1 Einleitung

Es mag abgegriffen klingen, wenn im Kontext gewaltsoziologischer Forschungen und Diskussionen mehr als 20 Jahre später in einleitenden Bemerkungen auf Trutz von Trothas (1997, S. 10) Diktum des analytischen Stiefkindstatus von Gewalt mit Blick auf soziologische Theorie(n) rekurriert wird. Lassen sich doch gerade im Zuge der sog. neu(er)en Gewaltsoziologie seit den 2000er Jahren vielfältige und theoretisch unterschiedlich gelagerte Ansätze identifizieren, die Gewalt ernsthaft in den soziologischen Aufmerksamkeitsfokus zurückgeholt haben (Hartmann 2017, S. 1) und bzgl. der (theoretischen) Relevanz von Situationen, Mechanismen, Dritten, sozio-kulturell variierenden Ordnungen usw. (u. a. Collins 2011; Hoebel 2014, 2019b; Koloma Beck 2011, 2017; Lindemann 2014, 2017, 2018; Nassauer 2015, 2019; Reemtsma 2009; Schinkel 2010; Wieviorka 2006, 2014) den einstigen programmatischen Ankündigungsmodus (Reemtsma 2006, S. 4) einer Soziologie der Gewalt aufgehoben haben (Braun 2019, S. 63 f.). Gleichwohl lässt sich im Kontext der neu(er)en Gewaltsoziologie – trotz ihres Bestrebens, gewinnbringende Anschlüsse an soziologische Theorien zu suchen und diese zugleich auch wechselseitig zu stimulieren (u. a. Koloma Beck 2019) – konstatieren, dass der analytisch-theoretische Stiefkindstatus intra-disziplinär weiterhin existiert. Mangelt es doch vor allem an einer (Selbst‑)Reflexion sowohl bzgl. der Erarbeitung von (allgemeinen) gewaltsoziologischen Theorien als auch der Hinwendung zu Wie- anstelle von Was-Fragen, die primär im Kontext empirisch kleinteilig operierender Forschungen stattfindet (Christ 2017, S. 13 ff.; Knöbl 2017a; siehe allgemein auch Swedberg 2012, 2016). Während die Konzeptualisierung von Theorien zur Erklärung diverser sozialer Phänomene und „sozialer Sachverhalte […] zu den zentralen Aufgaben der Soziologie [zählt]“ (Maurer 2017, S. 11), hat die gewaltsoziologische Forschung hiermit verbundene und grundlegende methodologische Fragen lange Zeit nicht ernsthaft in den Blick genommen, wenn sogar ignoriert (Hoebel und Knöbl 2019, S. 18 ff.). Der in diesem Sinne analytisch-theoretische Stiefkindstatus hinsichtlich der eigenen (gewaltsoziologischen) Theorieentwicklungen mündet deshalb Jan Philip Reemtsma (2017) zufolge in einem (scheinbar) nicht mehr zu überwindenden „Erklärungsbegehren“ – vermeintlich ohne Aussicht auf Erfolg.

Deutet die Verbindung dieser beiden Dikta von Reemtsma (2017) und Trotha (1997) demnach auf die weiterhin vorhandene Aktualität einer Vernachlässigung zentraler Fragen hin, so ist die von Reemtsma (2017) angesprochene Aussichtslosigkeit des tatsächlichen Erklärungspotenzials gewaltsoziologischer Forschung wohlgemerkt nur eine vermeintliche. Schließlich lassen sich jüngst mehr als bloße Versuche konstatieren, die eben jene Fragen einer methodologisch (selbst-)reflektierten gewaltsoziologischen Theorieentwicklung zu beantworten versuchen und damit auf einen (weiteren) Wandel einer im Kern breit angelegten Gewaltsoziologie (Hoebel und Malthaner 2019, S. 7) verweisen. Dabei lassen sich diese jüngsten Tendenzen, die unterschiedliche Fragen nach adäquaten Methodologien, Theorien und Erklärungen im gewaltsoziologischen Kontext diskutieren (u. a. Braun 2019; Hoebel und Knöbl 2019; Hoebel und Koloma Beck 2019a, 2019b; Knöbl 2019; Koloma Beck 2019; Lindemann 2014, 2015, 2017, 2018), unter Richard Swedbergs (u. a. 2012, 2016) Plädoyer für die soziologisch-theoretische Hinwendung auf entdeckende Wie-Fragen im Zuge methodologisch (selbst-)aufgeklärter Theortisierungen subsummieren. Statt im nach außen abgeschlossenen Rechtfertigungskontext einstiger und neu(er)er Theorien zu verweilen, gilt hier ein „theorizing violence“ (Hoebel und Koloma Beck 2019a; Kilby 2013). Mit dem expliziten Fokus auf den Entdeckungskontext gewaltsoziologischer Forschung(en) verbunden ist dabei das Bestreben theoretisch-analytischer Weiterentwicklungen zur Erforschung des komplexen Phänomens Gewalt (Kron 2019). Damit einher geht somit ein (weiterer) gewaltsoziologischer Wandel, vor dessen Hintergrund sich eine Bestandsaufnahme geradezu anbietet.

Das Ziel dieser Einführung besteht darin, den aktuellen Wandel der gewaltsoziologischen Forschung zu skizzieren und nicht auf die inhaltliche Beschreibung der in diesem Sonderheft vertretenen Beiträge zu verweisen. Die übergreifende bzw. rahmende Frage bezieht sich hierbei auf den Aspekt, wie gewalthafte Ereignisse, Handlungen, Erfahrungen etc. künftig (oder weiterhin?) adäquat erklärt werden können. Gleichwohl bedarf es an dieser Stelle bereits einer deutlichen Einschränkung: Wer mit den folgenden Ausführungen eine detaillierte Inventur des gesamten Forschungsfeldes assoziiert, wird enttäuscht werden. Ein solches Vorhaben kann hier mit Blick auf die Vielzahl internationaler Literatur und Studien nicht umgesetzt werden. Vielmehr sollen jene Entwicklungen und Tendenzen einer – im weitesten Sinne – Soziologie der GewaltFootnote 1 dargestellt werden, die sich insbesondere auf den deutschsprachigen Raum und hier geführter Diskussionen der letzten Jahre beziehen. Denn gerade hier lassen sich aus der gegenwärtigen Perspektive drei unterschiedliche Richtungen konstatieren, die gewaltsoziologische Forscher*innen mit (mehr oder weniger) konträren Positionen konfrontieren: (1) das situative Paradigma Randall Collins’ (u. a. 2011), das seit seiner Einführung gerade im deutschsprachigen Kontext einen äußerst prominenten Status erlangte (Hauffe und Hoebel 2017) und „zum Dreh- und Angelpunkt der Analysen“ (Equit und Schmidt 2016, S. 40) gewaltsoziologischer Forschungen geworden ist (siehe u. a. Equit et al. 2016), (2) das mit dem jüngsten Aufruf „Gewalt Erklären!“ (Hoebel und Knöbl 2019) verbundene Konzept prozessualer Erklärungen von Gewalt (siehe u. a. auch Hoebel 2014, 2019a, 2019b) und (3) der reflexive Fokus auf die Erforschung von Gewalt im Kontext sozio-kulturell variierender Verfahrensordnungen (u. a. Lindemann 2014, 2017, 2018).Footnote 2

Alle drei Ansätze reagieren dabei auf unterschiedliche Aspekte, die Fragen einer methodologischen, theoretischen und explikativen Ausrichtung von (künftigen) Gewaltforschungen in den Blick nehmen und damit in gewisser Weise versuchen bis dato vorherrschende „blinde Flecken“ aufzudecken.

2 Gewalt im Spiegel der Situation

Randall Collins’ (2008) veröffentlichte Monografie „Violence: A Micro-sociological Theory“, die 2011 unter dem Titel „Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie“ ins Deutsche übersetzt erschien, löste im Zuge ihrer Rezeptionsgeschichte „einen regelrechten Boom“ (Hoebel und Malthaner 2019, S. 6) gewaltsoziologischer Forschungen aus.Footnote 3 Collins (2011) erklärtes Ziel ist, Gewalt mit einem expliziten Fokus auf Situationen zu erklären, da „[s]elbst in den Fällen, in denen Gewalt ausdrücklich Widerstand ist, sie in der Regel lokal beschränkt [bleibt]“ (Collins 2011, S. 40). Dies ist Collins zufolge insofern notwendig, als Gewalt zum einen keineswegs eine einfache Handlung darstellt, da ihre tatsächliche Anwendung in den meisten Situationen äußerst schwerfällt und eher inkompetent daherkommt (Collins 2011, S. 22 f., 36 f.). Denn damit Akteur*innen im Zuge ihrer Handlungen überhaupt zur Ausübung von Gewalt fähig sind, müssen Sie zuerst eine situativ vorherrschende Anspannung und Angst vor solch konfrontativen Begegnungen überwinden (Collins 2011, S. 63 ff.). Zum anderen liegt – gerade mit Blick auf den deutschsprachigen Kontext – der Reiz des situativen Paradigmas Collins’ zur Erklärung von Gewaltsituationen in der Tatsache, dass er bestimmten (sozialstrukturellen) Kontext- und Hintergrundfaktoren, wie. z. B. Alter, Geschlecht etc., keinen expliziten erklärenden Charakter als Ursachen zuspricht (Collins 2011, S. 11, 36). Mag es zwar unterschiedliche Korrelationen zwischen spezifischen sozialstrukturellen Parametern und der Ausübung von Gewalt geben, so sprechen diese Befunde, laut Collins (2011, S. 10 f.), dennoch keineswegs für eine allgemeingültige explikative Kausalität, „[d]enn nach Typen gewalttätiger Individuen zu suchen, die in allen Situationen gleich agieren, ist ein Irrweg“ (Collins 2011, S. 19).

Mit diesen beiden Prämissen einer expliziten Fokussierung auf Gewaltsituationen und der Abkehr von sozialstrukturellen Determinanten als Ursachen von Gewalt, führte Collins (2011) eine mikrosoziologische Theorie zur Erklärung von Gewalt ein, die der deutschen Debatte in den 1990er Jahren sehr ähnlich war: Ging es doch auch hier um die Abwendung von rein auf Ursachen basierenden Kausalerklärungen und um die Hinwendung explizit körperlicher Gewalthandlungen und -erfahrungen in (Mikro‑)Situationen (siehe u. a. Nedelmann 1997; Popitz 1986; Sofsky 1996; Trotha 1997), was für die hohe Resonanz und Rezeption des collinsschen Werkes im deutschsprachigen Kontext somit sicherlich bedeutsam ist.

Bei Gewaltsituationen handelt es sich Collins (2011, S. 10) zufolge um solche situativen Ereignisse, „welche die Emotionen und Handlungen derer prägen, die in sie hineingeraten oder sich hineinbegeben“ und dabei zu einer subjektiv antagonistischen situativen Wahrnehmung führen, die zugleich von konfrontativer Anspannung und Angst geprägt ist, und „dem Versuch [entstammt], gegen eine andere Person zu handeln“ (Collins 2011, S. 128; siehe Braun 2016, S. 248 f.). Die Berücksichtigung der Bedeutung von Emotionen und einer subjektiv antagonistischen Wahrnehmung von Situationen bezieht sich zugleich zum einen auf Collins’ (1993) sozialtheoretische Grundannahme von Emotionen als gemeinsamem Nenner menschlicher Interaktion – in Abkehr zu rein rational argumentierenden und erklärenden Handlungstheorien. Zum anderen verweist dies auch auf sein Konzept der Interaktionsritualketten (2004), die als soziale Ordnung(en) begründende und aufrechterhaltende Mechanismen in Kollektiven eine zentrale Funktion einnehmen. Aufgrund ihres emotional positiv konnotierten solidarischen Mitgefühls gegenüber den anderen Kollektivmitgliedern – als emotionale EnergieFootnote 4 –, entsteht aus den diversen Interaktionsritualketten, denen ein/e Akteur*in im Laufe ihrer gesamten Interaktionserfahrungen zugehörig sein kann, ein kollektiver Zusammenhalt, der nicht nur die Grenzziehung nach außen und den Fortbestand des Kollektivs sichert, sondern ebenso die (emotional basierte) Folgebereitschaft mit Blick auf unterschiedliche Status- und Machtpositionen (über emotionale Dominanzen einzelner Akteur*innen) erklären kann (Collins 2004, S. 47 ff.).

Eingebettet in diesen theoretischen Hintergrund und die methodologische Fokussierung auf die Situation, erklärt Collins (2011) die – methodisch primär über Film- und Videomaterial zu rekonstruierende – Entstehung von Gewaltsituationen demnach wie folgt: Innerhalb eines situativen Ereignisses, entsteht bei (mindestens zwei) face-to-face interagierenden Akteur*innen, aufgrund der subjektiv antagonistisch wahrgenommenen Situation, eine Konfrontationsanspannung und -angst. Diese läuft dem eigentlich positiv geprägten, körperlich-rhythmisch verstrickten und solidarisch geprägten Gefühl gegenüber anderen Interaktionsteilnehmer*innen zuwider (Collins 2004, S. 48 f., 107 f.), „entstammt [somit; A.B.] dem Versuch, gegen eine andere Person zu handeln“ (Collins 2011, S. 128) und kann sich dann in Gewalt niederschlagen, wenn zugleich situativ begünstigende Pfade bzw. Wege in die Gewalt vorhanden sind (vgl. Braun 2016, S. 248; Collins 2009, 2011, 2016). Laut Collins (2009, S. 11 ff., 2011, 2016, S. 20 ff.), zählen hierzu: (1) ein emotional dominierender Angriff auf ein schwaches Opfer, (2) die Suche nach einem Gewalt unterstützenden Publikum, (3) ein Distanzangriff mithilfe von (Schuss-)Waffen, (4) eine vorgetäuschte „Ruhe“ bis zum tatsächlichen (scheinbar plötzlichen) Angriff und (5) ein professionelles wie kampfkompetentes Spezialtraining, wie bei Spezialeinheiten, Auftragskillern etc. Im Kontext dieser Pfade zur Überschreitung der Konfrontationsanspannung und -angst wird schließlich der emotionale Zustand der Anspannung „in einen anderen emotionalen Zustand überführt“ (Collins 2016, S. 21), der – im Sinne der Metapher von Gewalttunneln (Collins 2013a, 2016) – dabei auch zeitlich variierende (kurze oder mittellange) Gewaltanwendungen zur Folge haben kann, wie bspw. seine empirischen Untersuchungen zu impulsiven Schlägereien, häuslichen Folterregimes, Amoktaten im Schulkontext oder Unruhen bzw. Aufständen zeigen (Collins 2011, 2013b, 2016, S. 22 f.). Zugleich haben unterschiedliche Autor*innen versucht, Collins’ straffen Blick auf die Situation weiter zu entwickeln, indem sie bspw. ebenso die Bedeutung von sozialen (Gruppen‑)Kontexten, Identitäten, Kommunikationen und spezifischen Mechanismen zur Erklärung bzgl. der Überwindung der Konfrontationsanspannung und -angst in den Blick genommen haben (siehe für einen guten Überblick Equit et al. 2016 und bzgl. Mechanismen u. a. Nassauer 2015, 2019). Und auch Collins (2019) hat jüngst eingeräumt, dass auch andere soziale Mechanismen in Form von extra-situationalen Aspekten Gewalt begünstigend hinzutreten können: „[…] man [kann] die soziale Situation, aus der unter Umständen eine gewalttätige Begegnung wird, nicht auf die raumzeitlich definierte Anwesenheit der Akteure begrenzen. Schon in zeitlicher Hinsicht umfasst sie darüber hinaus auch die routinierten Praktiken der Interaktionsteilnehmer, den für die Akteure wichtigen Bestand an kollektiven Repräsentationen, also auch die Identitäten, dank derer sich Personen selbst verorten, die soziale Reputation und vieles andere mehr“ (Collins 2019, S. 60 f.). Dies ist vor allem mit Blick auf die von Collins (2019, S. 63 ff.) ebenfalls betonte Relevanz seines situativen Konzepts für Maßnahmen zur Vermeidung von Gewalt von Bedeutung: Denn die Prävention von Gewalt – z. B. in der Täter*innen- oder Opferberatung – lässt sich effektiv wesentlich einfacher an dem Umgang mit Situationen umsetzen, als bspw. an der Veränderung gesellschaftlicher Strukturen oder Kulturen. Konkreter: Orientiert an einem situationalistischen Gewaltansatz, kann man Menschen beibringen, wie sie die Chance erhöhen, dass es in Situationen nicht zur Gewalt kommt (u. a. Becker 1998; Collins 2019, S. 63 ff.; Kane und Wilder 2009) – z. B., so Collins (2019, S. 64 f.), indem sie, basierend auf dem Wissen situativer Interaktionsdynamiken, auf die Erzeugung von Langeweile durch pure Redundanz im Konflikt abzielen. Ein derartiger Praxisbezug dürfte bei anderen soziologischen Ansätzen kaum vorliegen, obgleich hier natürlich fraglich bleibt, ob die praktische Umsetzbarkeit ein Kriterium soziologischer Theoriebildung sein sollte, die letztlich auf Erklärungen sozialer Phänomene abzielt.

Entsprechend lassen sich vermehrt kritische Stimmen konstatieren: Obwohl Collins’ (2011) spezifischer Fokus auf die Situation als theoretisch-analytischer „Produktiver Reduktionismus“ (Hartmann 2019b) interpretiert werden kann, birgt, so z. B. Ferdinand Sutterlüty (2015, 2017), die situationistische Gewaltforschung diverse „Fallstricke“ (Sutterlüty 2017), die vor allem bzgl. der Analyse dynamischer Gewaltkollektive (z. B. bei Aufständen) offensichtlich werden – allen voran bspw. prä-situativ vorhandene kontextuelle Rahmungen und Erwartungen. Zudem werden grundlegende Probleme des „methodologischen Situationismus“ (Schützeichel 2019, S. 218) gesehen, wie z. B. die Frage nach der letztlichen Definition der Situation, die hiermit verbundene Gefahr des Ausblendens relevanter „größere[r] soziale[r] und politische[r] Kontexte“ (Knöbl 2019, S. 39; Hoebel und Knöbl 2019; Knöbl 2019; Schützeichel 2019) sowie das Problem der eher beschreibenden statt erklärenden Forschungsprogrammatik (Hoebel und Knöbl 2019). Und weitere Kritiken zielen bspw. auf die offene Frage nach der Relevanz beteiligter Dritter (Hoebel 2019a, 2019b; Lindemann 2014, 2017) und auf das vage Konzept emotionaler Energie (Greve 2012, 2013; Rössel 1999), das u. a. nicht in der Lage ist „die Dichotomie von Emotion und Kognition […] [sowie; A.B.] zwischen deskriptivem und normativem Gehalt von Emotionen“ (Wolters 2019, S. 200) zu überwinden. Jenseits der von Collins (2019, S. 63 ff.) betonten Präventionsmöglichkeit der situationistischen Perspektive sind diese Kritikpunkte im Blick einer methodologisch und theoretisch (selbst-)reflektierten Soziologie der Gewalt durchaus gerechtfertigt – vor allem dann, wenn es sich hierbei um eine an Erklärung(en) interessierte Gewaltsoziologie handelt.

3 Gewalt als prozessuales Ereignis

Die Kritikpunkte bzgl. des situativen Paradigmas Collins’ (2011) aufgreifend und damit auf das Problem des von Collins’ vertretenen expliziten empirischen Wirklichkeitsanspruch von Situationen zur Erklärung und Analyse von Gewalt reagierend (Knöbl 2019, S. 24 f.), haben jüngst Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl (2019) gemeinsam für eine diesbezüglich eher konträr liegende „entdeckende Prozesssoziologie“ plädiert.Footnote 5 Gerade im Kontext der explikativen „Mikroreduktion“ (Knöbl 2019, S. 26) Collins’, muss nämlich, so Wolfgang Knöbl (2019, S. 26), rückgefragt werden, „welche kausale Bedeutung Zeit, Raum und Zahl denn für Mikroprozesse besitzen sollen“ und welcher Stellenwert Gruppen und/oder Organisationen im (prä-)situativen Kontext eines Gewaltgeschehens zuzuweisen ist (Knöbl 2019, S. 25). Dies gilt, so Thomas Hoebel (2019a, S. 51), vor allem auch für solche Gewaltereignisse, bei denen sich „Handlungslinien“ der Akteur*innen über konstitutive (lokale) Situationen hinaus zeitlich fortsetzen. Damit fokussieren Hoebel und Knöbl (2019, S. 9 ff.) die allgemein angelegte Frage, wie Gewalt, gerade mit Blick auf Kausalannahmen, sachlich, sozial und zeitlich im „empirischen Verhältnis zwischen einzelnen Ereignissen und dem sie um- und übergreifenden Geschehen“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 15) – unter Berücksichtigung der Klärung grundlegender wissenschaftstheoretischer Fragen – (künftig adäquat) erklärt werden kann.

Im Zuge methodisch qualitativ gelagerter (historisch) sequenzieller Fall- bzw. Ereignisrekonstruktionen, u. a. an den empirischen Beispielen der Massenerschießungen im polnischen Józefów (1942) und den terroristischen Anschlägen auf „Charlie Hebdo“ in Paris (2015) (Hoebel 2014, 2019b, S. 103 f.; Hoebel und Knöbl 2019, S. 157 ff.), beziehen sich prozessuale Erklärungen von Gewalt – jenseits der Frage nach der Mikro-Makro-Verknüpfung und der expliziten Fokussierung auf die Situation als das explikative Moment sowie der Methodologie eines prozessualen Erklärens (Aljets und Hoebel 2017) folgend –, im Kontext von Temporalität und Timing gewalthafter Ereignisse, dabei auf die „(1) Transitivität von Ereignissen, […] (2) die Generalität von Deutungen, Bewertungen oder Erwartungen, […] (3) die Indexikalität situativer Elemente und (4) die Historizität von Individuen“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 159). Diese Prämissen destillieren Hoebel und Knöbl (2019) dabei nicht nur vor dem Hintergrund der empirischen Fallreferenzen heraus, sondern zugleich mithilfe einer systematisch angelegten Rekonstruktion gewaltsoziologischer Paradigmen, deren explikativen Fokus sie auf die „mit den Stichworten ‚Motive‘, ‚Situationen‘ und ‚Konstellationen‘“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 17) bezeichneten heuristischen Dimensionen beziehen (Hoebel und Knöbl 2019, S. 33 ff., 62 ff.). Aufgrund der zu Beginn vorgenommenen Auswahl der gegenwärtig prominenten – und somit hier darzustellenden – gewaltsoziologischen Ansätze, wird im Folgenden dabei lediglich auf die von Hoebel und Knöbl (2019, S. 80 ff.) rekonstruierte situative Heuristik, welche sie mit dem Paradigma Collins’ in Verbindung bringen, Bezug genommen.

Gerade mit Blick auf die zwar durchaus plausibel anmutende Fokussierung auf die Situation als das Moment zur Erklärung von Gewalt, sehen Hoebel und Knöbl (2019, S. 86 f.) ein zentrales Problem der (kausalen) Erklärungskraft des collinsschen Paradigmas, da, wenn alles explikativ Relevante durch das Nadelöhr der Situation muss, „dieses ‚alles‘ nach wie vor relevant ist, vielleicht transformiert durch die Situation, aber deswegen nicht irrelevant, was die Verursachung von Gewalt angeht“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 84 f.; siehe auch Knöbl 2019). „Die ‚Situation‘ ist somit nicht eine Essenz oder ein Ding, sondern ergibt sich erst aus der Perspektive der Handelnden selbst oder der Beobachterinnen der jeweiligen Interaktion – wobei für beide gilt, dass sie gewissermaßen für sich selbst die jeweilige Situation bestimmen.“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 89) Hierzu gehört in der Konsequenz letztlich auch die potenziell transitive wie transsituative Beeinflussung „extralokaler Verstrickungen“ (Hoebel 2019a, S. 60) und Verkettungen der beteiligten Akteur*innen und/oder abwesenden Dritten – bspw. mit Blick auf (de-)legitimierende organisationale Rahmungen oder „Personen, die in bestimmten Momenten entscheidende Bedeutung für den spezifischen Fortgang der Ereignisse erlangen“ (Hoebel 2019b, S. 102 f.), wie die Analyse der empirischen Beispiele verdeutlicht (Hoebel 2014, 2019a, 2019b). Ohne dabei der Bedeutung von Situationen für die Erklärung von Gewalt gänzlich den Rücken zuzukehren – Elemente und Aspekte lokaler Situationen sind weiterhin von Relevanz (Hoebel 2019b, S. 119; Hoebel und Knöbl 2019, S. 173, 178, 188) –, aber dennoch jenseits einer explizit situativ mit „lokale[r] Kausalität“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 86) operierenden Mikrosoziologie der Gewalt, erklären Hoebel und Knöbl (2019, S. 157 ff.) Gewalt eben in der Konsequenz ihrer Darstellungen prozessual: Durch die, eine lokale Situation transzendierenden, handlungsrelevanten Eintrittsentscheidungen und Mitgestaltungsprozesse in sozio-kulturell variablen Kollektiven (z. B. Organisationen, Gruppen), welche transitiv in der lokalen Situation und den dortigen verketteten Sequenzen selbst auch immer präsent sind und im Falle einer gewalthaften Interaktion zugleich relational durch die Menge der in der Vergangenheit erfahrenen und erlebten sowie in die Zukunft antizipierten (lokalen wie extralokalen) Deutungs‑, Bewertungs- und Beziehungsmuster temporal bestimmt wird. Damit ist die von Hoebel und Knöbl vorgeschlagene „entdeckende Prozesssoziologie“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 188) gegenüber Collins’ Paradigma keineswegs „per se ‚methodologisch-situationistisch‘, da sie sich nicht den konzeptuellen und explanatorischen Problemen des Situationsbegriff unterwirft“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 193 f.). Stattdessen ist sie „explanatorisch an allen Situationselementen interessiert, die sich in einem sozialen Geschehen finden lassen“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 188). Vor diesem Hintergrund nehmen letztlich verschiedene und sequenzielle „Situationselemente die Spezifika ihres Interaktionskontextes in sich auf[.]“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 173), wobei hierzu konkrete Orte und spezifische Zeitpunkte an „Äußerungen und Handlungen“ innerhalb eines begrenzten Sets an Personen gehören und „jeder noch so beiläufige Kommentar oder Blick, ein situativ relevantes Element von Handlungslinien ist, die Individuen mit- und gegeneinander beginnen, fortsetzen, unter- oder abbrechen“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 178).

Hoebel und Knöbl (2019) präsentieren und konfrontieren somit zugleich die gewaltsoziologische Forschungslandschaft mit einer Methodologie, die die Erklärung von Gewalt – in methodologisch (selbst-)aufgeklärter Art und Weise – ernst zunehmen versucht, um „die drohende theoretische und methodologische Stagnation in der gegenwärtigen Gewaltforschung zu überwinden“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 16). Ob dieses Plädoyer künftig Früchte trägt, bleibt noch abzuwarten. Gleichwohl kann die skizzierte „entdeckende Prozesssoziologie“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 188) zum aktuellen Zeitpunkt kritisch hinterfragt werden: Gesteht man ihr bzgl. der lokalen und extralokalen Verstrickungen und Verkettungen der anwesenden und abwesenden Personen und Dritten im Kontext von Situationen einen besonderen analytischen Stellen- wie Mehrwert zu (Hoebel 2019a, 2019b; Hoebel und Knöbl 2019), so ist diese, gegenüber den drei anderen von den Autoren identifizierten motiv-, situations- und konstellationsgelagerten Heuristiken ins Feld geführte „vierte, im Kern prozessuale Heuristik“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 158) gegenwärtig nicht in der Lage „zu spezifizieren, worin [der; A.B.] […] prozesstheoretische[.] Ansatz denn genau und im Einzelnen über die genannten kausalen Heuristiken hinausgeht“ (Sutterlüty 2019). Diese Kritik berührt gewissermaßen den Kern des mit der entdeckenden Prozesssoziologie verbundenen methodologischen Plädoyers: Zwar „[unterwirft] sie sich nicht den konzeptuellen und explanatorischen Problemen des Situationsbegriffs“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 193 f.), bleibt aber dennoch (mindestens) „in einer vagen Hinsicht ‚situationsorientiert‘“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 193), was darauf zurückgeführt werden kann, dass der verwendete Prozessbegriff hierbei noch unbestimmt ist – zumal Ereignisse, die bei Hoebel und Knöbl (2019, S. 189) als „die kleinste zeitliche Untersuchungseinheit“ gewählt werden, in interdisziplinären Theorien sozialer Prozesse „eine umstrittene Kategorie dar[stellen]“ (Schützeichel 2015, S. 126; Schützeichel und Jordan 2015a). Obgleich sich im Kontext einer „‚sociology of events‘“ (Schützeichel 2015, S. 88) konstatieren lässt, dass Ereignisse „Strukturen in kontingente Entwicklungsoptionen und -verläufe“ (Schützeichel 2015, S. 88) transformieren, sind Ereignisse selbst – gerade „weil [sich] Soziales in sozialen Temporalitäten vollzieht“ (Schützeichel 2015, S. 89) – prozessimmanente Elemente. Deren Konstitution als prozessual relevant hängt damit nicht nur von einer beobachterabhängigen Beschreibung ab, sondern auch davon, „in welcher Weise sie in Sequenzen von Ereignissen situiert sind [Herv. A.B.]“ (Schützeichel 2015, S. 125; siehe u. a. Esser 1999, S. 102 ff.; Miebach 2009; Schützeichel 2015, S. 122 f.; Weick 1995). Hierzu zählt nicht nur, wie Ereignisse von den Forscher*innen selbst als Fall situativ bestimmt werden, sondern ebenso, wie soziale Bedingungen, die prozessuale Gewalt im dynamischen Verlauf hervorbringen, bzgl. ihrer notwendigen und hinreichenden Wirkung zu differenzieren sind – zumindest wenn auf deren komplexe Wirkung im Sinne von und mit Prozessen verbundener (eigen-)dynamischer „Verursachung […] und kausaler Abhängigkeit“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 12) abgezielt wird (Mayntz und Nedelmann 1987; Neidhardt 1981; Ragin 1992a, 1992b, 2000; Schimank 2000; Schützeichel 2015, S. 122 f.). Die, den Kontingenzcharakter (potenzieller) gewalthafter Interaktionen betonende, sequenzielle Verkettung und (extra-lokale) Verstrickung von Ereignissen in lokalen Situationen (Hoebel 2019a, 2019b; Hoebel und Knöbl 2019, S. 157 ff.) verweist damit zugleich auf die „metaphysische[.] Notwendigkeit“ (Jansen 2015, S. 29) der Rückbindung (dynamischer) sozialer Prozesse an den explikativen Charakter individueller Handlungen (Müller-Benedict 2000), was zum einen ohne (mindestens operativen) Situationsbezug nicht möglich ist (Greve et al. 2008, S. 9; Jansen 2015, S. 29 ff.; Schützeichel 2019; Schützeichel und Jordan 2015b, S. 4, 6) und zum anderen auch mit (weiterentwickelten) methodologisch-individualistischen Erklärungsansätzen oder strukturalistisch operierenden Ansätzen in den Blick genommen werden kann.

4 Reflexivität und variierende Ordnungen von Gewalt

Zu solchen strukturalistisch argumentierenden Ansätzen zählt insbesondere der mit „Verfahrensordnungen von Gewalt“ argumentierende Vorschlag zur Analyse und Erklärung von Gewalt von Gesa Lindemann (2014, 2015, 2017, 2018). Ähnlich wie Collins (2011) rückt sie die Bedeutung der Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit von Akteur*innen – und damit leibliche Interaktionen – in den zentralen Fokus (Lindemann 2014, S. 248, 250 ff.). Zugleich wendet sie sich gegen den bei Collins (2011) vorhandenen dyadisch angelegten Analysefokus, aufgrund dessen er, so Lindemann (2014, S. 251 ff.), – trotz des Verweises auf ein potenziell Gewalt begünstigendes Publikum – eine Verengung vornimmt, die „verhindert […], dass Collins nach der möglichen Legitimation der Gewalthandlung fragt“ (Lindemann 2014, S. 252): „[E]twaige Dritte analysiert Collins nicht in ihrer Funktion als Dritte, d. h. in ihrer Bedeutung für strukturbildende soziale Reflexivität“, sondern begreift sie eher als „zahlenmäßige Erweiterung der Dyade“ (Lindemann 2014, S. 252). Ähnlich wie Hoebel und Knöbl (2019, S. 25) verweist Lindemann (2014, S. 248, 253 ff., 2017, S. 64 ff., 2018, S. 58 ff.) auf den relevanten Aspekt der (An-)Zahl beteiligter Akteur*innen für Gewaltanalysen und den analytischen Mehrwert von Dritten, dessen Relevanz sie vor allem auf die sozialtheoretische Bedeutung und Funktion von Triaden zurückführt. In diesem Punkt geht sie über Hoebel und Knöbl hinaus: Denn über die (methodologisch angelegte) grundlegend sozialkonstitutive Funktion von Dritten, die Berücksichtigung der Leiblichkeit von Akteuren sowie der Perspektive auf die Opfer, wird Gewalt nicht als Randphänomen von Gesellschaften verstanden, sondern „als Konstituens des Sozialen, also als Vergesellschaftungsmodus“ (Lindemann 2017, S. 58), womit zugleich die zentrale Frage nach dem strukturrelevanten (de-)legitimierenden Verhältnis bzgl. sozialer Ordnungsbildung(en) in den Blick genommen wird (Lindemann 2014, S. 248 f., 2015, S. 504 ff., 2018, S. 354 ff.). Kurz: Gewalt ist nur greifbar vor dem Hintergrund der jeweils geltenden (Verfahrens‑)Ordnungen.

Vor diesem Hintergrund kann Gewalt nicht als ein rein situativ unmittelbar identifizierbares Ereignis begriffen werden (Lindemann 2017, S. 60). Stattdessen wird Gewalt in der triadischen Perspektive als ein symbolisch generalisierter (kommunikativer) Akt der (bereits prä-situativ vorhandenen) Enttäuschung bzw. Verletzung normativer Erwartungen zwischen einem Alter und einem Ego verstanden, dessen (De-)Legitimität im Kontext institutionalisierter Ordnungen erst (und nur!) durch (interpretierend) beobachtende Dritte festgestellt wird (Lindemann 2014, S. 246, 257 f.; 2017, S. 58). Statt als „anthropologische Universalie“ (Lindemann 2017, S. 59), im Sinne einer a priori festgelegten physischen Gewaltanwendung von Menschen gegenüber nur Menschen, liegt hier ein Verständnis von Gewalt zugrunde, welches auf deren sozial-reflexive Bedeutung – eben durch die Beobachtung Dritter – verweist (Lindemann 2014, S. 253, 2015, 2017): „Statt den Kreis legitimer Personen aus der Beobachterperspektive festzulegen, wird untersucht, ob Gewalt eine besondere Bedeutung dafür zukommt, wie der Kreis sozialer Personen in einem beobachteten Feld festgelegt wird.“ (Lindemann 2017, S. 60) Als soziale Personen gelten dabei „solche Wesen, die a) wechselseitig ihre Erwartungen erwarten und b) von Dritten erwarten, welche Erwartungen von anderen zu erwarten sind“ (Lindemann 2015, S. 502), sodass sich in und aus diesem „personalen Zusammenhang […] eine institutionelle (drittenvermittelte) Ordnung“ (Lindemann 2015, S. 502) bildet. Der reflexive Blick auf Gewalt zeigt sich hierbei letztlich dadurch, dass die Frage, welches „Vorkommnis von den Beteiligten als Gewalt identifiziert wird, das sich innerhalb des Sozialen ereignet“ (Lindemann 2017, S. 60), davon abhängig ist, wie im empirisch untersuchten Feld „im Rahmen triadischer Kommunikationsprozesse zwischen sozialen Personen und anderen Entitäten unterschieden wird“ (Lindemann 2015, S. 502). Somit ist eine Differenzierung zwischen bloßer Krafteinwirkung und tatsächlicher (physischer) Gewaltanwendung innerhalb der durch die als soziale Personen bestimmten Grenzen des Sozialen möglich (Lindemann 2017, S. 59 f.).

Mit diesem reflexiv angelegten (de-)legitimierenden Blick auf „Gewalt als soziologische Kategorie“ (Lindemann 2015) verbunden sind – ebenso grundlegende – gesellschaftlich (rational strukturierte) institutionalisierte „Verfahrensordnungen der Gewalt“ (Lindemann 2017). Idealtypisch kategorisiert (Lindemann 2017, S. 76 ff., 2018, S. 69 ff.), fungieren diese Verfahrensordnungen („Opferung“, „Ausgleich“, „Gerichtswesen“ und „gewaltfreie Rechtsstaatlichkeit“) zugleich als „Heuristiken in der empirischen Forschung“ (Lindemann 2017, S. 79) und als „Darstellungsformen der Gültigkeit“ (Lindemann 2018, S. 71) bzgl. „im Feld diskursiv identifizierte[r] [(de-)legitimierter; A.B.] Gewaltphänomen[e]“ (Lindemann 2017, S. 72).Footnote 6 Denn „Verfahrensordnungen legen fest, 1. wie der Kreis der legitimen Personen zu begrenzen ist, 2. wie Gewaltausübung identifiziert werden kann, 3. welche Wege der Gewaltausübung es geben kann […], 4. wie Gewalt legitimiert und wie zwischen legitimer und illegitimer Gewalt unterschieden werden kann, 5. welche Erwartungen durch Gewalt als legitime normative Erwartungen expliziert werden und daher als das Recht einer Gesellschaft gelten können, 6. wie die Normexplikation bzw. Rechtsdarstellung angemessenerweise erfolgen sollte“ (Lindemann 2018, S. 70). Anders formuliert, bieten die Verfahrensordnungen der Gewalt – mit Blick auf die Gestaltung und Aufrechterhaltung sozialer Ordnung – somit die Möglichkeit einer „verfahrensmäßige[n] Gestaltung legitimer Gewalt“ (Hartmann 2019a, S. 80; vgl. Lindemann 2014, S. 277–286). Als Gültigkeit besitzendes und demnach geltendes Recht einer Gesellschaft, bedarf diese Gestaltung aber einer in der Praxis hergestellten, reproduzierten und damit einhergehenden dauerhaften Institutionalisierung normativen Erwartungen, anhand derer letztlich die Erwartungs-Enttäuschung durch Dritte beobachtet und als (de-)legitim eingestuft werden kann (Hartmann 2019a, S. 80; Lindemann 2014, S. 245 ff., 2017, 2018, S. 60 ff.).

Damit präsentiert Lindemann (2014, 2015, 2017, 2018) einen gewaltsoziologischen Ansatz, der über die dezidierte Einbindung von beobachtenden Dritten nicht nur den (produktiven) Aspekt bzgl. sozialer Ordnungsbildung fruchtbar in den Blick nimmt, sondern ebenso auf die zu beachtende Tatsache unterschiedlicher und sich wandelnder sozio-kultureller Strukturen hinweist. Mit diesem Bewusstsein ist die gewaltsoziologische Forscher*in ebenso darauf angewiesen, eigene blinde Flecken und die „Blindheit des Feldes“ (Lindemann 2017, S. 72) bei der Beobachtung von diskursiv legitimen Gewaltphänomenen – ebenfalls methodologisch (selbst-)aufgeklärt – zu reflektieren, um so letztlich feststellen zu können, ob oder dass auch legitime Gewalt, wie z. B. sexuelle Gewalt in der Ehe der 1950er Jahre, (teilweise) als Gewalt im Feld identifiziert werden kann (Lindemann 2017, S. 72 f.). Der reflexive Blick auf Gewalt trägt hierbei zwar der Komplexität von Gewalt im Zusammenspiel aus Verfahrensordnungen und Dritten durchaus Rechnung, „[allerdings] ohne mikroskopisch nachzuzeichnen, wie diese Dritten konsequenziell in ein Gewaltgeschehen involviert sind“ (Hoebel 2019b, S. 123). Hinzu kommt, dass der Rekurs auf stets prä-situative Enttäuschungen von Erwartungen in gewisser Weise „normativistisch-funktionalistisch konzipiert ist“ (Hartmann 2019a, S. 82): Denn, wenn laut Lindemann (2017, S. 72) „Gewalt […] dazu dient, die Gültigkeit normativer Erwartungen darzustellen“, dann ist demnach „jeder Gewaltakt ein (zumindest implizit) erhobener normativer Anspruch […], der entweder auf Normverletzungen reagiert oder sich gegen den institutionellen Handlungsablauf richtet“ (Hartmann 2019a, S. 82). Die Frage nach der Gültigkeit dieses Anspruches kann allerdings nur verfahrensmäßig durch die (de-)legitimierende Funktion von Dritten beobachtet und behandelt werden (Hartmann 2019a, S. 82; Lindemann 2017), sodass „[d]ahinter offenbar die Annahme [steckt], Gewaltakteure gerieten durch die Gewalttat geradezu zwangsläufig in einen moralischen Diskurs […], der sie dazu nötigt, ihre Gewalttat mit Bezug auf normative Erwartungen zu legitimieren“ (Hartmann 2019a, S. 82). Hier besteht Eddie Hartmann (2019a, S. 83) zufolge die Gefahr, „Gewalt in Zweck-Mittel-Relationen (d. h. instrumentell) wahrzunehmen“ und die potenzielle Anwendung von Gewalt um ihrer selbst willen – d. h. bewusst abzielend „auf die Zerstörung der Integrität des Körpers [Herv. i.O.]“ (Reemtsma 2009, S. 116) – aus dem (theoretischen) Blick zu verlieren (siehe auch Reemtsma 2009, S. 117 ff.). Eine weitere Gefahr kann auch bzgl. des bewusst gewählten reflexiven Gewaltbegriffs gesehen werden. Trägt dieser zwar einerseits der Komplexität von Gewalt über die spezifische und explizite empirische Rückbindung an das Feld Rechnung, so besteht andererseits zugleich die Möglichkeit, die analytisch trennscharf zu behandelnden Aspekte Gewalt und Macht (Arendt 1970, S. 36) ineinander übergehen zu lassen bzw. gleichzusetzen (Braun 2019, S. 69). Dies ist mit Blick auf deren etymologisch-semantische Differenzierung im Sinne von violentia und potestas allerdings nicht nur theoretisch ausgeschlossen (Braun 2019, S. 69), sondern zudem gibt es „in den Sozialwissenschaften überzeugende Argumente dafür, dass man theoretisch-konzeptionell zwischen Macht, legitimer und nichtlegitimer Herrschaft einerseits und Gewalt andererseits unterscheiden sollte“ (Hoebel und Knöbl 2019, S. 30 f.).

5 Zur Rolle und Bedeutung von Situationen, Prozessen und Ordnungen für die (künftige) Erforschung von Gewalt – ein kurzer Ausblick

Die hier dargestellten und skizzierten, gegenwärtig prominent vertretenen Ansätze im Kontext aktueller gewaltsoziologischer Diskurse verweisen beispielhaft auf unterschiedliche Perspektiven und Facetten einer methodologisch (selbst-)aufgeklärten, theoretisch wie empirisch fundierten Soziologie der Gewalt. Mit den Schlagworten „Situationen“, „Prozesse“ und „reflexive Ordnungen“ werden gewaltsoziologischen Forscher*innen unterschiedliche Ansätze präsentiert, die aufgrund ihres jeweiligen methodologischen und analytischen Zugangs zum sozialen Phänomen der Gewalt durchaus konträr zueinander stehen. Noch handelt es sich sicherlich nicht um Paradigmen. Doch wie für Paradigmen, so gilt auch für solche Ansätze, dass die Entdeckung von blinden Flecken oder die Abkehr von spezifischen Grundannahmen zu „Revolutionen“ führen kann (Kuhn 1973). Ob und inwieweit sich die gegenwärtige Gewaltsoziologie in einer – gewalttätigen? – Revolution befindet, bleibt (noch bzw. weiterhin) abzuwarten. Aufgrund der gemeinsamen Bezugsprobleme, die forschungsanleitende Frage nach dem Wie bzgl. der Erklärung von Gewalt, und – trotz konträrer Positionierungen, dennoch ähnlichen – Lösungsstrategien, wie z. B. die Berücksichtigung von Ereignissen (mindestens als Gegenstand eines operativen Situationsbegriffs [Schützeichel 2019]), Interaktionen und körperlichen bzw. leiblichen Akteur*innen, ist eine integrativ-vergleichende Betrachtung der jeweiligen Positionen nicht ausgeschlossen (Abbott 2004).

Die hier unter dem Schlagwort „Bestandsaufnahme soziologischer Gewaltforschung“ versammelten Beiträge widmen sich unter ihrer jeweils spezifischen Perspektive der Frage, wie künftige gewaltsoziologische Forschungen in theoretischer, methodologischer und methodischer Hinsicht ihrem komplexen Gegenstand gerecht werden können. Dabei lassen sich sowohl explizite wie implizite Anschlüsse an die genannten Ansätze konstatieren. So z. B., wenn die Frage nach der Rolle und Bedeutung von Sprechakten und Kontexten für situative Gewalterklärungen beleuchtet werden (Tabea Koepp und Chris Schattka). Hierzu zählen auch die Fragen nach der, spezifischen Ordnungen unterliegenden, Konstruktion von Gewalt als Gewalt im Kontext medizinischer Diagnoseverfahren (Christoph Sucherdt) sowie die (potenziell) fruchtbare Integration figurativer Prozesse für Gewaltsituationen (Johannes Ebner und Marion Stopfinger). Der Komplexität von Gewalt Rechnung tragend, gilt es im Zuge der dargestellten Ansätze, der Frage nach der Bedeutung von Gewalt begünstigenden positiven wie negativen Emotionen weiter nachzugehen (Thomas Kron) und methodisch in den Blick zu nehmen, wie oder mithilfe welcher Verfahren eine künftige Erforschung von Gewalt – gerade im Zuge neuer und sozialer Medien – adäquat umgesetzt werden kann (Anne Nassauer und Nicolas Legewie). Komplexität bedeutet ebenfalls, dass die Soziologie selbst immer wieder ihre eigenen Analysekategorien überprüfen sollte, um nicht ungefiltert sozial konstruierte Kategorien zu übernehmen, die oft auf ein Entweder-oder ausgerichtet sind und mögliche Sowohl-als-auch-Aspekte übersehen, wie am Beispiel des Funktionshäftlings im Konzentrationslager (Andreas Kranebitter) oder an der Hybridisierung von Gewalt im Kinderschutz deutlich wird (Christoph Sucherdt). Und schließlich stellt sich – spätestens mit der o. g. Explikation von Collins – im Kontext der gewaltsoziologischen Forschungen die Frage, wie soziologische Erkenntnisse in der Praxis eingesetzt und/oder angewendet werden können, um einen potenziellen Beitrag zur Prävention von stets komplexen Gewalttaten zu leisten (Swen Körner und Mario Staller). Um die Komplexität von Gewalt handhabbar zu machen, muss man – Luhmann paraphrasierend – inhaltlich-theoretisch, methodisch, selbstreflexiv-soziologisch und praktisch hinreichende Komplexität aufbauen. Dies zeigen diese Beiträge.

Das hier vorliegende Sonderheft bietet somit einen Einblick, wie einzelne Autor*innen im aktuellen Gewaltforschungsdiskurs mit den unterschiedlichen forschungsanleitenden Ansätzen umgehen und verfahren. Es zeigt verschiedene Positionierungen und Tendenzen auf, die ihrerseits auf die Frage nach der Rolle und Bedeutung von komplexen Situationen, Prozessen und reflexiven Ordnungen bzgl. gegenwärtiger gewaltsoziologischer Forschungen reagieren.