschlag, über detaillierte mikrosoziologische Rekonstruktionen die Indexikalität von Situationselementen zu entdecken und so situations- und kontextzentrierte Ansätze in einer integrativen Perspektive zu verknüpfen.

In den Fallstudien konnten wir zeigen, dass die Frage, wie transsituative Elemente – etwa ideologische Narrative und verfestigte Erwartungshaltungen – die situative Dynamik beeinflussen, primär durch den Bezug auf die Kontexte beantwortet werden kann, die das Handeln der Akteur*innen rahmen. Dazu haben wir insbesondere über die überlieferten sprachlichen Äußerungen der Anwesenden diejenigen Rahmungen herausgearbeitet, auf die sich die handelnden Akteur*innen in ihren Situationsdeutungen beziehen. In beiden Fällen spielte die gemeinsame diskursive Vergangenheit der Akteur*innen eine wichtige Rolle, da sich darüber diejenigen Rahmungen herausbildeten, die situativ handlungsrelevant wurden. Während sich im Fall des Massakers von Srebrenica aus der institutionellen Einbettung in die militärische Organisation das Motivvokabular der Soldat*innen entwickelt hat, das diese interaktiv zur Herstellung von emotionaler Dominanz nutzten, ist es im Fall der Welcome to Hell-Demonstration der gemeinsame Wissensbestand zwischen Demonstrierenden und Polizei, der zu einer gewaltaffinen Rahmung führte, die das Entstehen von Konfrontationsanspannung vor Ort beförderte.

Beide Fallstudien illustrieren, dass präsituativ verfestigte Deutungsmuster als Situationselement auf Eskalationsdynamiken einwirken, wenn sie von den Anwesenden verbal aktualisiert werden. Für kontextsensible mikrosoziologische Analysen sind sprachliche Äußerungen insbesondere deshalb relevant, weil sie einen besonderen Stellenwert zwischen situativer Eigendynamik und transsituativen Strukturelementen haben. Wenngleich nahezu jede Sprachhandlung zwangsläufig interaktiv ist, ist Sprache an sich grundsätzlich transsituativ – schließlich greift sie auf über lange Zeiträume erlernte Gewohnheiten und Formeln zurück, die insbesondere durch sich wiederholende Interaktionsverläufe verstetigt und „kondensiert“ (Luhmann 1997, S. 200) werden. Die rechtfertigenden Narrative, die von den Soldat*innen in Srebrenica reproduziert wurden, sind ebenso wie die gegenseitigen Gewalterwartungen der Akteur*innen der Welcome to Hell-Demonstration das Ergebnis von diskursiven Aushandlungsprozessen innerhalb von bzw. zwischen Sprecher*innengemeinschaften, in denen sich spezifische Deutungs- und Rechtfertigungsmuster über die Zeit entwickelt haben, und die das Handeln dieser Akteur*innen rahmen.

Von der mikrosoziologisch orientierten Gewaltforschung werden sprachliche Äußerungen bislang nur vereinzelt analytisch mit aufgenommen (z. B. Armbruster 2016; Hoebel 2019; Sutterlüty 2015). Dies ist insofern erstaunlich, als dass diese nicht nur einen wesentlichen Anteil an der Dynamik von Konfrontationssituationen haben, die herauszuarbeiten sich die Mikrosoziologie der Gewalt verschrieben hat (Kilby und Ray 2014, S. 4). Auf Basis der überlieferten Äußerungen der Anwesenden lassen sich zudem auch indexikale Verweise auf Kontextfaktoren entdecken. So konnten wir bspw. im Fall der Welcome to Hell-Demonstration über die Äußerung des Einsatzleiters, dass es sich bei der Vermummung einiger Demonstrierenden um „massive Straftaten“ handele, rekonstruieren, dass die Gesetzeslage als Kontext hier situativ handlungsrelevant wurde, indem der Einsatzleiter die Vermummung als Grund für die polizeiliche Intervention in den Demonstrationszug angibt.

Selbstverständlich finden sich neben den sprachlichen Äußerungen der Anwesenden immer auch andere Situationselemente, die indexikal auf relevante Kontexte verweisen und über die sich rekonstruieren lässt, wie diese Kontexte situativ handlungsrelevant werden. So haben wir im Fall des Massakers von Srebrenica argumentiert, dass sich aus den spezifischen interaktiven Mustern, denen die überlieferten Gewalthandlungen folgen, ablesen lässt, dass die Soldat*innen das kompetente Durchführen von demütigenden Interaktionsritualen durch Training bzw. Imitation innerhalb ihrer Organisationsmitgliedschaft erlernt haben und der organisationale Rahmen somit die Gewaltkompetenz der Soldat*innen vor Ort beeinflusst. Im Fall der Welcome to Hell-Demonstration haben wir gezeigt, dass die räumliche Situation vor Ort nicht nur als passive Materialität auf das Geschehen einwirkt, weil die Anwesenden sich zwangsläufig im vorhandenen Raum orientieren müssen, sondern in Bezug auf die eskalative Dynamik insbesondere darüber situativ handlungsrelevant wird, dass der Einsatzleiter entscheidet, den Demonstrationszug an einer sehr beengten Stelle zu stoppen, was zu einem Anstieg von Konfrontationsanspannung führte.

Eine kontextsensible Mikrosoziologie der Gewalt rückt diese Wechselwirkungen zwischen Situation und Kontext in den Fokus, statt situative und transsituative Argumente weiter gegeneinander auszuspielen. Diese integrative Perspektive ebnet den Weg für weitere Analysen, die kontext- und situationszentrierte Ansätze konsequent verknüpfen, und damit eine produktive Weiterentwicklung der mikrosoziologischen Gewaltforschung vorantreiben.