Die Urbanisierung in Deutschland ist ungebrochen und differenziert sich in Prozessen innerstädtischer Gentrifizierung und Suburbanisierung immer weiter aus [40]. Neben sozialen Folgen wie segregationsbedingten Ungleichheiten und akutem Wohnungsmangel hat diese Entwicklung auch gesundheitsrelevante Folgen. Abgesehen von empirischen Arbeiten zu spezifischen Einzelaspekten wie Feinstaub- und Lärmbelastungen in der Stadt und dem Ärztemangel auf dem Land fehlt für Deutschland bis dato eine Systematisierung der diversen räumlichen Einflussfaktoren auf Mesoebene auf die individuelle Gesundheit auf Mikroebene.

Gesundheitliche Stadt-Land-Unterschiede als Zukunftsthema

In dem vorliegenden Beitrag wird deswegen erstmals ein interdisziplinäres Modell zur Erklärung gesundheitlicher Unterschiede zwischen Stadt und Land vorgestellt. Das hier vorgeschlagene konzeptionelle Modell möchte neben der Gesundheit auch gesundheitsrelevante Verhaltensweisen sowie umfassendere Konstrukte wie Lebensqualität und Wohlbefinden und schließlich Mortalität abbilden (Abb. 1).

Abb. 1
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Interdisziplinäres Modell zur Erklärung gesundheitlicher Unterschiede zwischen Stadt und Land

Determinanten der Gesundheit auf Mikroebene

Als individuelle Determinanten dieser Gesundheitsdimensionen sind zunächst auf Mikroebene neben der genetischen Prädisposition askriptive Merkmale wie Alter, Nationalität und Ethnie sowie das biologische und soziale Geschlecht zu nennen. Auf individueller Ebene stehen sie in teils moderierender, teils mediierender Beziehung zu Ressourcen und Stressoren, welche aus den räumlichen Einflussfaktoren auf Mesoebene resultieren. Aus diesem komplexen Bedingungsgefüge resultiert schließlich die individuelle Vulnerabilität und Resilienz, welche die individuelle Gesundheit bedingt.

Determinanten der Gesundheit auf Mesoebene

Stadt-Land-Unterschiede bezüglich der natürlichen Umwelt

Natur.

Städtische und ländliche Wohnumgebungen unterscheiden sich u. a. geographisch (geomorphologisch, vegetativ und mikroklimatisch). Gesundheitlich relevant ist hierunter v. a. das Mikroklima, welches aus dem Zusammenspiel aus Großklima, lokaler Atmosphäre, Luftaustausch und Niederschlag sowie Strahlungs‑, Wärme- und Feuchtehaushalt resultiert [19]. Typisch für die Stadt sind sog. „Wärmeinseln“, welche sich durch die Aufheizung von Ziegeln, Glas, Beton, Stahl sowie asphaltierter und anderweitig versiegelter Flächen im Verein mit einer geringeren Belüftungseffektivität bilden. Im Mittel liegen hierzulande die Temperaturen in der Stadt in der Folge um etwa 0,5–2,0 °C höher als auf dem Land [11]. Im Sommer kann die Temperaturdifferenz in dicht bebauten Innenstädten sogar bis zu +10 °C betragen [11]. Der Deutsche Wetterdienst prognostiziert, dass sich diese Stadt-Land-Unterschiede und damit auch die hitzebedingte Morbidität und Mortalität im Zuge des Klimawandels weiter verstärken werden [11].

Aus medizinischer Sicht ist außerdem die räumlich ungleich verteilte Pollenbelastung gesundheitsrelevant. Naturgemäß ist sie auf dem Land höher [5], differiert aber innerstädtisch ebenfalls stark [3]. So werden an innerstädtischen Hauptverkehrsstraßen aufgrund der starken Aufwirbelung bereits sedimentierter Pollen deutlich höhere Konzentrationen registriert als in städtischen Randlagen. Zudem wirken Pollen in Gebieten mit höherer Luftverschmutzung aggressiver [3].

Physikalische und chemische Umweltbelastungen.

Eine Lärmbelästigung im unmittelbaren Wohnumfeld berichten etwa 40 % der Deutschen, darunter 51 % der Bewohner in Großstädten und 41 % der Bewohner in ländlichen Kreisen. Dieser Stadt-Land-Unterschied findet sich auch bei einer Differenzierung nach den häufigsten Lärmquellen (Verkehrs‑, Nachbarschafts- und Fluglärm [25]). Besonders von Verkehrslärm betroffen sind innerstädtische Lagen großer Metropolen. Negative aurale Wirkungen sind Gehörschäden, negative extraaurale Wirkungen beispielsweise physiologische und psychische Stressreaktionen [2, 25]. Verkehrslärm steht zudem unter Verdacht, den Blutdruck zu erhöhen und so u. a. ischämische Erkrankungen zu begünstigen [10, 33].

Bezüglich anthropogen verursachter Luftschadstoffe unterscheidet man verbrennungsbedingte und nichtverbrennungsbedingte Partikel und Gase [36]. Während für Gase wie Schwefeldioxid und Stickoxide Grenzwerte ermittelbar sind, unter denen keine gesundheitlich nachteiligen Wirkungen zu erwarten sind, sind Partikel in Form von Feinstaub hingegen in jeder Konzentration schädlich [35]. Wenig überraschend liegt die Feinstaubkonzentration in der Stadt über derjenigen auf dem Land. Innerstädtisch sind vor allem Hauptverkehrsstraßen betroffen [3, 36]. Gleiches Stadt-Land-Gefälle gilt für Luftschadstoffe der Gasphase wie Schwefeldioxid, Stickoxide, Kohlenmonoxide und Kohlenwasserstoffe. Eine Ausnahme stellt Ozon dar: Weil es mit lokal emittiertem Stickstoffmonoxid durch einen Titrationseffekt zu Stickstoffdioxid abgebaut wird, liegen die Ozonkonzentrationen auf dem Land in der Regel über denen der Stadt [34, 36].

Stadt-Land-Unterschiede bezüglich der physisch gebauten Umwelt

Bebauung.

Die Verkehrs- und Stadtplanung unterscheidet zur Charakterisierung der Bebauung durch Gebäude und Wege die fünf „D’s“: Die „density“, also die Dichte der Bebauung, die „diversity“, also die Vielfalt der Flächennutzung, das „design“ der Straßen, Fuß- und Radwege inklusive deren Vernetzung, die „destination accessibility“, also die Entfernung wichtiger Zielpunkte, und schließlich die „distance to transit“, also die kürzeste Wegstrecke zur nächsten Haltestelle [7]. Walkability-Scores kombinieren diese fünf quantitativen Elemente, um die Bewegungsfreundlichkeit eines städtischen oder ländlichen Wohnortes zu charakterisieren (z. B. www.walkscore.com). Aktuelle Ansätze berücksichtigen darüber hinaus auch qualitative Aspekte (Aufenthaltsqualität, Ästhetik, Beleuchtung, Angsträume, Verkehrssicherheit [7]). Gemessen an den oben genannten klassischen Indikatoren weisen städtische Räume grundsätzlich eine höhere Konnektivität und damit eine bessere Walkability als ländliche Räume auf [6, 7].

Die dichtere Bebauung und die größere Nähe von Zielpunkten gehen allerdings mit einer geringeren Verkehrssicherheit in der Stadt einher. Sowohl die absolute Zahl an Verkehrsunfällen als auch das relative Unfallrisiko pro Einwohner ist in Städten höher als auf dem Land. Dies gilt für Pkw-Fahrer, Radfahrer und Fußgänger gleichermaßen [13, 14].

Infrastruktur.

Im Rahmen der Bedarfsplanung ist es politisch gewollt, dass ambulante und stationäre Gesundheitseinrichtungen in der Stadt Patienten im weiteren Umland mitversorgen. Folglich ist für Deutschland ein ausgeprägtes Stadt-Land-Gefälle etwa bei der Ärztedichte typisch. Dies gilt für die hausärztliche Versorgung [17] ebenso wie für die Facharztversorgung [1] und die Erreichbarkeit anderer medizinischer Leistungserbringer [37]. Beispielsweise ist in Stadtstaaten wie Berlin, Hamburg und Bremen die Ärztedichte am höchsten und in Flächenländern wie Bayern am niedrigsten [17]. Bezüglich der ambulanten Versorgung herrscht hierzulande eine lokale Unterversorgung in ländlichen Regionen und eine Überversorgung in Ballungszentren [17]. Eigene Repräsentativdaten belegen, dass diese quantitative Unterversorgung auch mit einer qualitativen Unterversorgung einhergeht, u. a. weil Haus- und Fachärzte auf dem Land mit volleren Praxen, Zeitmangel und Vernetzungsdefiziten zu kämpfen haben [16]. Ähnliche regionale Disparitäten werden auch bezüglich der stationären Versorgung mit Krankenhausbetten prognostiziert [17].

Damit kommt der Verkehrsanbindung eine Schlüsselrolle bei der gesundheitsrelevanten Infrastruktur zu [32]. Ein besserer öffentlicher Personennahverkehr erhöht die Erreichbarkeit von gesundheitsrelevanten Einrichtungen. Das Bundesinstitut für Bau‑, Stadt- und Raumforschung konstatiert für viele ländliche Regionen bezüglich Bedienungs‑, Erschließungs- und Verbindungsqualität lediglich eine Grundversorgung. So ist die Haltestellendichte in Großstädten fast zehnmal so hoch wie auf dem Land (2,6 vs. 0,3 Haltestellen pro km2). Ähnliches gilt für die Abfahrtendichte und den Quotienten aus Abfahrten*Flächeneinheit. Letzterer liegt in Großstädten um das 100fache höher als in Landgemeinden [27].

Stadt-Land-Unterschiede bezüglich der psychosozialen und ökonomischen Umwelt

Soziales Netzwerk.

Das soziale Netzwerk ist eine Gesundheitsressource [38, 39]. So kann daraus resultierende soziale Unterstützung im Krankheitsfall im Sinne eines Puffereffekts psychische, instrumentelle und informationelle Hilfe bedeuten [29, 38]. Zentraler Teil des sozialen Netzwerkes ist die Familie. Diesbezügliche Stadt-Land-Unterschiede wurden für die besonders vulnerable Gruppe der Senioren untersucht. So haben Senioren auf dem Land im Durchschnitt 1,2 mehr Angehörige mit enger Beziehung und 0,5 mehr Angehörigen in unmittelbarer Nähe als diejenigen in der Stadt. Folglich leiden sie auch seltener unter Einsamkeit [28]. Über die Familie hinaus scheinen auch außerfamiliäre Netzwerke und soziale Institutionen auf dem Land eine größere Bedeutung zu haben. Dies ist für Nachbarschaftskontakte [9], Nutzung institutioneller Angebote wie Jugendtreffs [22] und für die Kirchenbindung bekannt [24]. Nicht zuletzt legen rigidere soziale Normen und ausgeprägtere soziale Kontrolle auf dem Land weniger Devianz und gesundheitsschädliches Verhalten nahe [26].

Kriminalität.

Typische Charakteristika der Stadt kumulieren zu einem günstigen Nährboden für Straftaten. Hierzu zählen höhere und damit aggressionsfördernde Bevölkerungsdichte, größere Anomie, mehr lohnende Objekte, häufigerer Kontakt sowie bessere Kooperationsmöglichkeiten der Täter und schließlich häufigere, im negativen Sinne beispielgebende Normbrüche bei gleichzeitig geringerer sozialer Kontrolle [30]. Folglich ist die objektive Kriminalitätsbelastung in der Stadt deutlich höher als auf dem Land. Das relative Kriminalitätsrisiko, also die Zahl der Straftaten pro Einwohner, korreliert positiv mit der Einwohnerzahl [26]. In der Stadt ergibt sich für die einzelnen Straftatengruppen ein um den Faktor 2–4 höheres Risiko. Für Raubdelikte liegt dieser Faktor sogar bei 9 [30]. Diese Stadt-Land-Unterschiede bei der objektiven Kriminalität spiegeln sich auch subjektiv, im Sicherheitsempfinden, wider [26].

Ökonomische Ressourcen.

Individuelles Einkommen und Vermögen kumuliert auf Mesoebene zum ökonomischen Status einer Wohnumgebung. So verfügen Kommunen mit einem hohen Anteil an Arbeitslosen und Geringverdienern auch auf der aggregierten Ebene der Gemeinschaft über weniger finanzielle Ressourcen als reichere. Unter anderem aufgrund der Urbanisierung liegt das durchschnittliche Lohnniveau in deutschen Großstädten fast eintausend Euro über demjenigen in ländlichen Räumen [8]. Darüber hinaus ist die Einkommensungleichheit in der Stadt größer: So lassen sich in deutschen Großstädten mehr Haushalte dem oberen sowie dem unteren Ende der Einkommensskala zuordnen als auf dem Land [15]. Neuere Ansätze operationalisieren regionale ökonomische Ungleichheit umfassender als lediglich anhand des aggregierten Einkommens (Deutscher Index multipler Deprivation [20, 21]). Ökonomische Ressourcen sind gesundheitsrelevant, weil zum einen Kommunen indirekt aus dem resultierenden Steueraufkommen profitieren (z. B. für die Instandhaltung von bewegungsrelevanten Infrastrukturen wie Schwimmbäder, Sportstätten und Radwege) sowie zum anderen kumulierte Kaufkraft Ansiedlung und Qualität gesundheitsrelevanter Einrichtungen begünstigt (Angebote von Vereinen und Gesundheitsdienstleistern).

Determinanten der Gesundheit auf Makroebene

Übergreifende, gesundheitsrelevante Rahmenbedingungen werden gemeinhin der Makroebene zugeordnet. Unterschieden werden hierbei Regierungen und andere staatliche Institutionen, Märkte (z. B. Gesundheitsmarkt, Automobil‑, Chemie- und Nahrungsmittelindustrie) und der sog. „Dritte Sektor“ (Non-Profit-Organisationen, Nichtregierungsorganisationen u. ä. [38]; Abb. 1). Diese Strukturen existieren per definitionem überregional, können in der Stadt und auf dem Land aber in Form lokaler Akteure eine unterschiedliche Relevanz erlangen.

Modellimmanente Wirkungspfade

Interdependente Effekte

Als umweltspezifische Einflussfaktoren auf die verschiedenen Dimensionen der Gesundheit sind auf dem Mesolevel natürliche Umwelteinflüsse von physisch gebauten sowie psychosozialen und ökonomischen zu unterscheiden. Die zwischen diesen Blöcken liegenden Pfeile sollen symbolisieren, dass diese Faktoren in einer interdependenten Beziehung stehen (Abb. 1). Beispielsweise führen städtebauliche Maßnahmen, wie die Beleuchtung von Unterführungen und anderen Angsträumen (physisch gebaute Umwelt), zu einer Verringerung der Kriminalität (psychosoziale Umwelt) und eine unzulängliche Verkehrsinfrastruktur (physisch gebaute Umwelt) wegen häufiger Staus und hohem Pkw-Aufkommen zu Feinstaubbelastungen der Luft (natürliche Umwelt).

Objektive und subjektive Effekte

Es ist möglich, dass objektive Merkmale städtischer und ländlicher Umwelten aufgrund objektiv unterschiedlicher Vulnerabilität und subjektiv unterschiedlicher Wahrnehmung jeweils spezifisch auf die dort lebenden Personen wirken [12]. Unser Modell veranschaulicht, dass Einflussgrößen der Mesoebene sich folglich individuell unterschiedlich als Ressourcen oder Stressoren niederschlagen können. Das heißt, dass nicht von einer identischen Dosis-Wirkungs-Beziehung eines Umweltfaktors auf alle Bewohner auszugehen ist.

Kompositionelle und kontextuelle Effekte

Stadt-Land-Unterschiede im Gesundheitsgeschehen können auch aus der wanderungsbedingten Bevölkerungszusammensetzung resultieren. Dann spricht man von einem kompositionellen Effekt [23, 38]. Kompositionelle Effekte ergeben sich aus individuellen Eigenschaften oder individuellem Handeln (etwa aus Wanderungsbewegungen mit den Folgen einer Urbanisierung oder einer Gentrifizierung).

Gesundheitsmodelle angrenzender Forschungsfelder

Das hier vorgestellte Modell ist anschlussfähig an einschlägige nationale und internationale Arbeiten, welche allerdings für mehr oder weniger abweichende Kontexte und Zielgrößen formuliert wurden [4, 18, 31, 38]. Wenngleich eine konzeptionelle Herleitung des vorgeschlagenen Modells aus Platzgründen an dieser Stelle nicht möglich ist, soll dennoch ein an anderer Stelle publizierter Modellvergleich angesprochen werden: Bolte et al. [4] haben existierende Modelle zum angrenzenden Feld der Umweltgerechtigkeit bewertet. Demnach zeichne sich ein gutes Modell zur Umweltgerechtigkeit durch sieben Elemente aus: Berücksichtigung (1) der Makroebene, von (2) Genderaspekten, der (3) physischen und sozialen Umwelten als Ressourcen und Stressoren, von (4) komplexen Dosis-Wirkungs-Beziehungen, der (5) Umweltbedingungen auf Mesoebene, der (6) individuellen Vulnerabilität und der (7) expliziten Nennung von Akteuren. Wenngleich unser Gesundheitsmodell nicht Umweltgerechtigkeit, sondern Stadt-Land-Unterschiede erklären soll, so versucht es dennoch, die oben genannten Anforderungen zu berücksichtigen.

Fazit für die Praxis

  • Weder das Leben auf dem Land, noch das Leben in der Stadt bietet hierzulande per se gesündere Lebensbedingungen. Innerhalb aller berücksichtigten Dimensionen finden sich empirisch und tendenziell einige auf dem Land und einige in der Stadt günstigere Verhältnisse. Darüber hinaus können sich die innerstädtischen Rand- und Zentrumslagen in Bezug auf gesundheitsrelevante Belastungen und Ressourcen deutlich unterscheiden.

  • Unser Modell vermeidet eine zu starke Vereinfachung ebenso wie eine Überkomplexität, indem es sich auf wesentliche Aspekte beschränkt und somit Raum für Anwendung und Erweiterung bietet.