1 Einleitung: Ein neuer Klassenkonflikt?

Die zunehmende Auseinanderentwicklung von Zentren und Peripherie, indiziert durch das Bevölkerungswachstum in den großen Städten und die Abwanderung aus ländlichen Regionen sowie die ungleiche Entwicklung von Arbeitsmärkten und Immobilienpreisen, wird in Deutschland seit einigen Jahren öffentlich diskutiert (vgl. Bangel et al. 2017; Hauser 2018; Kaube 2020; Eckert 2019). Aus der Perspektive sozialer Ungleichheit besonders relevant sind in diesem Zusammenhang Unterschiede in der Entwicklung der Sozialstruktur zwischen den Metropolen auf der einen und den ländlichen und kleinstädtischen Gebieten auf der anderen Seite. Prägnant wurde diese Diagnose von Rainer Hank (2019) in der FAZ präsentiert: „Es gibt eine soziale Entmischung – schleichend, aber dramatisch. Die neue Klassengesellschaft verfestigt sich: ‚Unten‘ heißt Land. ‚Oben‘ heißt Großstadt.“ Aus einer sozialtheoretischen Sicht hat in jüngster Zeit Andreas Reckwitz das Thema aufgegriffen und die Verfestigung räumlicher Konturen und Konfliktlinien sozialer Ungleichheit in den Stand eines Wesensmerkmals der „spätmodernen“ postindustriellen Sozialstruktur erhoben (Reckwitz 2019, S. 118). Unseres Wissens fehlen allerdings empirische Analysen, die die räumlichen Ausdrucksformen des Wandels der Schichtungs- oder Klassenstrukturen in der postindustriellen Gesellschaft nachzuweisen versuchen. Zwar wurden die Sozialstrukturen von Städten oder Gemeinden (vgl. Warner und Lunt 1941; Mayntz 1958), die soziale Segregation innerhalb von Städten (Duncan und Duncan 1955), Stadt-Land-Konflikte (Geiger 1949) sowie horizontale Disparitäten und soziale Benachteiligungen in peripheren Regionen (Bergmann et al. 1969) in wegweisenden Studien behandelt. Jedoch hat sich die Ungleichheits- und Sozialstrukturforschung in den vergangenen Jahrzehnten nur wenig mit den räumlichen oder geografischen Ausprägungen sozialer Ungleichheit befasst, und es wurde ihr folgerichtig „Raumblindheit“ (Dangschat 1994) attestiert.

In diesem Beitrag möchten wir mit Daten des Mikrozensus der Frage nachgehen, ob sich die sozioökonomischen Klassen in Deutschland seit den 1990er-Jahren zunehmend räumlich entmischt haben und die Sozialstruktur durch eine verstärkte Polarisierung „zwischen Stadt und Land“ geprägt wird. Wir gehen insbesondere auf die These ein, dass sich die „neue“ in der postindustriellen Wissensökonomie beheimatete Mittelklasse vor allem in den Metropolen konzentriert (Reckwitz 2019, S. 120) und die großen Städte folglich sozialstrukturell von dieser Klasse dominiert werden, während parallel der kleinstädtische und ländliche Raum unter einem „Brain Drain“ (Reckwitz 2019, S. 119) leidet und dort die „alte“ Mittelklasse und die „unteren“ Klassen zunehmend unter sich bleiben. Empirisch untersuchen wir daher erstens die Veränderungen der sozialen Zusammensetzung in den Metropolen und Landgemeinden bzw. Kleinstädten und zweitens die Veränderungen in den Wohnstandorten der verschiedenen sozioökonomischen Klassen. Der betrachtete Zeitraum 1996–2018 deckt weite Phasen der Entwicklung nach der deutschen Einheit ab. Die Zeitspanne von mehr als 20 Jahren sollte hinreichend lang sein, um die unterstellten Dynamiken des Wandels empirisch aufzuzeigen, da insbesondere die 2010er-Jahre einen verstärkten Zuzug in die Metropolen verzeichneten (Nobis et al. 2019), welcher erst durch die Covidpandemie (vorläufig) gebremst wurde (BiB 2020; Niewel und Vollmuth 2021).

Der Beitrag hat eine primär beschreibende Zielstellung. Die von uns genutzte Datenbasis erlaubt keine unmittelbaren Analysen von räumlicher Mobilität, sondern nur der sozialstrukturellen Ergebnisse von Mobilität in Form von Verschiebungen in den Verteilungen der Wohnorte der verschiedenen Gruppen. Empirisch werden wir die von Reckwitz postulierte Drei-Klassen-These mit den neuen und alten Mittelklassen sowie einer prekären Klasse anhand der sozioökonomischen Position (für die wir das ESeC-Klassenschema heranziehen) operationalisieren. Um die genannten Prozesse zu rekonstruieren, verwenden wir insgesamt fünf Scientific Use Files des Mikrozensus (1996, 2000, 2004, 2012, 2018). Die hohen Fallzahlen erlauben eine differenzierte Abbildung der sozioökonomischen Lagen, Altersgruppen (Kohorten) und des Migrationsstatus. Die Scientific Use Files des Mikrozensus ermöglichen zwar nur eine einfache Unterteilung von Ortsgrößen, jedoch ist diese hinreichend, um die im Zentrum des Interesses stehenden (Dienstleistungs‑)Metropolen auf der einen Seite und Kleinstädte und ländliche Gebiete auf der anderen Seite voneinander abzugrenzen.

2 Wandel sozialer und räumlicher Ungleichheit

2.1 Die These der Drei-Klassen-Gesellschaft

Andreas Reckwitz (2017, 2019) hat die Diagnose ausgearbeitet, dass eine zunehmende räumliche Polarisierung der Sozialstruktur in einem engen Zusammenhang mit dem sozioökonomischen und soziokulturellen Wandel der letzten Jahrzehnte steht. Die grundlegende These lautet, dass sich in der postindustriellen, zunehmend auf Wissensarbeit beruhenden Gesellschaft eine neue akademisch geprägte Mittelklasse herausgebildet, genauer gesagt aus einer ehedem breiten Mittelschicht herausgelöst hat (Reckwitz 2017, S. 274 ff., 2019, S. 73 ff.).Footnote 1 Dieser Klasse wird nicht nur eine veränderte beruflich-ökonomische Basis in der Wissensökonomie, sondern auch alltagskulturell ein distinktiver und demonstrativer Habitus der erfolgreichen Selbstentfaltung (Reckwitz 2019, S. 91 ff.) zugeschrieben. Ihr bevorzugter Standort in den Metropolen und deren zentrumsnahen Stadtvierteln sei nicht nur Produkt oder Nebenfolge erwerbsbedingter Notwendigkeiten, sondern als Ort der Manifestation des Status und Arena demonstrativer Selbstverwirklichung oder einer Kultur der Singularisierung für diese Klasse konstitutiv und identitätsprägend (Reckwitz 2017, S. 315 f.). Den neuen Mittelklassen und ihren distinkten Interessen und Wertemustern wird zudem eine prägende Wirkung auf Kultur, Angebote und Architektur der Metropolen zugesprochen (Reckwitz 2019, S. 91 ff., 121), d. h. diese Gruppen können nicht zuletzt aufgrund ihrer angenommenen Größe den Standorten auch kulturell ihren Stempel aufdrücken.

In Bezug auf die räumliche Eingrenzung der beschriebenen Prozesse weisen die Ausführungen allerdings Unschärfen auf. Reckwitz spricht von „einer räumlichen Polarisierung sowie einer daraus folgenden räumlichen Logik von Auf- und Abwertung, die sowohl auf der Makroebene der Regionen als auch auf der Mikroebene der Stadtviertel stattfinden“ (Reckwitz 2019, S. 119). Als Beispiele für die „global miteinander vernetzten Metropolregionen“ (Reckwitz 2019) in Deutschland werden München, Berlin, Stuttgart und Frankfurt am Main genannt, wobei zugleich die Begriffe Metropolregion, Metropole, Stadt und urbane Zentren (Reckwitz 2019, S. 91, 119, 121 f.) nicht erkennbar voneinander abgegrenzt werden. Aus inhaltlichen Gründen halten wir es allerdings für nicht sinnvoll, den von Reckwitz häufig verwendeten Begriff der Metropolregion im Wortsinn mit der politischen Raumordnungskategorie gleichzusetzen.Footnote 2 Dagegen spricht nicht zuletzt, dass die neue Mittelklasse als „urbane Klasse“ (Reckwitz 2019, S. 91) beschrieben wird, für die das „Erleben von Urbanität“ (Reckwitz 2017, S. 316) in den „‚begehrten‘, attraktiven Wohnvierteln“ der „spätmodernen Metropolen“ (Reckwitz 2019, S. 122) einen besonderen Stellenwert hat. Wir gehen daher davon aus, dass die neue Mittelklasse und ihre auf Singularität und Valorisierung (Reckwitz 2017, S. 319 f.) ausgerichteten Lebensstile bevorzugt in den Dienstleistungsmetropolen (und in diesen häufig in spezifischen Stadtvierteln) anzutreffen sein sollten – und weit weniger in suburbanen Standorten oder sogar breit definierten Metropolregionen.

Der neuen Mittelklasse stellt Reckwitz die mit geringerem kulturellen Kapital ausgestattete, nicht akademisch geprägte alte Mittelklasse entgegen. Diese rekrutiert sich vor allem aus den Segmenten der Facharbeiter, mittleren Angestellten und Beamten sowie kleinen Selbständigen (Reckwitz 2019, S. 97) und weist einen konventionellen und selbstdisziplinierten Habitus auf. Anders als die Kosmopoliten der neuen Mittelklasse wird sie als in der Tendenz sesshaft, lokal und regional verankert beschrieben. Sie „ballt … sich in den Klein- und Mittelstädten sowie im ländlichen Raum“ (Reckwitz 2019, S. 98). Die alte Mittelklasse wird laut Reckwitz in der postindustriellen Ökonomie und Kultur aus der gesellschaftlichen Mitte zunehmend an den Rand gedrängt, sie werde sowohl kulturell entwertet als auch räumlich deklassiert (Reckwitz 2019, S. 100).

Das hier gezeichnete Ungleichheitsbild vervollständigt sich – abgesehen von der kleinen Oberklasse – durch eine in sich heterogene prekäre Klasse, die sich aus den von der Deindustrialisierung betroffenen Arbeitern und dem neuen Dienstleistungsproletariat zusammensetzt (Reckwitz 2019, S. 103) und ebenfalls vorrangig im ländlichen und kleinstädtischen Raum lebt (Reckwitz 2019, S. 121). Weitere Differenzierungen erfolgen nach den Kategorien Geschlecht, Migration und Milieu. Von diesen ist für uns die Unterscheidung von einheimischer und migrantischer Bevölkerung (und ihrer Nachkommen) besonders relevant. Anders als die im ländlichen und kleinstädtischen Raum angesiedelten einheimischen mittleren und unteren Klassen werden die Migranten nämlich unabhängig von ihrer Klassenlage überwiegend in den Metropolregionen verortet: „Dies bedeutet, dass in den Metropolregionen nicht nur die migrantische neue Mittelklasse lebt, sondern auch der Großteil der Migranten der alten Mittelklasse sowie der neuen Unterklasse“ (Reckwitz 2019, S. 121). Hieran schließt sich die Diagnose an, dass das neue städtische Dienstleistungsproletariat stark durch Migranten oder Personen mit Migrationshintergrund geprägt ist (Reckwitz 2019, S. 103, 121 f.).

Die Annahme eines zunehmenden strukturellen und kulturellen Klassengegensatzes, der sich auf der räumlichen Ebene abbildet, wurde nicht zuletzt auch auf politische Zeitdiagnosen rund um den Rechtspopulismus angewendet (Reckwitz 2019, S. 95, 126 ff., 2021, S. 52 ff.). Hier steht die These im Raum, dass die Auseinanderentwicklung der Lebensbedingungen und Werte zwischen den Gewinnern und Verlierern des ökonomischen und technologischen Wandels zu neuen politischen Konfliktlinien führt. Demnach begünstige nicht zuletzt die soziale Entmischung von Stadt und Land die gegenseitige Abschottung der „Sinnwelten“ und Milieus und das Entstehen von sich selbst bestätigenden sozialen und kommunikativen Lebenswelten (mit traditionellen und in Teilen abwehrenden Haltungen gegenüber den Normen und Werten der universalistischen, kosmopolitischen Elite). Die zunehmende sozialräumliche Separierung verstärkt in dieser Lesart die politischen Konfliktlinien zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen.

2.2 Empirische Evidenzen zur sozialen und räumlichen Polarisierung in Deutschland

Da die von Reckwitz präsentierte Analyse des postindustriellen sozialstrukturellen Wandels an vielen Stellen skizzenhaft ausfällt, stellt sich die Frage, inwieweit empirische Befunde zum (berufs-)strukturellen, räumlichen und demografischen Wandel die Diagnosen stützen.

Ein erster Punkt betrifft die angenommenen strukturellen Verschiebungen zwischen verschiedenen (Berufs‑)Klassenpositionen. Die empirische Forschung zum Wandel der Sozialstruktur Deutschlands hat als zentrale Entwicklung das größenmäßige Wachstum der Dienstklasse, insbesondere der oberen Dienstklasse, aufgezeigt (Pollak und Müller 2020). Zugleich hat die interne Differenzierung derselben zugenommen (Oesch 2006; Hertel 2020). Während sich die Anteile der verschiedenen Fraktionen der oberen Klassen seit den 1970er-Jahren verzwei- bis verdreifacht haben, hat sich der Anteil der industriellen Arbeiterschaft und insbesondere der Facharbeiterklasse quasi halbiert (Hertel 2020). Das Wachstum der einfachen Dienstleistungstätigkeiten war dagegen eher moderat (Hertel 2020), sodass dessen gesamtgesellschaftliche Bedeutung häufig überschätzt wird. Aus einer eher schichtspezifischen Perspektive auf die Einkommensverteilung wurde zudem aufgezeigt, dass seit der Jahrtausendwende ökonomisch prekäre und armutsgefährdete Gruppen anteilsmäßig gewachsen sind (Niehues 2017) und insgesamt die Einkommensungleichheit in Deutschland zugenommen hat (Groh-Samberg 2019).

In Bezug auf die sozialräumliche Dimension ungleicher Lebensverhältnisse sind der Abstieg von peripheren und/oder deindustrialisierten Regionen und der gleichzeitige Aufstieg postindustrieller Wirtschaftszentren und Metropolen im Zuge der Globalisierung (Dauth et al. 2012) und des ökonomischen Strukturwandels (Goebel und Hoppe 2015) empirisch dokumentiert. Ebenso wurde aufgezeigt, dass mit der regional ungleichen ökonomischen Entwicklung disparate Bevölkerungsentwicklungen einhergegangen sind. Die Metropolen haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein Bevölkerungswachstum und periphere und altindustrielle Regionen einen Rückgang erlebt. So haben 12 der 15 größten deutschen Städte seit dem Jahr 2000 einen teilweise deutlichen Einwohnerzuwachs verzeichnet, mit den Ruhrgebietsstädten Duisburg, Essen und Dortmund als Ausnahmen (Statistisches Bundesamt 2020). In ähnlicher Weise ist in vielen Metropolregionen Europas das Wachstum einer zunehmend heterogenen Bevölkerung zu beobachten (Salvati et al. 2019, S. 22). Ebenfalls im Einklang mit den Thesen von Reckwitz haben Studien gezeigt, dass sich die Sozial- und Berufsstrukturen zwischen Metropolen und anderen Stadttypen unterschiedlich entwickelt haben. Demnach haben in den Dienstleistungsmetropolen neben hoch qualifizierten Berufen auch einfache Dienstleistungsjobs zugenommen, während industrielle (einfache) städtische Arbeitsplätze verloren gegangen sind und der Anteil der Bevölkerungsgruppe der mittleren Einkommensbezieher aus der „industriellen Mittelschicht“ zurückgegangen ist (Goebel et al. 2012; Goebel und Hoppe 2015). Geografische und demografische Studien haben weiterhin die Annahme bestätigt, dass das Wachstum in den deutschen Metropolen von den jüngeren Gruppen getragen wurde. So haben die Anteile der Unter-50-Jährigen, die in den Metropolen leben, seit der Jahrtausendwende zugenommen (Nobis et al. 2019, S. 22). Sander (2014) hat für Deutschland im Zeitraum 1995–2010 gezeigt, dass in den Agglomerationskernen ein Zustrom von jungen Erwachsenen und gleichzeitig eine teilweise verringerte durch Familien getragene Suburbanisierung erfolgt ist (Sander 2014, S. 243). Letztere variiert abhängig von regionalen Wohnungsmärkten. Insbesondere Hamburg und die im weiteren Sinne süddeutschen Metropolen Frankfurt, München und Stuttgart sind demnach durch einen anhaltenden Suburbanisierungsdruck geprägt (Sander 2014, S. 241).

Zusammenfassend untermauern die genannten Studien charakteristische sozialstrukturelle räumliche Entwicklungen, die das Modell der Drei-Klassen-Gesellschaft tendenziell unterstützen: Das Schrumpfen der Arbeitersegmente und das Wachsen der wissensintensiven Dienstleistungen, die als Repräsentanten einer neuen Mittelklasse verstanden werden können, sowie die Zunahme einfacher Dienstleistungsjobs, die potenziell ein neues „Dienstleistungsproletariat“ begründen. Insbesondere die Jüngeren und höher Qualifizierten sowie die migrantische Bevölkerung gelten als Treiber des Wachstums der Metropolen, während in den großen Städten die Kategorie der Facharbeiter tendenziell verschwindet. Die Wanderungsbewegungen vor allem der Jüngeren unterstützen die Vermutung, dass sich die Sozialstrukturen insbesondere in den Metropolen verschoben und in der Folge die Unterschiede zwischen „Stadt“ und „Land“ zugenommen haben. Soweit scheinen sich durch die genannten Studien zentrale Diagnosen von Reckwitz zu bestätigen. Wie stark sich die Sozialstrukturen zwischen unterschiedlichen Stadttypen auseinanderentwickelt haben und ob insbesondere wie postuliert eine zunehmende räumliche Polarisierung stattgefunden hat, soll im Folgenden empirisch geprüft werden.

3 Hypothesen

Um die Frage der zunehmenden räumlichen Ungleichheit in Deutschland zu untersuchen, unterscheiden wir die These einer sozialen Polarisierung von Metropolen und Kleinstädten oder ländlichen Räumen und die These einer räumlichen Polarisierung der neuen und alten Mittelklassen. Beide adressieren mit Stadttypen vs. Personen/Klassen unterschiedliche soziale Ebenen. Die Aussage, dass sich die Stadttypen ökonomisch und sozialstrukturell auseinanderentwickeln, ist inhaltlich eine andere als die These, dass sich die verschiedenen sozialen Gruppen oder Klassen zunehmend in ihren Wohnorten unterscheiden. Auch wenn sich beide Teilfragen auf die gleichen postulierten sozialräumlichen Dynamiken beziehen, adressieren sie zumindest teilweise voneinander unabhängige Sachverhalte. Vereinfacht gesagt: Metropolen können zunehmend durch eine bestimmte Gruppe oder Klasse dominiert werden, ohne dass die entsprechende Gruppe auch mehrheitlich in den Metropolen leben muss. Allein aufgrund des zahlenmäßigen Wachstums oder Schrumpfens der verschiedenen Klassen kann sich zudem die soziale Zusammensetzung von Metropolen wie auch anderen Stadttypen in den letzten Jahrzehnten strukturell bedingt verändert haben. Die These der räumlichen Konzentration und Polarisierung verschiedener Klassen impliziert dagegen klassenspezifisch selektive Verhaltensänderungen in Bezug auf die Wohnstandorte.

3.1 These der Polarisierung der Sozialstruktur zwischen Metropolen und Kleinstädten

Im Anschluss an die Annahmen zur steigenden Nachfrage nach hoch qualifizierten Dienstleistungen und wachsenden kulturellen Attraktivität der Metropolen lautet die erste These, dass die Metropolen zunehmend durch die in der Dienstleistungsökonomie beschäftigten neuen Mittelklassen dominiert werden, während komplementär Kleinstädte und ländliche Gebiete immer mehr von der alten Mittelklasse und den marginalisierten oder prekären Gruppen geprägt werden (Hypothese 1). Dies ist im Kern die These der sozialen Polarisierung von „Stadt und Land“. Der Begriff der Polarisierung unterstellt im engeren Sinne, dass sich die Sozialstrukturen in Metropolen und Kleinstädten oder ländlichen Gebieten über die Zeit gegenläufig entwickeln. In Bezug auf die prekäre Klasse der einfachen Dienstleistungen schließt sich die Annahme an, dass diese in den Metropolen parallel zur neuen Mittelklasse aufgrund ihrer Rolle als „deren persönliche Dienstleister“ ebenfalls gewachsen ist und zugleich migrantisch geprägt wird (Hypothese 2).

3.2 These der zunehmenden räumlichen Polarisierung zwischen der neuen und alten Mittelklasse

Die zweite These zielt auf eine zunehmende räumliche Trennung oder Segregation der Wohnorte der neuen und der alten Mittelklasse. Laut Reckwitz (2019, S. 91, 121) konzentriert sich die neue Mittelklasse immer mehr in den Metropolen, während parallel die mittleren und unteren sozialen Kategorien – auch als Folge von Verdrängungsprozessen – verstärkt im kleinstädtischen und ländlichen Raum leben (Hypothese 3). Die These der zunehmenden Polarisierung verweist wiederum auf gegenläufige Teilprozesse in den verschiedenen Klassen: zunehmende Anteile der neuen Mittelklasse und abnehmende Anteile der mittleren und unteren sozialen Klassen, die in den Metropolen leben. Komplementär sind sinkende Anteile der neuen Mittelklasse und steigende Anteile der alten Mittelklasse in den Kleinstädten und ländlichen Räumen zu erwarten. Wenn dagegen gleichgerichtete Trends auftreten, die sich lediglich in ihrer Dynamik unterscheiden, wäre nicht von Polarisierung, sondern lediglich von zunehmenden Disparitäten zu sprechen.

Eine Variante von H 3 lautet, dass die beschriebenen Entwicklungen nicht alle Metropolen gleichermaßen, sondern vor allem die fortgeschrittenen Dienstleistungsmetropolen betreffen. Hypothese 3a postuliert daher, dass Tendenzen der Polarisierung in den postindustriellen Wirtschaftszentren im Süden und Südwesten der Republik deutlicher als in den nord(ost)- und westdeutschen Metropolen ausgeprägt sind.Footnote 3

Da die neue Mittelklasse durch die jüngeren Geburtskohorten als Profiteure der Bildungsexpansion und der Dienstleistungsökonomie dominiert wird (Reckwitz 2019, S. 79–83), ist zu erwarten, dass die Tendenzen der Polarisierung der Wohnorte auf die jüngeren Jahrgänge verstärkt zutreffen. Wenn die jüngeren Vertreter der neuen Mittelklassen die Protagonisten des sozialräumlichen Wandels sind, dann sollten die entsprechenden Unterschiede zwischen Metropolen und Kleinstädten oder ländlichen Gebieten in den jüngeren Geburtskohorten am deutlichsten sichtbar werden (Hypothese 4).

In Bezug auf den Migrationsstatus erwarten wir Reckwitz (2019, S. 121) folgend, dass die Tendenzen der Polarisierung vor allem die einheimische Bevölkerung betreffen, während die Migranten, die den alten Mittel- und prekären Klassen zuzurechnen sind, häufiger als die Einheimischen in den Metropolen leben sollten (Hypothese 5).

4 Daten und Methoden

Zur Überprüfung der Hypothesen ziehen wir die Scientific Use Files des Mikrozensus 1996, 2000, 2004, 2012 und 2018 heran. Unser Arbeitsdatensatz enthält Befragte im Alter von 25–64 Jahren in Privathaushalten am Erstwohnsitz. Die Altersgrenze ergibt sich daraus, dass für die Wohnstandorte der neuen und alten Mittelklasse sowie der prekären Klassen berufliche Merkmale oder das Arbeitsplatzangebot eine zentrale Rolle spielen. Wir haben daher sowohl jüngere Altersgruppen, die sich noch zu größeren Teilen in Ausbildung befinden, als auch ältere Gruppen, die überwiegend nichterwerbstätig sind, ausgeschlossen. Der Datensatz besteht pro Befragungsjahr aus 123.000–282.000 Fällen. Alle fünf Befragungen ergeben insgesamt eine Fallzahl von über 917.000 (Tab. 1).

Tab. 1 Stichprobenselektion (Fallzahlen)

Zwar verfügen die Mikrozensus Scientific Use Files nicht über eine differenzierte Raumtypologie, jedoch erlaubt die Ortsgrößenklasse der Wohnorte der Befragten eine für unsere Fragestellung hinreichende räumliche Unterteilung. Wir unterscheiden zunächst zwischen Landgemeinden und Kleinstädten (die alle Siedlungstypen bis unter 20.000 Einwohner umfassen), Mittel- und Großstädten (mit 20.000 bis unter 500.000 Einwohnern) und Großstädten ab 500.000 Einwohnern. Da die Annahme lautet, dass sich die urbane Dienstleistungsklasse vor allem in den großen Dienstleistungszentren konzentriert, ist für die empirische Analyse die Identifizierung und Abgrenzung der Gruppe der Metropolen von zentraler Bedeutung.Footnote 4 In den Daten lassen sich anhand der Kriterien Bundesland und Einwohnerzahl Frankfurt, Stuttgart, Hamburg, Hannover, Bremen und Berlin eindeutig identifizieren. In Bayern gilt dies bis einschließlich 2012 für München, im Jahr 2018 ist zusätzlich Nürnberg in die Kategorie der größten Städte hineingewachsen. Hinzu kommen die NRW-Städte Köln, Düsseldorf, Essen, Dortmund und Duisburg. Duisburg hat ab 2007 die 500.000-Einwohner-Grenze unterschritten und ist daher in den Jahren 2012 und 2018 aus den Metropolen herausgefallen. Dresden und Leipzig haben wiederum ab 2006 bzw. 2005 die 500.000-Einwohner-Grenze überschritten. Da wir für diese beiden Städte keine längeren Zeitvergleiche anstellen können, ordnen wir sie der Kategorie der „Mittel- und Großstädte“ zu. In einem gesonderten Analyseschritt weisen wir sie jedoch für die Jahre 2012 und 2018 als eigenständige Kategorie aus (siehe Abb. 2).

Vor dem Hintergrund unseres Ziels, die Dienstleistungsmetropolen als bevorzugte Wohnorte der neuen Mittelklasse zu identifizieren, fallen die Hauptkategorien der Metropolen und der Mittel- und Großstädte intern heterogener aus als eigentlich erwünscht. So muss man davon ausgehen, dass nicht alle genannten Metropolen für die neue Mittelklasse gleichermaßen attraktiv sind, während einige mittlere, u. a. Hochschulstädte (Reckwitz 2019, S. 91) durchaus zu deren präferierten Wohnorten gehören. Für unsere Analysen dürfte die interne Heterogenität der Kategorie der Metropolen zur Folge haben, dass wir die Attraktivität der „spätmodernen Metropolen“ für die neue Mittelklasse oder die Unterschiede zwischen attraktiven und weniger attraktiven Standorten empirisch eher unterschätzen. Wir können die Unschärfen aber reduzieren, indem wir Subkategorien der Metropolen bilden. Zu diesem Zweck unterscheiden wir in einem zusätzlichen Analyseschritt die im weiteren Sinne süddeutschen Metropolen Frankfurt/M., Stuttgart und München (sowie 2018 Nürnberg) von den nord(ost)deutschen Metropolen Hamburg, Bremen, Hannover und Berlin sowie den NRW-Metropolen Köln, Düsseldorf, Essen, Dortmund und (bis 2004) Duisburg. Die sozioökonomisch heterogenere Zusammensetzung der westdeutschen Gruppe lässt eine schwächer ausgeprägte sozialräumliche Polarisierung erwarten. Im Unterschied dazu sollte in den weitaus homogeneren süddeutschen Dienstleistungsmetropolen die Tendenz einer Zunahme der Anteile der neuen Mittelklasse und gleichzeitigen Abnahme der Anteile der alten Mittelklassen am deutlichsten ausgeprägt sein.

Da sich im Mikrozensus periphere oder ländliche Regionen nicht von Stadtregionen unterscheiden lassen (vgl. Nobis et al. 2019), können wir Entwicklungen der Suburbanisierung in Umlandgemeinden von Metropolen nicht erfassen. Wie bereits erwähnt, ist es aber theoretisch gut begründbar, dass sich die neue Mittelklasse aufgrund ihrer auf „urbanen Kosmopolitismus“ (Reckwitz 2019, S. 90) ausgerichteten Lebensführung und kulturellen Orientierung vorrangig in den attraktiven Zentren der Metropolen (Reckwitz 2017, S. 316, 2019, S. 122) und nicht in suburbanen Lagen oder dem Speckgürtel von Metropolen aufhält, da diese Orte aus der Perspektive eines Lebensstils der Valorisierung und Singularisierung wenig attraktiv sein sollten (Reckwitz 2019, S. 93). Nichtsdestotrotz ist für den Fall, dass wir in den Kleinstädten/ländlichen Gebieten einen Zuwachs der neuen Mittelklasse beobachten sollten, ein solcher Suburbanisierungseffekt potenziell in Rechnung zu stellen.Footnote 5

Da das Klassenmodell von Reckwitz im Kern zwischen den neuen und alten Mittelklassen und zusätzlich der prekären oder einfachen Dienstleistungsklasse unterscheidet, ist das ESeC-Klassenschema (Müller et al. 2008; Rose et al. 2010) ein geeignetes operationales Konstrukt zur Überprüfung der Annahmen.Footnote 6 Man könnte einwenden, dass sich die Diskussion um die sozialstrukturelle Verortung der neuen und alten Mittelklasse teilweise auf Werte, Lebensführung und subjektive Milieumerkmale bezieht (vgl. Reckwitz 2021; Kumkar und Schimank 2021). Dem ist aber entgegenzuhalten, dass die von Reckwitz genutzte Klassenterminologie letztlich auf sozioökonomischen, berufsstrukturellen Kategorien basiert und seine Argumentation explizit auf kulturelles Kapital und hochqualifizierte Dienstleistungs- und Wissensarbeit als sozialstrukturellem Kern der postindustriellen neuen Mittelklasse verweist (Reckwitz 2019, S. 77 ff.).

Die ESeC-Kategorien können relativ klar in das Drei-Klassen-Theorem überführt werden. Die neue Mittelklasse verorten wir bei den Angehörigen der oberen Dienstklasse (ESeC 1), die im Kern akademisch gebildet und in den Professionen und der Wissensökonomie tätig ist (Reckwitz 2019, S. 90, 2021, S. 39).Footnote 7 Im weiteren Sinne kann auch die untere Dienstklasse (ESeC 2) der neuen Mittelklasse zugerechnet werden (vgl. Reckwitz 2021, S. 45). Die alte Mittelklasse sehen wir gut durch die Personen in mittleren, nichtakademischen beruflichen Positionen sowie die Selbstständigen (ESeC 3–6, 8) repräsentiert, auch wenn die Klasse 5 der Landwirte zahlenmäßig wenig ins Gewicht fällt. Um mögliche disparate Entwicklungen zwischen der nichtmanuellen und der manuellen Mittelkasse abzubilden, unterteilen wir die alte Mittelklasse in die Fraktionen der Facharbeiter und Meister/Techniker (ESeC 6, 8) auf der einen Seite und die mittleren Büro‑, Dienstleistungs- und Handelsberufe und Selbstständigen (ESeC 3, 4, 5) auf der anderen Seite. Die einfachen Dienstleistungskräfte (ESeC 7) sowie die ungelernten Arbeiter (ESeC 9) ziehen wir als Repräsentanten der „prekären Klasse“ heran. Auch diese beiden Gruppen betrachten wir getrennt, aufgrund der Vermutung, dass die einfachen (oftmals persönlichen) Dienstleistungen nicht zuletzt im Gefolge der hoch qualifizierten Jobs in den Metropolen expandieren (Reckwitz 2019, S. 80, 121), während die Klasse einer einfachen manuellen Tätigkeit im Zuge der Deindustrialisierung aus den großen Städten eher verschwindet.

Für die Jahre 1996–2004 erfolgte die Klassenzuordnung auf Basis des ISCO(COM)-3-Stellers 1988 sowie zusätzlicher Informationen zur beruflichen Stellung (Rose et al. 2010; Müller et al. 2008, S. 115). Wir unterscheiden nicht fünf, sondern nur drei Beschäftigungsstatus (Selbstständige mit und ohne Beschäftigte sowie Lohnabhängige), da die Angaben zu Führungs- oder Aufsichtsfunktionen von Erwerbstätigen sowie zur Unterscheidung von kleinen und großen Selbstständigen bis 2012 fehlen.Footnote 8 Für die Zuordnung der Befragten aus den Jahren 2012 und 2018 haben wir aufgrund des Wechsels von ISCO 88 zu ISCO 08 auf die von GESIS bereitgestellten Set-ups zur Codierung des ESeC-Klassenschemas zurückgegriffen.Footnote 9 Das Klassenschema haben wir Wirth et al. (2009) folgend an die deutschen Beschäftigungsverhältnisse angepasst. Robustheitschecks für den Mikrozensus 2012 haben keine relevanten Unterschiede im Zusammenhang zwischen Klassenzugehörigkeit und Wohnstandort für die unterschiedlichen Zuordnungen nach ISCO 88 und ISCO 08 gezeigt (siehe Tab. A.1 im Online-Anhang). Da, wie dargelegt, die Tendenzen der räumlichen Polarisierung nach Alter und Migrationshintergrund variieren sollten, unterscheiden wir vier Altersgruppen (25–34, 35–44, 45–54 und 55–64 Jahre) sowie die migrantische und nichtmigrantische Bevölkerung. Als Migranten oder Migrantinnen werden jene Befragte bezeichnet, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen (Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit werden als deutsch klassifiziert).Footnote 10

Die Analysen beziehen sich auf Befragte in Privathaushalten am Hauptwohnsitz, die im jeweiligen Befragungsjahr zwischen 25 und 64 Jahre alt waren. Für die Erhebungsjahre 1996, 2000 und 2004 haben wir die 0,45 %-Unterstichprobe des Mikrozensus Scientifc Use File verwendet, da nur für diese die Berufsangaben auf der Basis von ISCO-88(COM) vorhanden sind. Unsere Auswertungen haben für den Mikrozensus 2008 eine inhaltlich nicht plausible abweichende Verteilung der Befragten auf die Stadtgrößenkategorien ergeben (Tab. 2). So liegt der Anteil der Personen, die in den Gemeinden bis unter 20.000 Einwohnern leben, ca. 5 Prozentpunkte unter dem zu erwartenden Wert. Rücksprachen mit GESIS und dem Statistischen Bundesamt haben die Problematik für das Scientific Use File des Jahres 2008 bestätigt.Footnote 11 Wir haben daher das Befragungsjahr aus den Analysen ausgeschlossen.

Tab. 2 Verteilung der Befragten auf die Stadttypen (Spaltenprozente)

5 Ergebnisse

5.1 Deskriptive Befunde

Die deskriptiven Statistiken für die Befragungsjahre (Tab. 3) verweisen auf beträchtliche Verschiebungen in den Klassenstrukturen während des Untersuchungszeitraums. So sind die Anteile der beiden Dienstklassen und der einfachen Dienste jeweils stark gewachsen, wohingegen die nichtmanuelle Fraktion der alten Mittelklasse und die einfachen Arbeiter an Gewicht verloren haben. Ebenso ist der Anteil der Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft deutlich gestiegen.

Tab. 3 Deskriptive Statistiken (Spaltenprozente)

Um die These der zunehmenden räumlichen Polarisierung zwischen der neuen und alten Mittelklasse zu prüfen, untersuchen wir zunächst, ob sich die Sozialstrukturen zwischen Kleinstädten oder LandgemeindenFootnote 12 und Metropolen im Lauf der Zeit, wie in H 1 formuliert, gegenläufig entwickelt haben. Werden also die Metropolen zunehmend von der neuen Mittelklasse und umgekehrt Kleinstädte von der alten Mittelklasse und prekären Klasse dominiert? Tabelle 4 zeigt, dass sich in den Metropolen zwischen 1996 und 2018 die Anteile der oberen Dienstklasse (als Vertreterin der neuen Mittelklasse) mehr als verdoppelt haben, während die Anteile der beiden Fraktionen der alten Mittelklasse rückläufig sind. Am unteren Ende der Erwerbshierarchie haben sich in den Metropolen die Anteile der einfachen manuellen Berufe reduziert, während sich die der einfachen Dienste mehr als verdoppelt haben. Diese empirischen Entwicklungen entsprechen zunächst einmal den Erwartungen. Theoretisch entscheidend ist aber die Frage, ob in den Kleinstädten eine gegenteilige Entwicklung eingetreten ist. Wie die Tabelle zeigt, ist dies nicht der Fall. Vielmehr sind die Entwicklungen in Metropolen und Kleinstädten relativ ähnlich verlaufen. So hat sich in Letzteren der Anteil der oberen Dienstklasse ebenfalls verdoppelt, und der Anteil der einfachen Dienstleistungsklasse hat noch stärker zugenommen als in den Metropolen. Umgekehrt sind die Anteile der einfachen Arbeiter und der nichtmanuellen alten Mittelklasse über alle Stadttypen hinweg zurückgegangen. Insgesamt hat der ökonomische Strukturwandel demnach Kleinstädte und Metropolen in ähnlicher Weise erfasst.

Tab. 4 Verteilung der ESeC-Klassen in den Stadttypen 1996 und 2018 (Zeilenprozente)

Lässt sich aber die Aussage, dass das sogenannte städtische Dienstleistungsproletariat stark migrantisch geprägt ist (H 2, Reckwitz 2019, S. 121 f.) bestätigen? Tabelle 5 und 6 zeigen die Zusammensetzung der Klassen getrennt nach Migrationsstatus und ihre Veränderung zwischen 1996 und 2018. Demnach hat der Anteil der migrantischen Bevölkerung an der einfachen Dienstleistungsklasse zwar zugenommen, aber er bleibt selbst in den Metropolen mit einem relativen Anteil von 21 % eher gering. Einen relativ großen Anteil (von 44 %) stellen stattdessen die Migranten in der ungelernten Arbeiterklasse in den Metropolen.

Tab. 5 Zusammensetzung der ESeC-Klassen in den Stadttypen 1996: Relative Anteile einheimischer und migrantischer Bevölkerung (deutsch [dt.] vs. nichtdeutsch [ndt.])
Tab. 6 Zusammensetzung der ESeC-Klassen in den Stadttypen 2018: Relative Anteile einheimischer und migrantischer Bevölkerung (deutsch [dt.] vs. nichtdeutsch [ndt.])

Damit kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass zwischen den Ortstypen keine systematischen Unterschiede in Bezug auf den Wandel der sozioökonomischen Strukturen bestehen. Die Dienstklassen und die einfachen Dienstleistungsberufe sind überall gewachsen, die meisten anderen Klassen sind dagegen anteilsmäßig geschrumpft. Allenfalls ist der Anteil der alten Mittelklassen und der einfachen Arbeiterklassen in den Metropolen etwas stärker geschrumpft. Diese Unterschiede sind jedoch graduell und reichen nicht aus, um die These zu belegen, dass der Abbau einfacher Produktionstätigkeiten die Sozialstruktur der Metropolen in besonderer Weise verändert hat. Die Annahme einer sozialen Polarisierung der Bevölkerung zwischen Metropolen und Kleinstädten kann damit als widerlegt betrachtet werden (H 1).Footnote 13

Die folgenden Analysen richten sich auf die Frage des Wandels der Wohnstandorte der verschiedenen Klassen. In Bezug auf die These der räumlichen Polarisierung ist vor allem die Frage relevant, ob sich die neue Mittelklasse im Zeitvergleich immer stärker in den Metropolen konzentriert, während die alte Mittelklasse zugleich in den ländlichen und kleinstädtischen Raum „abgedrängt“ wird (H 3). Da wir zudem erwarten, dass solche Veränderungen in den jüngeren Altersgruppen am deutlichsten ausgeprägt sind (H 4), betrachten wir im Folgenden die Entwicklungen nach Altersgruppen getrennt (siehe auch Tab. A.2 im Online-Anhang).

Tabelle 7 zeigt, dass in der Altersgruppe 25–34 Jahre zwischen 1996 und 2018 einige Veränderungen stattgefunden haben. Im Jahr 1996 lebten 23 % der oberen Dienstklasse, 19 % der unteren Dienstklasse, 17 und 11 % der alten Mittelklassen sowie 15 und 13 % der beiden unteren Klassen in den Metropolen. Zwanzig Jahre später haben sich die Anteile in unterschiedlichem Ausmaß verschoben. Nun lebten 30 % (+ 7) der oberen Dienstklasse, 21 % (+ 2) der unteren Dienstklasse, 20 % (+ 3) und 11 % (+ 0) der alten Mittelklassen, 19 % (+ 2) der einfachen Dienstleister und 11 % (− 2) der einfachen Arbeiter in den Metropolen. Damit trifft die Annahme durchaus zu, dass die Angehörigen der oberen Dienstklasse vermehrt in den Metropolen anzutreffen sind. In geringerem Umfang gilt dies zudem für die einfachen Dienste. Anders als erwartet haben aber auch die Anteile der nichtmanuellen alten Mittelklasse, die in den Metropolen leben, leicht zugenommen. Noch wichtiger ist allerdings der Befund, dass die alten Mittelklassen und die prekären Klassen 2018 nicht häufiger in Kleinstädten lebten, wie dies von der These einer zunehmenden Marginalisierung und Verdrängung unterstellt wird. Im Gegenteil sind in allen Klassen die Anteile, die in den Kleinstädten leben, über die Zeit gesunken. Der Rückgang betrug in der oberen Dienstklasse 8 %, 6 % bei der nichtmanuellen alten Mittelklasse und 7 % bei den ungelernten Arbeitern.

Tab. 7 Wohnorte der ESeC-Klassen 1996 und 2018, Alter 25–34 (Spaltenprozente)

Die Darstellung der Veränderungen zwischen 1996 und 2018 in Tab. 8 zeigt klare altersgruppenspezifische Entwicklungen. Insbesondere in der ältesten Gruppe (55–64 Jahre) ist das Phänomen der Abwanderung aus den Kleinstädten nicht erkennbar. In allen Klassen, außer den ungelernten Arbeitern, sind die in diesem Ortstyp lebenden Anteile sogar gestiegen. Komplementär dazu ist in keiner Klasse eine Zunahme der Anteile, die in den Metropolen leben, zu verzeichnen. Im Gegenteil leben die Angehörigen aller Klassen der ältesten Altersgruppe seltener in den Metropolen. Damit muss die Erwartung (H 4), dass klassenspezifische Polarisierungstendenzen der Wohnorte in den jüngeren Altersgruppen am ausgeprägtesten sind, deutlich modifiziert werden: Eine Polarisierung hat nicht zwischen den Klassen, sondern zwischen den Altersgruppen stattgefunden, und zwar in dem Sinne, dass die Älteren verstärkt in den Kleinstädten und die Jüngeren verstärkt in den Metropolen leben.

Tab. 8 Wohnorte der ESeC-Klassen differenziert nach Altersgruppe: Differenz der Anteile zwischen 1996 und 2018 (Spaltenprozente)

Der Zwischenstand lautet, dass in der jüngsten und in der Tendenz auch in der zweitjüngsten Altersgruppe über fast alle Klassen hinweg ein Trend weg von den Kleinstädten besteht, sodass sich die Standorte der verschiedenen Klassen im Beobachtungszeitraum nicht räumlich polarisiert haben. Für unsere Fragestellung ebenso relevant ist der Befund, dass sich die obere Dienstklasse nicht in den Metropolen „ballt“. Im Jahr 2018 lebten 30 % der jüngeren Altersgruppe in diesem Stadttyp, aber 25 % von ihnen waren in Kleinstädten ansässig. Man kann insofern nicht von einer räumlichen Konzentration dieser Klasse sprechen. Umgekehrt ist bezüglich der angeblich vor allem in den Kleinstädten beheimateten alten Mittelklasse festzustellen, dass dies 2018 mit abnehmender Tendenz auf 47 % der Klasse der Facharbeiter und 37 % der nichtmanuellen Fraktion der Mittelklasse zutraf. Insgesamt wird aufgrund der gleichgerichteten und lediglich graduellen Unterschiede in den Entwicklungen der Wohnstandorte der verschiedenen Klassen die Annahme einer zunehmenden räumlichen Polarisierung zwischen der alten und neuen Mittelklasse (H 3) klar widerlegt.

Eine wichtige Teilaussage bei Reckwitz lautet, dass abweichend von der einheimischen Bevölkerung „ein Großteil der Migranten der alten Mittelklasse sowie der neuen Unterklasse“ (Reckwitz 2019, S. 121) in den Metropolen oder Metropolregionen lebt. Tabelle 9 und 10 differenzieren daher die bisherigen Befunde nach dem Migrationsstatus. Sie zeigen auf der einen Seite deutliche Unterschiede in den Wohnorten zwischen einheimischen und migrantischen Personen. Letztere leben tatsächlich unabhängig von der Klasse sehr viel häufiger in den Metropolen als die Einheimischen. So lebten 2018 in der Gruppe der Migranten über 40 % der Angehörigen der oberen Dienstklasse, mehr als ein Drittel der nichtmanuellen alten Mittelklasse und ein knappes Drittel der einfachen Dienstleister in den Metropolen. Jeweils ein knappes Viertel der letzten beiden Gruppen lebt in Kleinstädten. Im Zeitvergleich ist zudem der in den Metropolen lebende Anteil der migrantischen Angehörigen der einfachen Dienste nicht gestiegen. Insgesamt ist damit auch bei der migrantischen Bevölkerung, die der alten Mittelklasse und neuen Unterklasse zuzurechnen ist, eine relativ breite empirische Verteilung der Wohnstandorte und keine Konzentration eines „Großteils“ in den Metropolen festzustellen. Hypothese 5 trifft damit ebenfalls nicht zu.

Tab. 9 Wohnorte der ESeC-Klassen 1996, Alter 25–34 differenziert nach Migrationsstatus (deutsch [dt.] vs. nichtdeutsch [ndt.], Spaltenprozente)
Tab. 10 Wohnorte der ESeC-Klassen 2018, Alter 25–34 differenziert nach Migrationsstatus (deutsch [dt.] vs. nichtdeutsch [ndt.], Spaltenprozente)

5.2 Multivariate Analysen

Im Folgenden schätzen wir den Wandel der klassenspezifischen Wohnstandorte über die einzelnen Erhebungsjahre mithilfe eines multinomialen logistischen Regressionsmodells. Die abhängige Variable ist der Wohnort mit zunächst den drei bekannten Ausprägungen. Anschließend differenzieren wir die Metropolen in drei Subkategorien. Als unabhängige Variablen werden die Klassenzugehörigkeit, der Migrationshintergrund, die Altersgruppe, das Erhebungsjahr und das Geschlecht berücksichtigt. Die Ergebnisse werden in Form von durchschnittlichen Marginaleffekten (AME) sowie vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten (Predictive Margins) dargestellt.

Tabelle 11 zeigt analog zu den deskriptiven Befunden, dass die Wahrscheinlichkeit, in Metropolen zu leben, in der jüngeren Altersgruppe, der migrantischen Bevölkerung sowie der oberen Dienstklasse am höchsten ist. Im Gesamtmodell ist unter Kontrolle der sozialstrukturellen Merkmale über die Erhebungsjahre hinweg die Wahrscheinlichkeit für ein Leben in den Metropolen leicht gesunken. Da die These der Polarisierung jedoch den Wandel der klassenspezifischen Neigungen, in Metropolen und anderen Stadttypen zu leben, adressiert, haben wir zusätzlich Interaktionen zwischen den ESeC-Klassen und den Erhebungsjahren berechnet (siehe Tab. A.3 im Online-Anhang für die vollständigen Ergebnisse). Dargestellt sind in Abb. 1 für die neue Mittelklasse (obere Dienstklasse) und die beiden Fraktionen der alten Mittelklasse die vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten (Predictive Margins), in den verschiedenen Stadttypen zu leben. Wenn die Hypothese der Polarisierung zutrifft, dann müssten sich die klassenspezifischen Wahrscheinlichkeiten sowohl für die Kleinstädte als auch die Metropolen über die Zeit unterschiedlich entwickeln. Tatsächlich sind in allen Klassen über den Gesamtzeitraum hinweg nur wenige Veränderungen festzustellen. Zwischen 2004 und 2018 hat sich in allen Klassen die Wahrscheinlichkeit, in Kleinstädten zu leben, etwas verringert. Für die Mittel- und Großstädte haben die Unterschiede zwischen der oberen Dienstklasse und den beiden alten Mittelklassen im Zeitverlauf leicht abgenommen. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit der oberen Dienstklasse, in den Metropolen zu leben, zwischen 2012 und 2018 um 3 % gestiegen, während die Wahrscheinlichkeiten der alten Mittelklassen weitgehend konstant geblieben sind. Damit sind die klassenspezifischen Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit, in den Metropolen zu leben, im letzten Beobachtungsjahr leicht gestiegen, ohne dass jedoch eine polarisierte Entwicklung eingetreten ist.

Tab. 11 Determinanten des Wohnorts (multinomiale logistische Regression, AME, Standardfehler in Klammern)
Abb. 1
figure 1

Geschätzte Wahrscheinlichkeiten der Mittelklassen, in den verschiedenen Stadttypen zu leben – multinomiale logistische Regression mit Interaktion zwischen Klasse und Erhebungsjahr (Predictive Margins, 95 % Konfidenzintervall [KI]). (Es wurde für alle unabhängigen Variablen aus Tab. 11 kontrolliert. Siehe Tab. A3 im Anhang für das vollständige Modell. Quelle: Mikrozensus SUF von 1996, 2000, 2004, 2012 und 2018 [eigene Berechnungen])

Da die breite Definition der Kategorie der Metropolen möglicherweise spezifischere Entwicklungen in den fortgeschrittenen Dienstleistungsmetropolen überdeckt, betrachten wir im Folgenden die Entwicklungen der klassenspezifischen Wahrscheinlichkeiten differenziert für die nord(ost)-, süd- und westdeutschen Metropolen.

Die Abb. 2a–c zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit der Angehörigen der oberen Dienstklasse, in den süddeutschen Metropolen (München, Frankfurt, Stuttgart, 2018 zusätzlich Nürnberg) zu leben, kontinuierlich von 5 auf 8 % gestiegen ist (Abb. 2b). Die neue Mittelklasse wurde also von diesen Städten zunehmend angezogen.Footnote 14 Für die nord(ost)deutschen und westdeutschen Metropolen ist dagegen über die 20 Jahre hinweg keine entsprechende Entwicklung feststellbar (Abb. 2a, c).Footnote 15 Die Wahrscheinlichkeiten, in den Metropolen Nord/Ost zu leben, sind zwischen 1996 und 2012 sogar für alle Klassen gesunken. Für die süddeutschen Metropolen hatten wir am ehesten eine gegenläufige Entwicklung oder Polarisierung zwischen den Klassen angenommen (H 3a). Entgegen den Erwartungen finden wir jedoch im Zeitvergleich keinen Rückgang der Wahrscheinlichkeit, dass die manuelle und die nichtmanuelle alte Mittelklasse in diesen Metropolen leben.

Abb. 2
figure 2

Geschätzte Wahrscheinlichkeiten der Mittelklassen, in den Metropolen zu leben. a nord(ost)deutsche Metropolen, b süddeutsche Metropolen, c westdeutsche Metropolen – multinomiale logistische Regression mit Interaktion zwischen Klasse und Erhebungsjahr (Predictive Margins, 95 % KI). (Es wurde für alle unabhängigen Variablen aus Tab. 11 kontrolliert. Quelle: Mikrozensus SUF von 1996, 2000, 2004, 2012 und 2018 [eigene Berechnungen])

Die Abb. 3a–c differenzieren die Ergebnisse zusätzlich nach Altersgruppen. Demnach fallen die Unterschiede zwischen der oberen Dienstklasse und den alten Mittelklassen in der jüngsten Altersgruppe deutlich stärker aus als in der ältesten Gruppe. Dennoch ist die Dynamik unter den Jüngeren in den nord(ost)- und westdeutschen Metropolen gering. Dagegen sind die Wahrscheinlichkeiten, in den süddeutschen Metropolen zu leben, für die jüngeren Angehörigen der oberen Dienstklasse deutlich gestiegen, während sie für die alten Mittelklassen in der Tendenz nur leicht zugenommen haben. Demnach haben sich in der jungen Altersgruppe die sozialräumlichen Unterschiede zwischen den „neuen“ und „alten“ Klassen in den süddeutschen Zentren vergrößert. Da aber die Angehörigen der alten Mittelklasse in keiner der drei Metropolenkategorien im Zeitverlauf weniger wahrscheinlich in den Metropolen leben, kann insgesamt nicht von einer Polarisierung der Wohnorte gesprochen werden. Hypothese 4 kann insofern auch nicht durch die multivariaten Analysen untermauert werden.

Abb. 3
figure 3

Geschätzte Wahrscheinlichkeiten der Mittelklassen, in den Metropolen zu leben. a nord(ost)deutsche Metropolen, b süddeutsche Metropolen, c westdeutsche Metropolen – multinomiale logistische Regression mit Interaktion zwischen Klasse, Altersgruppe und Erhebungsjahr (Predictive Margins, 95 % KI). (Es wurde für alle unabhängigen Variablen aus Tab. 11 kontrolliert. Quelle: Mikrozensus SUF von 1996, 2000, 2004, 2012 und 2018 [eigene Berechnungen])

Die Abb. 4a–c zeigen schließlich die Ergebnisse differenziert nach dem Migrationsstatus. Erwartet wurde, dass die räumliche Auseinanderentwicklung bei der nichtmigrantischen Bevölkerung stärker ausfällt als bei der migrantischen, weil diese klassenunabhängig häufiger in den Metropolen lebt (H 5). Es bestätigt sich für alle drei Subkategorien, dass Migranten, die der neuen oder der alten Mittelklasse angehören, wahrscheinlicher in den Metropolen leben als Einheimische, aber auch, dass die Klassenunterschiede unter den Ersteren in der Tendenz zunehmen. Demnach bestehen zwar Niveauunterschiede, aber keine strukturellen Differenzen zwischen den migrantischen und nichtmigrantischen Bevölkerungsteilen hinsichtlich der Neigung, in den Metropolen zu leben.

Abb. 4
figure 4

Geschätzte Wahrscheinlichkeiten der Mittelklassen, in den verschiedenen Stadttypen zu leben. a Land/Kleinstädte, b Mittel-/Großstädte, c Metropolen – multinomiale logistische Regression mit Interaktion zwischen Klasse, Staatsangehörigkeit und Erhebungsjahr (Predictive Margins, 95 % KI). (Es wurde für alle unabhängigen Variablen aus Tab. 11 kontrolliert. Quelle: Mikrozensus SUF von 1996, 2000, 2004, 2012 und 2018 [eigene Berechnungen])

6 Fazit

Ausgehend von der These der sozialen Spaltung „zwischen Stadt und Land“ haben wir untersucht, ob sich in Deutschland zwischen 1996 und 2018 die Sozialstrukturen von Metropolen und Kleinstädten oder ländlichen Gemeinden auseinanderentwickelt haben, und ob die Wohnstandorte der sogenannten neuen und alten Mittelklassen eine zunehmende räumliche Polarisierung aufweisen.

In Bezug auf die Frage nach den Unterschieden in den Sozialstrukturen zwischen Metropolen und Kleinstädten haben unsere Analysen relativ klar gezeigt, dass sich entgegen den Vermutungen (H 1) die Klassenstrukturen in allen Stadttypen in die gleiche Richtung einer zunehmend postindustriellen Sozialstruktur verschoben haben. Weder konnten wir eine exklusive Dynamik in den Metropolen feststellen, noch waren die relativen Unterschiede zwischen Kleinstädten, Großstädten sowie Metropolen bezüglich der Positionenstrukturen im Jahr 2018 grundlegend anders als im Jahr 1996. Die neuen Mittelklassen (die obere und untere Dienstklasse) sind überall gewachsen und die Anteile der nichtmanuellen alten Mitteklasse sind überall geschrumpft. Auch die Dynamik des Wandels der Sozialstrukturen von Stadt und Land war insgesamt relativ ähnlich. So haben sich die Anteile der oberen Dienstklasse zwischen 1996 und 2018 sowohl in den Kleinstädten als auch in den Metropolen quasi verdoppelt. Weiterhin haben wir keine räumlich polarisierten Entwicklungen am unteren Ende der Erwerbshierarchie gefunden. Entgegen der Vorstellung eines vorrangig in den Metropolen angesiedelten neuen „Dienstleistungsproletariats“ haben die einfachen Dienste in allen Stadttypen deutlich an Gewicht gewonnen. Diese Klasse war 2018 in den Kleinstädten und Mittel- und Großstädten sogar mit höheren Anteilen vertreten als in den Metropolen. Abweichend von Reckwitz (2019, S. 121 f.) konnten wir auch keine Belege für die Entstehung einer migrantisch geprägten Klasse der einfachen Dienstleister speziell in den Metropolen finden (H 2).

Insgesamt haben die Analysen auf der Ebene der Stadttypen die Vorstellung einer sozialen Spaltung zwischen Metropolen und Kleinstädten (einschließlich ländlichem Raum) nicht belegen können. Es trifft nicht zu, dass die Metropolen immer stärker durch die Dienstklassen dominiert und zugleich die Kleinstädte zunehmend durch die alte Mittelklasse und sonstige „an den Rand“ gedrängte Gruppen geprägt werden. Damit wurde eine wesentliche Implikation der Polarisierungsthese, nämlich, dass das sozialstrukturelle Upgrading der Metropolen auf Kosten eines „Brain Drain“ der ländlichen und kleinstädtischen Gebiete erfolgte, infrage gestellt.

Unsere zweite Frage richtete sich auf die zunehmende räumliche Polarisierung der Klassen, d. h. die vermutete verstärkte Tendenz der neuen Mittelklasse, in den Metropolen zu leben, während gleichzeitig die alten Mittelklassen, u. a. als Folge von Verdrängungsprozessen, vermehrt in der kleinstädtischen und ländlichen Peripherie anzutreffen sind. Gefunden haben wir leicht zunehmende Differenzen in den Wohnstandorten zwischen der oberen Dienstklasse und den Angehörigen der „alten“ mittleren Klassen. Da aber auch die alte Mittelklasse im Zeitvergleich nicht seltener, sondern zum Teil häufiger in den Metropolen lebte, war eine räumliche Polarisierung (H 3) nicht zu erkennen. Feststellen konnten wir stattdessen eine vorrangig auf die jüngere Altersgruppe in den süddeutschen Metropolen begrenzte Zunahme der Unterschiede zwischen der alten und neuen Mittelklasse. Hier sind die sozialen Disparitäten in den Wohnstandorten zwischen den Klassen gewachsen, auch wenn es nicht zu gegenläufigen Entwicklungen im Sinne einer Polarisierung gekommen ist.

In Bezug auf die angenommene besondere Lage der migrantischen Bevölkerung hat sich einerseits bestätigt, dass diese zu insgesamt deutlich höheren Anteilen in den Metropolen lebt. Andererseits bestehen aber auch in dieser Gruppe deutliche Unterschiede zwischen der neuen und alten Mittelklasse, sodass die Vorstellung eines unter den Migranten grundlegend andersartigen Musters, das durch geringere Klassendifferenzen geprägt ist (H 5), nicht untermauert werden konnte.

Insgesamt konnten wir mit unseren Analysen keine Belege für eine zunehmende räumliche Polarisierung der sozioökonomischen Klassen vorlegen. Zwar bestehen Disparitäten in den Wohnstandorten zwischen den Klassen, und die neue Mittelklasse ist verstärkt insbesondere in die süddeutschen Metropolen gedrängt, aber wir haben keine gegenläufigen und in diesem Sinne polarisierten Entwicklungen zwischen den „neuen“ und „alten“ Klassen feststellen können.

Eine „Entwarnung“ in Bezug auf die Polarisierungsthese bedeutet jedoch nicht, dass sich die Sozialstrukturen der Metropolen in den letzten Jahrzehnten nicht wesentlich verändert hätten. So ist der strukturelle Wandel in den Metropolen für sich genommen durchaus bemerkenswert – dies betrifft insbesondere das steigende Gewicht der Dienstklasse in den Metropolen. Betrachtet man im weiten Sinne die obere und untere Dienstklasse als die Repräsentanten der neuen Mittelklasse, dann betrug deren Anteil 2018 in den nord(ost)- und westdeutschen Metropolen in der jüngeren Altersgruppe (25–34 Jahre) 40 % und in den süddeutschen Städten sogar 50 % (Tab. A.4 im Online-Anhang). Anteile in dieser Größenordnung können durchaus eine strukturelle Grundlage dafür sein, dass diese Gruppen die Metropolen zunehmend kulturell prägen. Ob dies wirklich der Fall ist, hängt u. a. davon ab, dass sie gemeinsame Werte und Ansprüche teilen und in ihrem Wohnumfeld durchsetzen (vgl. Kumkar und Schimank 2021). Vor diesem Hintergrund wäre es durchaus wünschenswert, Berufsgruppen und die zugehörigen Milieus mitsamt ihren soziokulturellen Werten sowie räumlichen Standorten (insbesondere in den innenstadtnahen Wohnvierteln) empirisch kleinteiliger zu erfassen. Allerdings ist eine Strategie, die relativ kleine Gruppen empirisch adressiert, ambivalent, da sie sich wieder einer Prenzlauer-Berg-Soziologie (Reckwitz 2021, S. 56) annähert und der Idee einer zentralen Stellung der neuen Mittelklasse in der „spätmodernen Sozialstruktur“ entgegensteht.

Wir haben in diesem Beitrag die Vorstellung des zunehmenden sozialen Gegensatzes zwischen einer neuen und alten Mittelklasse mit dem ESeC-Klassenschema und einer einfachen Unterscheidung von Stadttypen operationalisiert. Unsere empirischen Aussagen beziehen sich auf die Entwicklungen im Zeitraum zwischen 1996 und 2018 unter Anwendung eines klassenanalytischen Rasters sowie einer relativ groben räumlichen Differenzierung von drei Stadttypen. Auch wenn wir Robustheitschecks in Bezug auf die Metropolenabgrenzung, die Operationalisierung von Klassengrenzen und Altersgruppen durchgeführt haben, bestehen datenbedingte Einschränkungen, die vor allem die Stadt- und Regionalklassifikationen betreffen. In Bezug auf die These der sozialen Polarisierung, die auf die veränderte Zusammensetzung der Stadttypen zielt, können wir daher nicht ausschließen, dass Unterschiede in der Entwicklung zwischen Kleinstädten in peripheren Regionen und im Umland der Metropolen bestehen und daher kleinteiligere Klassifikationen zu differenzierteren Befunden führten. Wir halten es jedoch für wenig wahrscheinlich, dass eine Raumtypologie, die metropolennahe und -ferne Kleinstädte unterscheiden kann, zu einem grundsätzlich anderen Ergebnis käme, da sich die theoretischen Erwartungen v. a. auf das sozialräumliche Verhalten der jüngeren Kohorten in den fortgeschrittenen Dienstleistungsmetropolen richten.

In Bezug auf die eingangs gestellte Frage, ob eine „raumneutrale“ gesamtgesellschaftliche Sozialstrukturanalyse zunehmend ihren Gegenstand verfehlt und die räumliche Dimension eine eigenständige Dimension sozialer Ungleichheit repräsentiert, lautet unser Fazit, dass sich soziale Ungleichheit in Deutschland durchaus auf der Ebene der Wohnstandorte niederschlägt und sich die Sozialstrukturen zwischen Metropolen und den ländlichen und kleinstädtischen Räumen unterscheiden. Diese strukturellen Differenzen sind ungleichheitsrelevant, denn sie implizieren in der Regel mehr oder weniger gute Infrastrukturen, Opportunitätsstrukturen und Lebenschancen für Personen, Haushalte und Familien. Die räumlichen Verhältnisse haben sich aber im Lauf der von uns untersuchten rund 20 Jahre nicht wesentlich verändert. Das zentrale Argument von Reckwitz, dass im Zuge des Aufstiegs der neuen Mittelklassen die räumliche Polarisierung zu einem spezifischen oder distinktiven Merkmal der Sozialstruktur der „Spätmoderne“ wird, konnten wir mit unseren Daten jedenfalls nicht untermauern. Daher ist die programmatische Aussage, dass die „spätmoderne Sozialstruktur … von vornherein eine räumliche Dimension“ (Reckwitz 2019, S. 118) habe, aus unserer Sicht mit einem Fragezeichen zu versehen. Man kann natürlich immer einwenden, dass wir die allgemeine These der räumlichen Polarisierung, wie sie von Reckwitz postuliert wurde, nicht in einem strikten Sinne überprüft haben. Allerdings sind angesichts der konzeptuellen Unschärfen über die relevanten räumlichen Ebenen alle Versuche einer solchen empirischen Überprüfung mindestens schwierig.