1 Einleitung

Wenn … heute die Frage gestellt wird, wer ein Deutscher ist und wer nicht, schaut man auf die Türken. An ihnen werden die Grenzen des Deutschseins getestet (Senocak 1998, S. 90).

Seit der Gastarbeitereinwanderung begleitet ein hitziger Herkunfts- und Integrationsdiskurs den Umgang mit Migration. Im politischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Kontext folgt eine Debatte auf die andere, immer neue Maßnahmen, Fonds und Projektstellen wurden eingerichtet, um die Eingewanderten zur Integration in die Gesellschaft zu bewegen. Selbst der so genannten zweiten und dritten Generation, also Nachkommen der Migrant/innen, die seit Generationen in Österreich oder Deutschland leben, werden noch Fremdheit, Integrationsdefizite oder Integrationsresistenz unterstellt. Einzelne Vorkommnisse oder soziale Problemsituationen werden häufig generalisiert und zu Krisenszenarien und unlösbaren Konfliktlinien verdichtet. Heute, angesichts der so genannten Flüchtlingskrise, erleben solche Debatten eine erneute Konjunktur (vgl. Bojadzijev 2015; Lutz 1992; Randeria 1999; Reuter und Villa 2009; Yildiz 2006).

Für den Migrations- und Integrationsdiskurs spielten von Anfang an zwei Differenzkategorien eine zentrale Rolle, nämlich Ethnizität und Geschlecht, die je nach Fragestellung und Kontext miteinander verknüpft wurden. Die Kombination beider Kategorien finden wir bis heute – mehr oder weniger unterschwellig – sowohl in wissenschaftlichen Abhandlungen, politischen Debatten und medialen Berichten als auch in pädagogischen und Alltagsdiskursen. Solche Differenzkategorien erzeugen ihre eigene Normalität, die dann im Umgang mit Migration als Wegweiser der Wahrnehmung fungiert.

In diesem Aufsatz werde ich einen kontrapunktischen Blick Footnote 1 auf polarisierende Erfindungen von Wir und Die, Einheimische und Migranten richten, um sie in ihrem politischen Kontext zu dekonstruieren und die Kontinuität des hegemonialen Umgangs mit Migration im deutschsprachigen Raum erkennbar zu machen. Als besonders aussagekräftig und bisher aus dieser Sicht wenig beleuchtet können die Migrations- und Integrationsdiskurse in den Sozial- und Erziehungswissenschaften gelten, die ich hier in den Mittelpunkt rücken werde. Es geht mir dabei nicht um eine systematische Analyse, sondern darum, exemplarisch sichtbar zu machen, wie die Differenzkategorien Ethnizität und Geschlecht auf mehr oder weniger subtile Art konstruiert und je nach Kontext strategisch kombiniert werden. Mit Foucault könnte man ihre Verdichtung als ein Integrationsdispositiv bezeichnen, das seine eigene Normalität schafft und sich nachhaltig auf soziale Positionierungsprozesse der Betroffenen auswirkt.

Ausgehend von der Normalisierung ethnozentrischer Weltbilder im Umgang mit Migration, wird im nächsten Schritt die Verknüpfung der Kategorien Ethnizität und Geschlecht zu einem strategischen Dispositiv rekonstruiert, das bis heute als normative Kraft den Migrationsdiskurs durchwirkt. Abschließend werde ich die Relevanz einer kontrapunktischen Perspektive reflektieren: Der Fokus richtet sich auf marginalisierte und nicht erzählte Geschichten, wodurch alternative Wege und Ideen sichtbar werden.

2 Eurozentrisches Weltbild als erkenntnistheoretische Basis

Wenn das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild des Migranten als Mangelwesen in den historischen Kontext gestellt wird, erweist sich die Kontinuität eurozentrischer Deutungen im gegenwärtigen Migrations- und Integrationsdiskurs. Dabei handelt es sich um Bilder, die das Verhältnis zwischen West und Rest (vgl. Hall 1994a) historisch tief durchdrungen und bestimmt haben. Das eurozentrische Weltbild besteht in der Annahme, dass die historische Entwicklung, die als charakteristisch für das westliche Europa und das nördliche Amerika betrachtet wird, ein Konzept darstellt, an dem die Geschichten und sozialen Entwicklungen aller Gesellschaften gemessen und (ab)gewertet werden können. Die Besonderheiten und die historischen Unterschiede nichtwestlicher Gesellschaften werden dann in einer Sprache des Defizits beschrieben (vgl. dazu Conrad und Randeria 2002).

Das binäre Denkkonzept, demzufolge westlich als Synonym für modern und entwickelt gilt, während alles andere Rückständigkeit bedeutet, verleiht der Moderne westlicher Prägung sowohl analytischen Wert als auch einen universellen Status. Andere Gesellschaften treten dann nur als Abweichung von einem universell und idealtypisch gedachten westlichen Entwicklungsbild in Erscheinung. Dabei wird ihnen nicht nur die eigene Geschichte, sondern auch jede eigene Zukunft abgesprochen. Westliche Erfahrung erhält dagegen einen mythologischen Status: Da sie den Maßstab für Normalität und Universalität vorgibt, rücken alle anderen historischen Erfahrungen nur als pathologisch, defizitär oder partikular ins Blickfeld.

Aus dieser Logik heraus erscheint Weltgeschichte als eine westliche:

Diese Gleichsetzung von Weltgeschichte mit der westlichen Welt schließt ein, dass das westliche Geschichtsbewusstsein wesentlich selbst-referentiell war und geblieben ist (…). In einem solchen Verständnis der Welt wurden – und werden – alle anderen Gesellschaften, die sich der Moderne anschließen, darauf festgelegt, ihre Zukünfte im Spiegel westlicher Gegenwart zu entdecken (Wong 1999, S. 55).

Der vorherrschende Migrations- und Integrationsdiskurs ist symptomatisch dafür, wie aus einem eurozentrischen Weltbild Menschen, Entwicklungen und lokale Lebenszusammenhänge identifiziert und gedeutet werden. Bestimmte Zuwanderergruppen und ihre Nachkommen werden per se als abweichend von der als westlich interpretierten Normalität und damit als allzu fremd und integrationsunfähig wahrgenommen. Mit dieser Logik wird Differenz zur Devianz. Die Abwertung und Aussonderung anderer globaler Perspektiven und damit auch die eines großen Teils der Migrant/innen hat dazu geführt, dass die Dichotomie zwischen dem Westen und dem „Rest“, zwischen einem Wir und den Anderen heute noch als ein quasi-natürlicher Zustand behandelt wird. Dieses duale Denken erscheint dann als eine ontologische Gegebenheit.

Die Ausgliederung des als anders Wahrgenommenen aus dem westlichen Wir wurde und wird somit durch die Organisation des europäischen Wissens auch theoretisch festgeschrieben (vgl. Said 2009). Die Unterscheidung zwischen westlich modernen und vormodern traditionellen, (sprich rückständigen) Gesellschaften, die auch die gegenwärtige Repräsentation von Migration beherrscht, ist nur ein Aspekt eines ganzen Theoriekomplexes. Die Institutionalisierung dieses dualen Denkens ist, wie Conrad und Randeria (2002, S. 21 f.) gezeigt haben, als eine gesamteuropäische Angelegenheit zu betrachten. Entsprechend finden wir nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in wissenschaftlichen Abhandlungen, medialen Berichten und politischen Debatten bis heute hierarchische Begriffspaare von West und Ost, Okzident/Orient, Zentrum/Peripherie, Erste/Dritte Welt, die zur Klassifizierung und Identifizierung von Gesellschaften benutzt werden. Obwohl ihr Bezug zur Wirklichkeit äußerst diffus bzw. rein kognitiv ist, werden diese Kategorien verwendet, als entspräche ihnen eine eindeutige äußere Realität; die sie jedoch selbst erzeugen.

Edward Said hat eindrücklich nachgewiesen, dass die Archive des Orientalismus kollektive westliche Phantasien repräsentieren. Welche Auswirkung die historisch gewachsenen Vorstellungen, Weltbilder und Kollektivsymbole bis heute auf den Umgang mit Bevölkerungsgruppen haben, die als orientalisch wahrgenommen werden, haben Vertreter/innen der postcolonial studies belegt. Das von Said analysierte Orientbild ist zwar strategisch variabel, erfreut sich aber großer Verbreitung; es kursiert als Geisteshaltung in Medien, Politik und Wissenschaft (vgl. Said 2009; Wallerstein 2007, 41 ff.; Reuter und Villa 2009).Footnote 2

Mit der Entstehung von Nationalstaaten gewann das eurozentrische Weltbild eine neue Qualität und legitimierte neue Ausschlussmechanismen. Die Segmentierung der Welt in Nationalstaaten leitete ein ethnisch zentriertes Zeitbewusstsein ein und institutionalisierte ethnisch-national codierte Weltdeutungen, Geschichtsschreibungen und kulturelle Normvorstellungen. Mythen nationaler Homogenität wurden erfunden, neue Einheiten simuliert, Gegensätze erzeugt und Grenzen gezogen, einzelne Sprachen privilegiert, andere unterdrückt und abgewertet. Insofern bedeutete die Konstruktion von Nationalstaaten ein „kontrafaktisches Postulat“ (Hahn 2003, S. 41).

Auch im deutschsprachigen Raum ist dieses Weltbild in den Migrationsdiskurs und in die gesellschaftliche Praxis eingegangen. Es definierte die Koordinaten des Umgangs mit Migration, prägte nach dem Zweiten Weltkrieg die gesellschaftlichen Debatten um die Gastarbeiterzuwanderung und hatte reale soziale Konsequenzen für die Betroffenen. In dem folgenden Zitat aus einer Studie über das „Leben der Kölner Gastarbeiter“ Ende der 1960er-Jahre wird dies besonders anschaulich, vor allem die implizite Verknüpfung von Ethnizität und Geschlecht:

Ein großer Teil der türkischen Gastarbeiter kommt aus Anatolien, also aus zivilisatorisch primitiven Verhältnissen, in denen unsere Gebräuche etwa hygienischer Art unbekannt sind. Sie bringen ein ausgeprägtes und differenziertes Ehrgefühl mit und haben strenge moralische Vorschriften, nicht nur über den Umgang mit Frauen … Die Türken sollen fern bleiben von jenen Berufen, in denen unverbindliche Höflichkeiten gefordert werden (Bingemer et al. 1969, S. 17/20).

Wie dieses negative Rezeptwissen zum Ausgangspunkt weiterer wissenschaftlicher Beobachtungen und Einschätzungen werden kann, zeigt sich beispielsweise in der quantitativen Studie von Paul M. Zulehner über „Kirchen im weltanschaulichen Pluralismus“ in Österreich 2011, für die auch Muslime befragt wurden. In dieser Studie stehen die christlichen Gläubigen im Mittelpunkt, Muslime kommen nur punktuell vor. Problematisch erscheint hierbei, wie schnell der Autor Generalisierungen vornimmt, die wahrscheinlich nur eine kleine Gruppe betreffen. Muslim/innen in Österreich werden darin zunächst als vormodern eingestuft, ihnen wird pauschal eine religiöse Unterwerfungsbereitschaft unterstellt. Bei der zweiten Generation der Muslim/innen löse sich diese Haltung schrittweise auf, so Zulehner. In der Zusammenfassung der Studie wird folgendes Bild gezeichnet:

Außerordentlich dynamisch verläuft die Entwicklung unter den zugewanderten Muslimen. Diese kommen mit einer überaus unterwerfungsbereiten Gläubigkeit nach Österreich. Deren mitgebrachte Lebenshaltung – wir sehen dies am Beispiel der Geschlechterrollen – ist nachhaltig von ihrer „vormodernen“ Heimatkultur (zumeist Anatolien) geprägt. Aber schon bei den jüngeren Muslimen in der ersten Generation, noch mehr aber bei den Angehörigen der zweiten Generation, gerät diese Unterwerfungsbereitschaft in Auflösung (Zulehner 2011, S. 316 f).

Die orientalistischen Befunde solcher Studien können als symptomatisch dafür gelten, dass die so genannte Ausländerforschung und die darauf basierende Ausländerpädagogik keine Ad-hoc-Reaktion auf die Einwanderungssituation nach dem Zweiten Weltkrieg war, auch nicht auf eine überforderte Pädagogik zurückzuführen ist, wie oft behauptet wird, sondern in der historischen Kontinuität eines restriktiven Umgangs mit Migration steht (vgl. Krüger-Potratz 2005).

Die wissenschaftliche bzw. ausländerpädagogische Praxis hat das gesellschaftliche Bild des Migranten als therapiebedürftiges Objekt wesentlich mitgeprägt.Footnote 3 Durch beratende Funktionen in Politik und Medien hat sie wesentlich zur Institutionalisierung und Normalisierung eines hegemonialen Denkens beigetragen. Man kann diesen Prozess ohne weiteres als einen spezifischen Wissensbildungsprozess betrachten, der reale Folgen für die Verortung der betreffenden Bevölkerungsgruppen als Objekte von Untersuchung, Analyse und Klassifikation nach sich zog. Seine symbolischen Kategorien konstruierten Identität, schrieben soziale Rollen zu und operierten dabei als normative, nicht bloß deskriptive Kategorien. Diese wurden zunehmend übertragen auf gesellschaftliche Definitionen von Normalität bzw. Abweichung und übten damit einen erheblichen Einfluss auf das Gesellschaftsverständnis aus.

Betrachtet man die letzten 50 Jahre Migrationsgeschichte im deutschsprachigen Raum, kann man unterschiedliche Phasen ausmachen, in denen eine hegemoniale Geisteshaltung auf je spezifische Weise zum Ausdruck kommt.

  1. A.

    Die erste Phase, die man als die Gastarbeiter-Phase bezeichnen kann, war davon bestimmt, dass die Einwanderer/innen als zeitlich befristete Arbeitnehmer/innen galten – ein Provisorium, das nach einigen Jahren zunehmend problematisch wurde, sowohl für die betroffenen Gruppen als auch für die Betriebe, die nicht jährlich einen Teil ihrer angelernten Belegschaft durch neue ersetzen wollten. Obgleich politisch unerwünscht, etablierte sich im Laufe der 1960er-Jahre „ein selbsttragendes Migrationssystem“ (Perchinig 2010, S. 146). Dies löste in der Öffentlichkeit bald ein soziales Engagement aus, das deutlich von Mitleid bestimmt war. Karitative Institutionen begannen sich zu engagieren und zu spezialisieren. Parallel dazu entwickelte sich eine Gastarbeiterforschung, die sich vor allem mit den sozialen und psychischen Folgen des Lebens in der Fremde beschäftigte.

  2. B.

    Nach der ersten Wirtschaftskrise Anfang der 1970er-Jahre wurde ein Anwerbestopp erlassen, der faktisch aber den Einwanderungstrend verfestigte und die bis dahin Angeworbenen dazu motivierte, ihre Familien nachzuholen. In der Öffentlichkeit wurden sie infolgedessen nicht mehr als Gastarbeiter/innen, sondern pauschal als Ausländer/innen betrachtet. Häufig ist nun von Integration die Rede, worunter die Eingliederung der betroffenen Bevölkerungsgruppen in eine hiesige Normalität verstanden wird. Die einheimische Norm, die als Maßstab dieser Integration galt, wurde nicht genauer definiert, sondern implizit vorausgesetzt. Vor allem die Kinder der Gastarbeiterfamilien standen diesbezüglich bald im Fokus der Aufmerksamkeit.

  3. C.

    Ende der 70er-Jahre verschlechterte sich infolge weiterer Deindustrialisierung und steigender Arbeitslosigkeit die Lage der Migrantinnen und Migranten erneut, was wiederum am Wandel des Sprachgebrauchs abgelesen werden kann. Nun ist zunehmend die Rede von Fremden, die aufgrund ihrer Fremdheit nur schwer integrierbar seien. Öffentliche Debatten beschäftigten sich mit der Frage, wie viel Fremdheit eine Gesellschaft überhaupt verkraften könne.

  4. D.

    Im Laufe der 90er-Jahre konzentrierte sich die Diskussion dann überwiegend auf die türkischen bzw. muslimischen Bevölkerungsgruppen. Dies ist eine indirekte Folge der Formierung der Europäischen Union, deren Bürger/innen nun in allen Mitgliedsländern schrittweise gleichgestellt werden sollten. Auf diese Weise werden türkische und andere Nicht-EU-Bürger/innen automatisch zu einer Einwandererschicht zweiter Klasse, die im Alltag zunehmend benachteiligt, politisch und medial mit dem so genannten Ausländerproblem gleichgesetzt wird. Vermehrt wird über Fragen von ethnischer Identität bzw. Ethnizität sowie kulturelle und „mentale“ Unterschiede zur heimischen Identität debattiert. In diesem Zusammenhang entstand der Mythos von Zerrissenheit und Scheitern zwischen zwei Kulturen, der zunehmend in die schulische Bildungsnormalität Einzug hielt. Das Ausländerproblem wurde verstärkt zum Wahlkampfthema. Konservative und rechtspopulistische Parteien gehen mit rassistischen Slogans auf Stimmenfang. Die Lebenslüge, kein Einwanderungsland zu sein, gerät zur Standardfloskel. Dies führt schließlich zu einer doppelten Ethnisierung: einer Fremd-Ethnisierung durch die Einheimischen und einer Selbst-Ethnisierung der Migrant/innen.

    Begriffe wie Ghetto oder Parallelgesellschaft haben Konjunktur. Konservative und rechtspopulistische Kreise warnen davor, dass Stadtteile zu türkischen bzw. muslimischen Enklaven verkommen würden und man sich in der eigenen Stadt nicht mehr sicher fühlen könne. Auch die Wissenschaft gerät in den Sog dieser populistischen Politik. Besonders nach dem 11. September 2001 richtet sich der Blick auf religiöse Unterschiede, die als unvereinbare Gegensätze gelten, der Islam gerät zunehmend unter Generalverdacht.

  5. E.

    Zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnen sich allerdings auch immer deutlicher Gegenbewegungen ab, die als eine Folge der vorangegangenen Entwicklungen betrachtet werden können: Die Kinder und Enkelkinder der Gastarbeitergeneration haben – auch unter dem Eindruck der Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern – ein völlig neues Selbstverständnis entwickelt. Diese Jugendlichen und Heranwachsenden sind es leid, ausschließlich als Problemfälle wahrgenommen zu werden. Sie sehen sich als Wiener/in, Grazer/in oder Berliner/in und entwickeln eine ironisch-provokante Kanaken- oder Tschuschenkultur (vgl. Yildiz 2010).

Auch wenn in der kritischen Migrationsforschung seit mittlerweile drei Jahrzehnten der paternalistische Charakter, die Sonderpädagogisierung und Defizitorientierung im Umgang mit Migration kritisiert und in den letzten Jahren ein Perspektivwechsel gefordert wird, stellen diese Strömungen innerhalb der Wissenschaft noch immer eine Minderheitenposition dar (vgl. exemplarisch Bukow und Llaryora 1988; Gogolin und Krüger-Potratz 2006; Mecheril 2004). Wie einige aktuelle kritische Migrationsstudien zeigen, sind sie offensichtlich in der sozialen Praxis bis heute nicht angekommen (vgl. Terkessidis 2004; Weber 2013; Weiß 2012). Wenn es um Themen wie Migration, Integration oder Interkulturalität geht, werden bis heute immer wieder aufgeregte Debatten in Gang gesetzt und damit zugleich der Eindruck eines permanenten Ausnahmezustandes vermittelt. Auch heute noch hinterlassen öffentlich geführte Auseinandersetzungen, wissenschaftliche Untersuchungen und die meisten pädagogischen Maßnahmen im Migrationsbereich, auch wenn sie gut gemeint sind, den Eindruck eines Defizits, einer Diskrepanz zwischen Migranten und Normalbürgern. Auf dieser Basis kann man durchaus von einem gutgemeinten Rassismus reden. Dieser absurde ethnisch-nationale Blick bestimmt noch immer die aktuellen Debatten um Migrationsfragen, durchzieht noch immer das Alltagsbewusstsein als eine Art „kulturalistisch verbrämter Rassismus“ (Brumlik 2008, S. 35). Die tiefgreifenden Auswirkungen der defizit-orientierten Repräsentationspraxis sind in allen Gesellschaftsbereichen spürbar.

Die Definition von Migrant/innen als Ausländer/innen, deren Anwesenheit als Störung der sozialen Ordnung wahrgenommen wird, führt zu der Auffassung, dass sie, die als Nicht-Zugehörige ungerechtfertigte Ansprüche auf gesellschaftliche Teilhabe stellen, zu Problemfällen für die Gesellschaft werden. Diese weit verbreitete Wahrnehmung ist letztlich Ausgangspunkt aller Integrationsdebatten: „In jedem Fall steht „der Migrant“ unter besonderer Beobachtung, von ihm wird eine außergewöhnliche Loyalität den herrschenden sozialen Regeln gegenüber erwartet.“ (Mezzadra 2005, S. 794).

Das institutionalisierte polarisierende Denken und die damit normalisierte kulturelle Hegemonie basiert auf einem implizit rassistischen Wissen, das den Umgang mit Migration von Anfang an bestimmt hat.Footnote 4 Die große öffentliche Verbreitung stereotyper Repräsentationen hat dabei eine zentrale politische Dimension: Repräsentieren impliziert nicht nur den Vorgang des Darstellens, sondern zugleich auch einen Akt der Ermächtigung, für oder über Migrant/innen zu sprechen, und ist daher in letzter Instanz nicht zu lösen von strategischen Überlegungen, die wiederum tief in die gesellschaftlichen Machtverhältnisse eingelassen sind. Diese Praxis der stereotypen Re-Präsentation ist ein wesentliches Merkmal des Umgangs mit migrantischer Bevölkerung, historisch gesehen eine spezifisch „westliche“ Art und Weise, gesellschaftliche Phänomene in dichotomischen Gegensätzen zu systematisieren und ihnen Bedeutungen zuzuschreiben.

3 Frauen in der Migrationsforschung

Wenn Feministinnen im Westen von Wir-Frauen sprechen, so ist dieses Sprechen ein ausgrenzendes Sprechen, insoweit mit Wir nie alle Frauen gemeint sind. Das konstruierte Wir bedarf geradezu eines Anderen und schafft dabei die Anderen nicht nur sprachlich (Castro-Varela 2007, S. 257).

Bis in die 1980er-Jahre dominierte eine androzentristische Perspektive die Migrationsforschung. Frauen blieben darin weitgehend unsichtbar, obwohl im Jahr 1973 rund ein Drittel der ersten Gastarbeitergeneration Frauen waren. Wenn überhaupt zur Kenntnis genommen, wurden sie oft nur mit dem Familiennachzug in Verbindung gebracht.

Wie einige Studien zeigen, tauchten die oben beschriebenen eurozentrischen und kulturalistischen Deutungen auch in der interkulturell orientierten Migrantinnenforschung auf – etwa seit Mitte der 1970er-Jahre. Dies fällt mit einer Phase zusammen, in der „Ausländer“ schrittweise als „Fremde“ in die öffentliche Wahrnehmung rückten. Ausgehend von der Modernitäts- und Kulturdifferenzhypothese wurden Migrantinnen als Problemfälle entdeckt. In wissenschaftlichen Publikationen und praxisorientierten Projektberichten rückten mythenartige Darstellungen über patriarchalische Familienformen und unterdrückte zugewanderte Frauen in den Mittelpunkt. Diese Repräsentationen konzentrierten sich vor allem auf Frauen aus der Türkei, die aus einem vermeintlich besonders fremden Kulturkreis stammen. Die auf diese Weise konstruierten Unterschiede wurden vorwiegend negativ bewertet und zu kulturspezifischen Integrationsbarrieren stilisiert (vgl. Gümen 1996, S. 82). Auf diese Weise wurde ein Weiblichkeitskonstrukt entworfen, das auf eurozentrischen und kulturalistischen Erkenntnissen basierte. Mit der Verknüpfung der Differenzkategorien Ethnizität und Geschlecht wurden alte Bilder reproduziert bzw. neue erfunden, die tief ins öffentliche Bewusstsein, ins Alltagswissen eingegangen sind. Die seit 2001 verstärkte Aufmerksamkeit für den Islam und muslimische Differenz verschaffte dem Mythos eine religiöse Basis.

Welche konstitutive Rolle Ethnisierung und Vergeschlechtlichung im Bildungskontext spielen, hat Martina Weber 2013 in ihrer qualitativ ausgerichteten Studie gezeigt. Das Bild der nicht emanzipierten, dem Mann unterworfenen orientalischen Frau wurde zum Objekt einer Integrationspolitik, die das Kulturdefizit der Migrantin zu überwinden trachtet. Das festgeschriebene Rollenbild der orientalischen Frau blieb eine wegweisende Differenzkategorie und wurde zu einem zentralen Kriterium der Beschreibung ethnischer und kultureller Differenz und zur Legitimation von Grenzziehungen im Umgang mit Migration (vgl. auch Huth-Hildebrandt 1999, S. 188 ff.; Weber 2013).

Was aus Frauen Fremde macht, sind ethnische Etiketten, öffentliche Zuschreibungen, die zwar die gesellschaftliche Lage der Betroffenen verzeichnen, gleichwohl aber eine Strategie enthalten, diese Frauen einzuordnen und als Fremde erst real werden zu lassen (vgl. Bukow und Llaryora 1988, S. 2). Als ein Paradebeispiel von vielen kann der Band „Die verkauften Bräute. Türkische Frauen zwischen Kreuzberg und Anatolien“ von Andrea Baumgartner-Karabak und Gisela Landesberger (1978) gelten, der nach seinem Erscheinen breite Resonanz erfuhr. Im Vorwort von Susanne v. Paczensky (1978, S. 7 f.) werden diverse Zuschreibungen zu einem mythischen Gesamtbild verdichtet, wie das folgende Zitat demonstriert:

In der Bundesrepublik und West-Berlin leben rund eine Million Türken, und etwa ein Drittel davon sind Frauen. Sie wohnen mitten unter uns, durchaus nicht unsichtbar, im Gegenteil: durch Kopftuch und Blumenhose, durch Mimik und Verhalten deutlich sichtbar, augenfällig ausgesondert. Sie sind ausgesondert, das heißt, sie sind sonderbar. Sie fügen sich nicht so leicht in den bunten Bevölkerungseintopf der Industriestädte […] Als unverdauliche Fremdkörper leben sie nun in unseren Städten. Kein Wunder, dass sie Vorurteile auslösen: sie stehen vermummt beieinander, sprechen eine unverständliche Sprache, kochen unbekannte Speisen. Sie gehen demütig zwei Schritte hinter ihren Männern her, und selbst die eigenste Domäne der Frau, den Einkauf von Lebensmitteln oder Kleiderstoffen, überlassen sie ihren Männern oder Kindern. Sie widersprechen jedem denkbaren Frauenbild […] Das ganze Wertsystem dieser Frauen stammt aus einer Welt, die dreitausend Kilometer und mehrere Kulturrevolutionen von uns entfernt ist.

Die Überdeutlichkeit, mit der dieses Bild gezeichnet wird, wäre heute wahrscheinlich nicht mehr so möglich, da „politisch inkorrekt“. Solche und ähnliche Studien erschienen jedoch in großer Zahl. Ihre Grundannahmen waren bezeichnend für das damalige feministische Weltbild, wie Elisabeth Beck-Gernsheim zu Recht feststellt: „Solche Arbeiten sind meist von bester Absicht geleitet, doch basieren sie oft auf äußerst dürftigen Kenntnissen, die den großen Abstand zwischen den deutschen Frauen und ihren türkischen Studienobjekten verraten.“ (Beck-Gernsheim 2004, S. 53).

Bis heute wirken diese Bilder in der pädagogischen Praxis nach. Migrantinnen fungieren als Negativfolie, vor der sich das moderne, emanzipierte Leben westlicher Frauen entfalten lässt. Eingewanderte Frauen werden auf einen Opferstatus reduziert und als ethnisch-kulturell bedingt handlungsunfähig hingestellt (vgl. Riegel 2010, S. 249). Die angeführten Beispiele lassen darauf schließen, dass die Befunde der Gastarbeiter- und Ausländerforschung sich in der Öffentlichkeit über Jahrzehnte hinweg normalisiert haben: die hilflose Migrantin, die in patriarchalen Verhältnissen verharrt, ohne je als aktiv handelndes Subjekt in Erscheinung zu treten (vgl. Tuider und Trzeciak 2015, S. 362).Footnote 5

Zuschreibungen verdichten sich schrittweise zu anerkannten Wahrheiten, Behauptungen werden zu ontologischen Gegebenheiten, zu Prämissen des Denkens, die ihre eigene Wirklichkeit erzeugen (Broyles-Gonzáles 1990, S. 111 ff.). „Türkisch-Sein ist zu einer selbstevidenten rhetorischen Figur beziehungsweise zur Metapher des ‚kulturell differenten Anderen‘ geworden“, so Rodríguez (1999, S. 159).Footnote 6 Auch wenn aus einigen Kreisen der Pädagogik und Sozialforschung seit Jahren deutliche Kritik an solchen ethnologischen Pseudodiagnosen zu vernehmen ist, zeigen aktuelle Debatten, wie beharrlich und hartnäckig sie sich in der Öffentlichkeit halten.

Ab Mitte der 1980er-Jahre ist in der Forschung über Migrantinnen ein gewisser Perspektivwechsel zu verzeichnen. Mit den postcolonial studies gerieten eurozentrische Deutungen ins Wanken. Differenzen, die bis dahin eher als negativ wahrgenommen wurden, erfuhren eine positive Umwertung. Auslöser für diese kritische Wendung waren auch die politischen Auseinandersetzungen und Konflikte zwischen westdeutschen Frauen und Migrantinnen. Letztere stellten die ihnen aufgezwungenen Rollen und Bilder, die eurozentrischen und paternalistischen Auffassungen der westeuropäischen Frauen radikal in Frage (vgl. Gümen 1996, S. 84).

Diese kritische Wende führte dazu, dass insbesondere in der pädagogischen Praxis die zuvor negativ konnotierten Differenzen eine gewisse Aufwertung erfuhren (vgl. Gümen, ebd.). Es wurde der Versuch unternommen, neue Wege zu finden, um das hegemoniale eurozentrische Bild zu überwinden. In dieser Phase der Selbstreflexivität setzte man sich für die Anerkennung kultureller Differenzen und gleichberechtigte Kommunikation mit migrantischen Frauen ein. Ein Problem in diesem Kontext war jedoch, dass durch Hervorhebung und Anerkennung kulturspezifischer Unterschiede die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen weitgehend ausgeblendet wurden. Man könnte hier von einem feministisch eingefärbten Euro- bzw. Ethnozentrismus sprechen (vgl. Westphal 1996, S. 24). Implizit blieb der feministische Diskurs damit hegemonialen Vorstellungen der Dominanzkultur verhaftet (vgl. Rommelspacher 1995, S. 109 f.). Da vermeintliche und reale Differenzen nicht im luftleeren Raum entstehen, sollten sie in den historischen und gesamtgesellschaftlichen Kontext gestellt und von dort aus diskutiert werden. Erst dann wird sichtbar, dass Kategorien wie Ethnizität oder Geschlecht und deren Verknüpfung mit strukturellen Machtverhältnissen und sozialen Ungleichheiten verbunden sind. Die Reduktion auf kulturelle bzw. ethnische Differenzen – unabhängig davon, ob sie positiv oder negativ betrachtet werden – führt zur Naturalisierung und Zementierung von Merkmalen. Auch die gutgemeinte Idee, kulturelle Differenzen anzuerkennen und damit aufzuwerten, bleibt im kulturalistischen Interpretationsrahmen und hält weiterhin an einer ethnisch-kulturellen Klassifizierung von Menschen fest (vgl. Gümen 1996, S. 86). In diesem Kontext unterscheidet Siegfried J. Schmidt ontologische Dualismen zur Naturalisierung von Differenzauffassungen und strategische Dualismen, die situativ eingesetzt werden und zur alltäglichen Normalität gehören. Solche kategorialen Klassifikationen haben wirklichkeitserzeugende Effekte, sie generieren Möglichkeiten zur Wahrnehmung von Realität (vgl. Schmidt 2013, S. 46).Footnote 7

4 Die normierende Kraft des ethnischen und geschlechtlichen Denkens

Kategorien von Wir und Nicht-Wir werden durch wissenschaftliche, politische und mediale Praxis geschaffen und weitertradiert. Sind solche Mythen als Hegemoniediskurse erst einmal etabliert, werden sie zu unerschöpflichen Quellen der weiteren Wissensproduktion. Solche historisch entstandenen und in der Gegenwart reproduzierten Wissensordnungen, sprich Machtverhältnisse, kann man in Anlehnung an Michel Foucault (1978) Dispositive nennen. Michel Foucault versteht darunter ein „heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst“ (Foucault 1978, S. 119–120).

Aus meinen bisherigen Ausführungen sollte deutlich werden, dass die strategische Verknüpfung von Ethnizitäts- und Geschlechtsdispositiv ihren eigenen Referenzrahmen, ihre eigene Normalität entfaltet. Sie bilden ein Netz von Praktiken, institutionellen Mechanismen, Handlungen, Diskursen, die sich im Laufe der Zeit zu einem dominanten Erklärungsansatz und zu einer spezifischen Repräsentationspraxis von migrationsgesellschaftlicher Wirklichkeit entwickelt haben. Das hegemoniale Wissen schafft eine spezifische Dominanz, die über jene ausgeübt wird bzw. werden kann, über die das Wissen erzeugt wird. „Diejenigen, die den Diskurs produzieren, haben also die Macht, ihn wahr zu machen – z. B. seine Geltung, seinen wissenschaftlichen Status durchzusetzen.“ (Hall 1994b, S. 154).

Im gesellschaftlichen Umgang mit Migration manifestiert sich dieses Deutungswissen. Es handelt sich dabei nicht einfach um individuelle Vorurteile, sondern um eine gesellschaftliche Wissensordnung, die eine bestimmte Gruppe überhaupt erst erschafft oder sichtbar macht, die dann als problematisch identifiziert werden kann (vgl. Terkessidis 2004). Die Objektivierung des vermeintlich Anderen hat eine normalisierende Wirkung, die tief in die Alltagspraxis hineinreicht. Konflikte und Differenzen werden von da an automatisch als ethnisch-kulturelle, geschlechtsspezifische oder religiöse Probleme identifiziert. Migrant/innen erscheinen potentiell als therapiebedürftig bzw. als „reparaturbedürftiges Objekt“ (Goffman 1973, S. 9). Die erkenntnistheoretische Basis eines solchen ethnischen Rezeptwissens ist eine homogene Gesellschaft der Einheimischen, die einen angemessenen Umgang mit Anderen und Fremden finden müsse. Die ethnische und geschlechtsspezifische Fokussierung von sozialen Konflikten konstruiert schließlich ihre eigene Wirklichkeit und stellt die Grundlage für weitere Interventionen dar, in der Art einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Aus diesem Blick bleibt unerkannt, wie sich die Betroffenen selbst verorten, sich orientieren, welche Elemente sie dabei nutzen, welche neuen Lebensentwürfe sichtbar werden, auf welche Weise sie sich mit den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie leben, auseinandersetzen und eigene, subjektive Lebensstrategien bzw. Handlungsräume entwickeln.

Kulturelle, ethnische oder nationale Sortierungen, die aus Menschen Türken, Marokkaner, Muslime oder einfach Ausländer machen, sie also auf eine ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit reduzieren, ignorieren die Kontexte, in denen sich ihr Leben abspielt, in denen Biographien entworfen und aus unterschiedlichsten Elementen zusammengefügt werden. In der kritischen Migrationsforschung wird seit Jahren ein radikaler Perspektivwechsel gefordert, der aber innerhalb der Forschungslandschaft bis heute marginal geblieben ist.

Die Orientierung an binären Konzepten bleibt in der Alltagspraxis gang und gäbe. Stadtteile mit hohem Migrantenanteil werden reflexartig als Problemviertel betrachtet. Hier handelt es sich nicht nur um ideologische Konstrukte, die sich in den Köpfen der Menschen niederschlagen. Vielmehr geht es um eine soziale Praxis (Pierre Bourdieu), an der viele Instanzen und Akteure beteilig sind. Die binäre Konstruktion „Wir und ethnisch Andere“ erscheint gerade deshalb als eine so stabile Klassifikationskategorie, weil Konzepte von Ethnizität oder Geschlecht vielfältig in die sozialen Strukturen der Gesellschaft eingebettet sind – eine soziale Praxis, mit der Individuen in ihrem Alltagshandeln die Unterscheidung „Wir und die Anderen“ permanent produzieren und reproduzieren. Solche Alltagspraktiken und Regeln scheinen dem Bewusstsein der Akteur/innen nur begrenzt zugänglich zu sein. Sie wirken größtenteils als Routinen, die erst zur Disposition stehen, wenn „Störungen“ auftreten, wo unerwartete oder unbekannte Interaktionsverläufe die Teilnehmer/innen dazu zwingen, ihre Handlungen zu reflektieren. Wenn man neue Perspektiven und Handlungsoptionen entwickeln will, muss man diese soziale Praxis immer vor Augen haben.

Erst jetzt, wo sich die Angehörigen der zweiten und dritten Generation zu Wort melden, ihre eigenen postmigrantischen Verortungsperspektiven entwerfen und daraus neue Handlungsstrategien entwickeln, ergeben sich Probleme für das pädagogische und politische Handeln.

Tunay Önder aus München, Mitbegründerin des Weblogs „Migrantenstadl“, beschreibt diese neue postmigrantische Bewegung so:

Unsere Biographien, Identitäten, Lebenslagen und Perspektiven sind keine Geschichten am Rande der großen bundesrepublikanischen Erzählung. Ich erzähle diese Hintergründe deshalb, weil es wichtige Faktoren sind, die unsere Wahrnehmung und unser Handeln in der Gesellschaft beeinflussten und stets beeinflussen … Deshalb ist es uns wichtig, einen Ort zu schaffen, in dem wir selbst bestimmen, wer wir sind und wie wir sein wollen. Es geht uns darum, selbst zu entscheiden, wie wir das Weltgeschehen wahrnehmen und welchen Erinnerungsarbeiten wir nachgehen (Önder 2013, S. 364).

5 Fazit: Zur Relevanz einer kontrapunktischen Perspektive

Ethnizität und Geschlecht sind keine konstitutiven Konstruktionsbedingungen von Gesellschaften, sondern wurden von Nationalstaaten strategisch als Unterscheidungskategorien eingesetzt, um gesellschaftliche Verhältnisse zu organisieren, Ausschlussmechanismen zu begründen und zu etablieren – eine Art innerer Kolonialismus. Auch die spezifische Verknüpfung beider Differenzkategorien dient dazu, gesellschaftliche Ungleichheiten und Machtasymmetrien nach ethnischen und geschlechtsspezifischen Kriterien zu reproduzieren. Solche Dispositive bzw. deren spezifische Verknüpfung bleiben keine rein akademische Angelegenheit, sondern pflanzen sich als Deutungswissen in politischen Debatten, pädagogischen Maßnahmen und Alltagsdiskursen fort. Damit leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Strukturierung der Handlungsräume von Individuen und Institutionen. Dass in den zunehmend globalisierten und durch Mobilität und Diversität geprägten Gesellschaften scheinbare Differenzen immer neue hybride Formen annehmen (können) und ihnen damit jede kategorische Relevanz für gesellschaftliche Konstruktionen abzusprechen ist, scheint sich als gesamtgesellschaftliche Erkenntnis noch nicht durchgesetzt zu haben.

Umso mehr ist ein umfassender Perspektivwechsel geboten, aus dem heraus Menschen nicht mehr auf ihre ethnische oder religiöse Zugehörigkeit reduziert und auf einen Fremdheitsstatus verwiesen werden, sondern die Gesamtgesellschaft im globalen Zusammenhang gedeutet wird (vgl. Bukow 1988, S. 4).

Darüber hinaus brauchen wir Ansätze, die sich kritisch mit etablierten Wissensordnungen auseinandersetzen und das Phänomen Migration zum Ausgangpunkt des Denkens machen. Dies erfordert eine andere Art und Weise des Herangehens, einen kontrapunktischen Blick, wie ihn Edward Said vorgeschlagen und praktiziert hat. Ein solches Gegen-den-Strich-Lesen bedeutet, den hegemonialen Migrationsdiskurs aus der Perspektive und Erfahrung von Migration zu de- und rekonstruieren. Der Fokus richtet sich dann nicht mehr auf Homogenität oder Eindeutigkeit, sondern auf Widersprüche, Ambivalenzen, Verschränkungen, Überschneidungen und Übergänge, auf geteilte und verschwiegene Geschichten, wodurch andere Wirklichkeitskonstruktionen sichtbar werden. Der kontrapunktische Blick dekonstruiert nicht nur die hegemoniale Normalität, sondern eröffnet neue Perspektiven auf marginalisierte, nicht erzählte Geschichten und alltägliche Erlebnisse (vgl. Hess 2015, S. 49 ff.). Es geht um die „Archive des Schweigens“ (Le Goff 1992), das Ausgelassene, Vergessene, an den Rand Gedrängte, kurz gesagt, um ignorierte Migrationserfahrungen und Geschichten. „Das kontrapunktische Lesen schlägt Risse in die hegemonialen Erzählungen.“ (Maria Castro-Varela 2015, S. 36).

Für den akademischen Diskurs bedeutet das, Migrationsforschung aus ihrer bisherigen Sonderrolle zu befreien und als Gesellschaftsanalyse zu etablieren. So wird Migration zum integrativen Element der Gesellschaft und vom Rand ins Zentrum verlagert. Um es abschließend mit Regina Römhild (2014, S. 263) auf den Punkt zu bringen: „Was fehlt, ist nicht noch mehr Forschung über Migration, sondern eine von ihr ausgehende reflexive Perspektive, mit der sich neue Einsichten in die umkämpften Schauplätze ‚Gesellschaft‘ und ‚Kultur‘ gewinnen lassen.“