Die Frage nach den Mechanismen „Symbolischer Gewalt“ gehört zu den Schwerpunkten der soziologischen Analysen von Pierre Bourdieu. Der Erfolg dieses „Schlüsselkonzepts der bourdieuschen Soziologie“ (Schultheis2008) rührt insbesondere daher, dass es Bourdieu auf eindrucksvolle Weise gelang, die Kämpfe um symbolische Herrschaft und die Prozesse symbolischer Gewalt nicht nur theoretisch und empirisch, sondern auch für unterschiedliche soziale Felder analysiert zu haben, sei es im Kunstbetrieb (vgl. Bourdieu et al.1981), im religiösen Feld (vgl. Bourdieu2000), in der Justiz (vgl. Bourdieu1986), im akademischen Feld (vgl. Bourdieu1988a,1998), im Geschlechterverhältnis (vgl. Bourdieu2005a), in der Sprache (Bourdieu2005b), in der Philosophie (vgl. Bourdieu1988b), in der Politik (Bourdieu und Schwibs1992, S. 174 ff.), in den Distinktionsbemühungen des Lebensstils (vgl. Bourdieu1982) oder im literarischen Feld (vgl. Bourdieu1999). Symbolische Gewalt ist „allen gesellschaftlichen Beziehungen strukturell immanent“ (Moebius und Peter2009a, S. 28).

Bourdieu greift mit seinem Konzept der symbolischen Gewalt auf unterschiedliche soziologische Theoretiker wie Marx, Weber, Elias, Durkheim oder Mauss zurück, wobei die Besonderheit seines Konzepts im Vergleich zu den Klassikern darin liegt, dass er weit mehr als diese auch die körperliche und unbewusst-spontane Dimension von symbolischer Gewalt sowie ihren objektiven Charakter in den Blick nimmt (vgl. Schmidt2009, S. 232). Kennzeichnend für die symbolische Gewalt ist, dass sie auf der symbolisch-sinnhaften Ebene des Selbstverständlichen und Alltäglichen operiert und zur Bejahung, Verinnerlichung und Verschleierung von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen führt (vgl. Moebius2011). Die symbolische Gewalt – ein Ausdruck, den Bourdieu synonym zu symbolischer Macht oder symbolischer Herrschaft gebraucht (zur Problematisierung dieser unscharfen Verwendung der Termini siehe die Beiträge von Lothar Peter und Beate Krais in diesem Heft) – ist vor allem über Kultur, das heißt über die symbolischen Dimensionen des sozialen Lebens, die Sinnbezüge, die Weltansichten und selbstverständlichen Denkweisen vermittelt. „Beide Seiten, die Machthaber und die Machtunterworfenen, müssen über dasselbe Deutungs- und Bewertungssystem verfügen, damit symbolische Gewalt wirksam werden kann“. (Peter2004, S. 49) Nur so kann die symbolische Gewalt eine unanzweifelbare Geltung in der Wahrnehmung der Menschen erlangen: „Von symbolischer Herrschaft oder Gewalt sprechen heißt davon, dass der Beherrschte, von einem subversiven Aufruhr abgesehen, der zur Umkehrung der Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien führt, dazu tendiert, sich selbst gegenüber den herrschenden Standpunkt einzunehmen.“ (Bourdieu2005a, S. 202) Das heißt, die Dominierten tragen paradoxerweise zu ihrer eigenen Unterwerfung bei. Die symbolische Gewalt hat deshalb eine gleichsam „magische“ Kraft (Bourdieu2001, S. 216 f.); sie ist das Ergebnis einer „magischen“ Verwandlung von objektiver gesellschaftlicher Macht in symbolische Macht, die Herrschaftsbestrebungen und Machtpositionen als ihr vermeintliches Gegenteil erscheinen lässt, sei es als selbstlose Liebe (Kirchen und Wohlfahrtsverbände), als natürliche Gegebenheit (wie im Falle der „männlichen Herrschaft“) oder als „durch Zufall“ erlangte Errungenschaften.Footnote 1

Zu den Grundeigenschaften symbolischer Gewalt gehört, dass ihr Repressionsgehalt weder unmittelbar bewusst wird noch offen zutage tritt. Sie ist eine „sanfte Gewalt“, eine Herrschaft über die „Köpfe und Herzen“ (Krais2004, S. 186), die ihren Herrschaft stabilisierenden Effekt in erster Linie dadurch erlangt, dass sie qua Sozialisation – in den Worten Foucaults (1978) – das „Körperinnere durchzieht“. Aktualisiert und verbreitet wird die symbolische Gewalt insbesondere in Kultur produzierenden Institutionen wie im öffentlichen Bildungswesen, in Kirchen, Parlamenten und Medien, in Literatur- und Kunstbetrieben sowie in den Wissenschaften, in Institutionen also, die für gewöhnlich den Ruf genießen, zweck- oder besonders herrschaftsfreie Gebiete zu sein. Dabei ist die Sprache – auch im physischen Sinne als „Technik des Körpers“ (Marcel Mauss) verstanden (Bourdieu und Wacquant1996, S. 184) – ein zentrales Medium symbolischer Macht und Gewalt (vgl. Bourdieu und Wacquant1996, S. 175 ff.,2005b,c), da durch sie die Klassifikationen, Bedeutungssetzungen und Sinngebungen performativ erzeugt und die Machtverhältnisse reproduziert werden (vgl. Bourdieu und Schwibs1992, S. 153). Besonders anschaulich zeigt Bourdieu die symbolische Macht der Sprache in seiner soziologischen Studie zur Heidegger’schen Philosophie (Bourdieu1988b; Bourdieu und Wacquant1996, S. 185 ff.), aber auch in der Analyse eines Interviews mit dem damaligen Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, das die TageszeitungLe Monde im Oktober 1996 veröffentlichte.Footnote 2 Bourdieu zitiert und kommentiert dieses Interview folgendermaßen:

‚Deshalb müssen die öffentlichen Haushalte unter Kontrolle gehalten werden und das Steuer- und Abgabenniveau auf ein langfristig erträgliches Niveau gesenkt, das soziale Sicherungssystem reformiert und die Starrheiten des Arbeitsmarkts abgebaut werden, denn wir werden nur dann wieder eine neue Wachstumsphase erleben, wenn wir‘ – dieses ‚wir‘ ist herrlich [eine Anmerkung Bourdieus] – ‚wenn wir auf dem Arbeitsmarkt eine Flexibilisierungsanstrengung vollbringen‘. Das wär’s. […] Eine vorzügliche rhetorische Leistung, die folgendermaßen übersetzt werden kann: Nur Mut, liebe Arbeiter! Vollbringen wir diese gemeinsame Flexibilisierungsanstrengung, die von euch gefordert wird! (Bourdieu2003, S. 185 f.)

Die neoliberale Anforderung, auf den „Arbeitsmärkten Flexibilisierungsanstrengungen zu vollbringen“ übersetzt Bourdieu: „Gebt heuteeure sozialen Errungenschaften auf, um das Vertrauen der Investoren nicht zu gefährden, und dies zugunsten eines Wachstums, welchesuns morgen zugute kommt“ (Bourdieu2003, S. 186). Die symbolische Macht neoliberaler Rhetorik ist nach Bourdieu bereits so sehr im Alltag verbreitet und verinnerlicht, dass sie „perfekt in den ‚Erwartungshorizont‘ der meisten Tageszeitungsleser passt“ (Bourdieu2003, S. 187). Man liest Bourdieu zufolge über die zitierten Zeilen und die von Tietmeyer intendierten Ziele so leicht hinweg, weil sie mittlerweile zur Struktur unserer inkorporierten Denk- und Beurteilungsschemata geworden sind. Begriffe wie „Flexibilität“, „dauerhaftes Wachstum“, „Vertrauen der Investoren“ oder „Globalisierung“ gelten inzwischen als allgemeine Basistugenden bzw. Verhaltensanforderungen, die sich nicht nur auf den Finanzmarkt beschränken. Sie sind zu kollektiven und kontextübergreifenden Werten geworden:

Dieser sich ökonomisch gebende Diskurs kann sich nur dann über die engeren Kreise seiner Urheber hinaus verbreiten, wenn er auf die Mitarbeit einer großen Anhängerschaft aus Politikern, Journalisten und einfachen Bürgern zählen kann, die über einen ausreichend ökonomischen Anstrich verfügen, um sich an der allgemeinen Verbreitung ungenügend definierter Begriffe aus einer ökonomischen Vulgata beteiligen zu können. (Bourdieu2003, S. 188)

So liegt die symbolische Gewalt des neoliberalen Diskurses darin, dass die hinter Begriffen wie „Flexibilität“ oder „dauerhaftes Wachstum“ liegenden Machtverhältnisse unklar werden und die Beherrschten sie zunehmend mit positiven Erwartungen besetzen. Es findet eine Verklärung von Machtbeziehungen zu Sinnbeziehungen statt (vgl. Peter2004).

In einem Interview mit Effi Böhlke spezifiziert Bourdieu sein Konzept folgendermaßen:

Um das Problem der symbolischen Macht und ihrer spezifischen Wirksamkeit adäquat zu stellen, muss man m. E. die traditionelle Frage nach den Beziehungen zwischen Ökonomie und den anderen ‚Instanzen‘ konsequent fallenlassen. Die symbolische Macht ist eine Macht, die jedesmal ausgeübt wird, wenn eine Macht (oder ein Kapital) ökonomischer oder auch physischer (die Kraft als Zwangsinstrument), kultureller oder sozialer Art in die Hände von Agenten gelangt, deren Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien den Strukturen dieser Macht, oder genauer gesagt, ihrer Verteilung angepasst sind und die daher dazu neigen, sie als natürlich, als selbstverständlich wahrzunehmen und die ihr zugrundeliegende willkürliche Gewalt zu verkennen, sie also als legitim anzuerkennen. (Bourdieu2007, S. 265)

„Verkennen“ meint nach Bourdieu:

[…] den Tatbestand, eine Gewalt anzuerkennen, die genau in dem Maße ausgeübt wird, wie man sie als Gewalt verkennt; den Tatbestand also, jenes Ensemble der grundlegenden, vor-reflexiven Voraussetzungen zu akzeptieren, die die sozialen Akteure schon dadurch mitmachen, daß sie die Welt als etwas Selbstverständliches nehmen, das heißt so, wie es ist, und sie natürlich finden, weil sie kognitive Strukturen auf sie anwenden, die aus eben diesen Strukturen der Welt hervorgegangen sind. (Bourdieu und Waquant1996, S. 205)

Wirkt die symbolische Gewalt durch (unbewusste) Ver- und Anerkennung der Beherrschten, durch eine Art „Beziehung hingenommener Komplizenschaft, die bewirkt, daß bestimmte Aspekte dieser Welt stets jenseits oder diesseits kritischer Infragestellung stehe “ (Bourdieu2005c, S. 82), so werden aber auch die Herrschenden von der symbolischen Gewalt beherrscht. So schreibt Bourdieu (2004, S. 16) in seiner bildungssoziologischen Studie über denStaatsadel:

Wenn es richtig ist, an den Eigenbeitrag der Beherrschten zur Herrschaft zu erinnern, so ist sogleich daran zu erinnern, daß die Dispositionen, die sie zu dieser Mitwirkung verleiten, gleichfalls ein – inkorporierter – Herrschaftseffekt sind, genauso wie, nebenbei bemerkt, die Dispositionen, die dafür verantwortlich sind, daß, nach einem Wort von Marx, ‚die Herrschenden von ihrer Herrschaft beherrscht‘ werden. (Siehe dazu auch Beate Krais in diesem Heft.)

Fasst man die wesentlichen Punkte symbolischer Gewalt zusammen (vgl. Mauger2005, S. 218 ff.), dann wirkt sie erstens vornehmlich durch Sprache, Kommunikationsbeziehungen sowie durch Denk- und Wahrnehmungsschemata. Ausgeübt wird sie zweitens durch Gesten, Rituale, Verhaltensweisen und Dinge. Hierbei geht es in einer Art „Amnesie der Entstehungsgeschichte der symbolischen Gewalt“ vor allem um die Verschleierung, Kaschierung und Naturalisierung der Machtverhältnisse (z. B. die Naturalisierung der männlichen Herrschaft), woraufhin die Macht legitimiert wird. Drittens setzt symbolische Gewalt voraus, dass die Machtverhältnisse, auf denen die Gewalt beruht, verkannt und zugleich „die Prinzipien, in deren Namen sie ausgeübt wird, anerkannt werden“ (Mauger2005, S. 218).

Um die Mechanismen symbolischer Gewalt adäquat aus den Alltagsvorstellungen und -praktiken herauszudestillieren, sie analysieren und interpretieren sowie kritisch hinterfragen zu können, bedarf es eines durch die soziologische Analyse herbeigeführten Bruchs mit dem Alltagsverständnis (derdoxa), wie Bourdieu et al. (1991) in ihrem wissenschaftstheoretischen BuchSoziologie als Beruf ausführlich darlegen. Wie bereits der Wissenschaftshistoriker Gaston Bachelard hervorgehoben hat, auf den Bourdieus Überlegungen zum Bruch mit der „Spontansoziologie“ beruhen (vgl. Moebius und Peter2009b), lassen sich erst durch diesen Bruch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Tage fördern und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse offen legen (vgl. auch Bourdieu und Wacquant1996, S. 205). Deshalb beanstandet Bourdieu an der gegenwärtigen Soziologie nicht nur eine dem Alltagsverständnis verwandte Sichtweise der sozialen Welt, sondern kritisiert auch jene „Spielarten“ der Soziologie, die nur deshalb auf den ersten Blick eine besondere Evidenz erlangen, weil sie „ihre wissenschaftliche Fragestellung um Termini aus dem vertrauten Wortschatz der Alltagssprache aufbauen“ (Bourdieu et al.1991, S. 26). In der Soziologie seien Mischtermini oder Mischschemata besonders beliebt, die ihre „pseudo-explikative Leistung“ genau dieser doppelten Zugehörigkeit zu den „naiven wie wissenschaftlichen Äußerungen“ verdanken und „ihre Herkunft aus der Umgangssprache unter dem Zierrat des wissenschaftlichen Jargons“ kaschieren (Bourdieu et al.1991, S. 27) – man denke etwa an Begriffe wie „Massen-“, „Informations-“ oder „Kommunikationsgesellschaft“.

Die Bourdieu’schen Analysen der Prozesse symbolischer Gewalt zeigen eindrucksvoll die Notwendigkeit eines solchen epistemologischen Bruchs mit dem Alltagsverständnis und führen damit die Notwendigkeit und Aktualität kritischer Soziologie vor Augen (vgl. Peter2006a) – einer kritischen Soziologie, die sich nicht nur auf eine Explikation der kritischen Haltungen der sozialen Akteure im Alltag, auf eine „Soziologie der Kritik“ (Boltanski und Thévenot2007; vgl. auch Basaure2008; Bogusz2010, S. 127 ff.) also, beschränken mag,Footnote 3 sondern tiefer schürft, in dem sie eine Kritik des Selbstverständlichen und (angeblich) natürlich Gegebenen vornimmt, die den Herrschaftscharakter gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen erkennbar macht und jene Begriffe, Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensschemata kritisch dekonstruiert, „die gesellschaftliche Herrschaft ausblenden, verharmlosen, verschleiern oder rechtfertigen.“ (Peter2006b)

Wirft man einen Blick auf die gegenwärtigen deutschsprachigen Rezeptionen des Konzepts symbolischer Gewalt, so lassen sich insbesondere folgende Rezeptionslinien ausmachen: Neben theoretischen Vertiefungen, Systematisierungen und Diskussionen des Konzepts (vgl. etwa Neckel2002; Peter2004; Mauger2005; Rehbein2006; Celikates2009; Moebius2011; Schmidt2009) existieren erstaunlicherweise immer noch relativ wenige Forschungen und Studien, die das Konzept empirisch anwenden (vgl. Schmidt2009, S. 234). Die derzeit vorliegenden Arbeiten kommen vornehmlich aus der Frauen- und Geschlechterforschung (zuerst: Krais1993; vgl. des Weiteren Dölling und Krais1997; Bock et al.2007, S. 63−140) sowie aus einer geschlechtersoziologisch orientierten Bildungs- und Wissenschaftssoziologie (vgl. etwa Engler1993; Engler2001; Beaufays2003). Einen entscheidenden Schritt in Richtung einer gesellschaftsanalytischen Anwendung stellt in jüngerer Zeit der SammelbandSymbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu, herausgegeben von Schmidt und Woltersdorff (2008) dar. Neben werkgeschichtlichen und theoretischen Aufsätzen zur Genese des bourdieuschen Schlüsselkonzepts (Schultheis2008) oder zur Herrschaft sichernden Funktionsweise symbolischer Gewalt (Krais2008) finden sich dort auch Beiträge, die das Konzept hinsichtlich bildungs-, wissenschafts-, medien-, politik- sowie arbeitssoziologischer Perspektiven diskutieren und zur Anwendung bringen. Mit der Produktivität des Bourdieu’schen Denkens für die Kulturwissenschaften befassen sich schließlich die Beiträge in dem jüngst erschienenen, breit angelegten SammelbandBourdieu und die Kulturwissenschaften Prinz/Schäfer/Šuber), der in Teil III (S. 157−201) Untersuchungen und Analysen vorstellt, die sich mit der symbolischen Gewalt in medialen Repräsentationen befassen: Repräsentationen von Klasse und Geschlecht im Hollywoodfilm (Prinz und Clauss2011), Konstruktionen des Fremden in Banlieu-Berichterstattung und popkulturellen Darstellungen (Keller2011), symbolische Gewalt aber auch in aktuellen Diskursen um Neo- und Antifeminismus (Dölling2011).

Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt weist große Ähnlichkeiten mit anderen derzeit in der Soziologie und den Kulturwissenschaften verstärkt debattierten Konzeptionen gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse auf; Konzeptionen, wie sie etwa in Anschluss an Michel Foucaults Begriff der produktiven Macht in den Gouvernementalitätsforschungen (governmentality studies) und in poststrukturalistischen Sozialwissenschaften (vgl. Moebius2008) sowie in den Diskussionen um einen „Neuen Geist des Kapitalismus“ (Boltanski und Chiapello2003) ausgearbeitet wurden. Wie das Konzept der symbolischen Gewalt thematisieren auch diese Machtkonzeptionen Formen von Macht und Gewalt, die nicht in erster Linie über (physischen) Zwang ausgeübt werden, sondern über diskursive und nicht-diskursive Verfahren der Ausrichtung der Körper, der identifikatorischen Bindung an bestimmte, von der symbolischen Ordnung vorgegebene Identitäten, der Produktion bestimmter Subjektpositionen und kognitiver Ordnungsschemata (Episteme, Wissen), die alternative Deutungs- und Wissensmuster als nicht denkbar, sichtbar und sagbar erscheinen lassen, sowie über die Modellierung der Zeit-Raum-Vorstellungen, der Praktiken der Selbstbildung und der Wahrnehmungs- und Verhaltensschemata.

Inwiefern ist das Bourdieu’sche Konzept der symbolischen Gewalt mit diesen neueren Konzeptionen zu vereinbaren? Sind es ähnliche Konzepte, die allenfalls unter einem anderen Namen diskutiert werden? Oder kann man die unterschiedlichen Machtkonzeptionen als komplementär betrachten? Welche Potenziale für die soziologische Forschung hält Bourdieus Konzept noch bereit? Wo sind etwaige Kritiken an diesem Konzept vorzubringen? In welchem Verhältnis steht Bourdieus herrschaftskritische Soziologie zu den gegenwärtigen Diskussionen um eine „Soziologie der Kritik“?

Ausgehend von diesen Fragen will das vorliegende Themenschwerpunktheft der ÖZS Bourdieus Konzeption der symbolischen Gewalt näher beleuchten. Besonders ertragreich für ein solches Vorhaben erschien es uns, die Produktivität dieser Konzeption zum einen im Theorievergleich herauszuarbeiten und sie zum anderen anhand der Untersuchung ausgewählter sozialer Bereiche auszuloten, in denen die symbolische Gewalt ihre „magische“ Kraft entfaltet. Nach einem einführenden Beitrag vonLothar Peter, der Bourdieus Überlegungen im Rahmen theorie- und begriffsgeschichtlicher Entwicklungen vorstellt und zu systematisieren und weiterzuentwickeln sucht, wendet sichBeate Krais den Geschlechterverhältnissen und der männlichen Herrschaft zu. Ihr Beitrag zeichnet unter Rekurs auf Bourdieus Habitus-Konzept nach, worauf die verdeckte Gewaltförmigkeit inkorporierter Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata beruht und weshalb die männliche Herrschaft mit Bourdieu als paradigmatische Form symbolischer Gewalt zu begreifen ist, der die Beherrschten ebenso unterliegen wie die Herrschenden. Gleichsam kontrapunktisch fragtPaula-Irene Villa im nächsten Schritt nicht nach der ‚magischen‘ Kraft, sondern nach den Möglichkeiten der Kritik und des Scheiterns symbolischer Gewalt. Villa vergleicht Bourdieus Konzept symbolischer Gewalt mit Judith Butlers Überlegungen zu Sprache, Gewalt und Subjektkonstitution und findet erst bei Butler systematische Ansatzpunkte dafür, die magischen Verblendungen konterkarieren zu können, die diskursiv verfassten Vergesellschaftungs- und Anerkennungsverhältnissen inhärent sind. In anderer Weise um die Frage nach den Möglichkeiten der Kritik geht es in dem Beitrag vonGabriele Wagner und Günter Voswinkel; für sie stellt sich diese Frage in einem gesellschaftstheoretischen und gegenwartsdiagnostischen Rahmen. Wagner & Voswinkel konstatieren für die Gegenwart eine allgemeine Sprachlosigkeit der Kritik am Kapitalismus, die sie in Anlehnung an die Überlegungen zum „Neuen Geist des Kapitalismus“ von Boltanski & Chiapello auf die symbolische Macht gegenwärtiger Individualisierungssemantiken und Rechtfertigungsordnungen zurückführen, angesichts derer eine Erneuerung der Kritik überfällig sei, wie sie allererst eine reflexive Verbindung von kritischer Soziologie und Soziologie der Kritik leisten könn(t)e. Auch im letzten Beitrag des Heftes werden Bourdieus Überlegungen zur symbolischen Gewalt im Theorievergleich erörtert. Anne Waldschmidt fragt danach, wie sich die soziale Konstruktion von (Nicht-)Behinderung soziologisch denken lässt und zeichnet nach, welche je verschiedenen Facetten dieses Konstruktionsprozesses in den Blick kommen, wenn man ihn im Anschluss an Goffmans Stigmatheorie, im Rahmen von Foucaults Diskurs- und Machttheorie oder mit Bourdieu als Effekt symbolischer Gewalt untersucht. Ihr Fazit, mit Bourdieu ließe sich Behinderung als „eine in ihrem Herrschaftscharakter gründlich verkannte, weil legitimierte Devianz“ (S. 12) denken, weist am Schluss dieses Heftes auf die herrschaftskritischen Potenziale hin, die Bourdieus Denken – allen diesbezüglichen Zweifeln zum Trotz – bis heute inhärent sind.

Das vorliegende Themenheft zur „Symbolischen Gewalt“ könnte deshalb, wie wir hoffen, vor allem für die zukünftigen Theoriedebatten gewinnbringend sein, die verstärkt nach einem soziologisch produktiven, die unausgesprochenen, impliziten und oft unerkannten gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse aufdeckenden Analysekonzept von Macht suchen und Soziologie nicht nur alsl’art pour l’art betreiben, sondern sie als kritische, auf der Ebene wissenschaftlicher Standards operierende Reflexion und Problematisierung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse verstehen, die immer auch abzielt auf eine Offenlegung der sozialen, ökonomischen, geschlechtlichen und ethnischen Ungleichheiten.