Hintergrund und Fragestellung

Akute Infektionen zählen zu den häufigsten Krankheitsbildern in der Notfallmedizin. Die Sepsis ist die schwerste und eine potenziell lebensbedrohliche Komplikation einer akuten Infektion. In Deutschland ist vermutlich jeder fünfte Todesfall mit einer Sepsis assoziiert [8]. Sepsis entsteht als Folge einer Dysregulation des Immunsystems des Wirtsorganismus, ausgelöst durch Bakterien, Viren, Pilze und auch Protozoen [16]. Klinisch manifestiert sich diese überschießende Immunantwort mit einer Schädigung der körpereigenen Organe und Gewebe. Zu spät behandelt, geht die Sepsis rasch in ein Multiorganversagen (MOV) und einen septischen Schock mit hoher Letalität über. Um den potenziell fulminanten Verlauf einer Sepsis aufzuhalten, ist eine umgehende antiinfektive und supportive Therapie nötig [5]. Dies setzt voraus, dass unter Patient*innen mit dem Verdacht auf eine Infektion jene mit einem potenziell septischen Verlauf schnell und sicher identifiziert werden.

Um die Diagnose einer Sepsis zu stellen und die damit einhergehende Organschädigung zu erfassen, wurde mit Einführung der Sepsis-3-Definition die Anwendung des Sequential Organ Failure Assessment Score (SOFA-Score) empfohlen [16]. Hierzu erfasst der SOFA-Score standardisiert, ob eine akute Dysfunktion von sechs definierten Organsystemen vorliegt. Da der Score allerdings neben Laborparametern und einer arteriellen Blutgasanalyse auch Vorbefunde voraussetzt, ist er in der Notfallmedizin, gerade für die initiale Akutversorgung, nur bedingt geeignet. Deshalb wurde im Rahmen der Sepsis-3-Definition Quick-SOFA (qSOFA) als eine Möglichkeit für das Screening von Patient*innen mit Verdacht auf Sepsis vorgeschlagen. Der qSOFA-Score erfasst mit der Bewusstseinslage, der Atemfrequenz und dem systolischen Blutdruck schnell zu erhebende Vitalparameter zu drei Organsystemen (Tab. 1). Sind zwei oder mehr dieser Vitalparameter abweichend von der Norm, gilt der Score als positiv [16]. Initial nur auf Basis der Vorhersagekraft für eine erhöhte Sterblichkeit validiert, etablierte sich qSOFA in der notfallmedizinischen Routine schnell als Screening-Tool für Sepsis [3]. Seit der Einführung von qSOFA wurde dies jedoch wiederholt kritisch hinterfragt [1, 6, 13]. Die im Herbst 2021 veröffentlichte Leitlinie der Surviving Sepsis Campaign (SSC) empfiehlt nun explizit, qSOFA nicht mehr als Screening-Tool zu nutzen [7]. Hintergrund ist die in klinischen Validierungsstudien mehrfach beschriebene schwache Sensitivität im Bereich von 40 bis 60 % – qSOFA verpasst somit etwa die Hälfte aller Patient*innen mit einer Sepsis [1, 11, 18].

Tab. 1 Quick Sequential Organ Failure Assessment (qSOFA; [16])

Als mögliche Alternative verweist die SSC u. a. auf den National Early Warning Score 2 (NEWS2; [14]). Der Score wurde entwickelt, um notfallmedizinische Patient*innen zu triagieren und kritisch kranke Patient*innen zu identifizieren. Es handelt sich um einen komplexeren Score, in den mit unterschiedlicher Gewichtung die Bewusstseinslage, die Atemfrequenz, der systolische Blutdruck, die Sauerstoffsättigung, die Herzfrequenz sowie die Körpertemperatur einfließen. Je ausgeprägter die Abweichungen von der Norm sind, umso höhere Punktzahlen werden vergeben. Zusätzlich werden Punkte bei der Notwendigkeit einer Sauerstofftherapie vergeben. Über die Gesamtpunktzahl erfolgt die Einteilung in drei Kategorien: leichtes (≤ 4 Punkte), moderates (5–6 Punkte) und hohes Risiko (7 Punkte) für einen schweren Krankheitsverlauf. Wird für einen Vitalparameter der maximale Ausschlag (3 Punkte) vergeben, besteht unabhängig von der Gesamtpunktzahl mindestens ein moderates Risiko (Tab. 2). Bereits für eine frühere Version von NEWS2 (NEWS) konnte gezeigt werden, dass die Mortalität sowohl für Patient*innen mit als auch ohne Verdacht auf eine Infektion belastbar vorhergesagt werden kann. Im Vergleich zu qSOFA zeigte sich NEWS für jede gewählte Sensitivität effizienter [12].

Tab. 2 National Early Warning Score 2 (NEWS2; [14])

Ziel der Arbeit

Ziel der vorliegenden Subanalyse war es, an einer Kohorte von notfallmedizinischen Patient*innen mit dem klinischen Verdacht auf eine akute Infektion die Performance von NEWS2 und des qSOFA-Scores bei der Erkennung einer Sepsis zu vergleichen. Zudem sollten die Vitalparameter, die Bestandteile beider Scores sind, isoliert betrachtet werden. Dabei wurde untersucht, ob bereits ein einzelner, abweichender Vitalparameter in dem untersuchten Kollektiv als Hinweis auf eine imminente Organschädigung hätte interpretiert werden können und somit eine Risikoerhöhung für das Vorliegen einer Sepsis ableitbar gewesen wäre.

Studiendesign und Untersuchungsmethode

Von Februar bis Dezember 2019 wurden in der zentralen Notaufnahme am Campus Benjamin Franklin der Charité – Universitätsmedizin Berlin 312 Patient*innen prospektiv in eine klinische Studie eingeschlossen (Registrierung: DRKS-ID 00017395). Einschlusskriterien waren ein Lebensalter ≥ 18 Jahre und der klinische Verdacht auf eine akute Infektion zum Zeitpunkt der Vorstellung in der Notaufnahme. Dieser Verdacht konnte klinisch durch eine Pflegekraft bereits in der Triage oder im initialen Arztkontakt gestellt werden und führte dann zum Einschluss durch das Studienteam. Es erfolgte eine Aufklärung und schriftliche Einverständniserklärung oder im Falle einer nicht einwilligungsfähigen Patient*in die Aufklärung und Einverständniserklärung einer/eines gesetzlich Betreuenden. Es wurden die Vitalparameter zum Zeitpunkt der initialen Vorstellung in der Notaufnahme sowie der gesamte weitere klinische Verlauf erfasst. Die für die Ermittlung von SIRS, qSOFA-Score und NEWS2 verwendeten Vitalparameter und Laborparameter waren prinzipiell die frühestmöglich verfügbaren Parameter nach Vorstellung in der Notaufnahme. Zusätzlich erfolgte ein telefonisches Follow-up 30 Tage nach der Vorstellung in der Notaufnahme. Nach Abschluss der Rekrutierung wurde über ein Expertenpanel der Infektionsstatus ermittelt. Hierzu erfolgte durch zwei Fachärzt*innen für innere Medizin mit der Zusatzbezeichnung klinische Notfall- und Akutmedizin die Bewertung sämtlicher laborchemischer, radiologischer und mikrobiologischer Befunde sowie des stationären Krankheitsverlaufs mittels der Krankenakte und des Entlassungsbriefs. Das Expertenpanel bestimmte für den Zeitpunkt der Vorstellung in der Notaufnahme das Vorliegen einer bakteriellen und/oder einer viralen Infektion als „sehr wahrscheinlich oder gesichert“ vs. „unwahrscheinlich oder ausgeschlossen“. Jeder/m Patient*in konnte so ein Infektionsstatus zugeordnet werden.

Gleichzeitig wurde der klinische Verlauf beurteilt: Kam es bei Patient*innen mit gesicherter Infektion im Zeitraum bis 72 h nach initialer Vorstellung in der Notaufnahme zu einem Multiorganversagen, wurde der Verlauf als septisch gewertet und der für die vorliegende Analyse definierte Endpunkt der Sepsis erreicht. Hierbei wurde ein Multiorganversagen definiert als eine Dysfunktion von 2 oder mehr Organsystemen des SOFA-Scores. Für eine genauere Darstellung der strukturieren klinischen Auswertung, Bestimmung des Infektionsstatus und der Kohorte siehe auch Bauer et al. [2, 9].

Die statistische Auswertung der Daten erfolgte mittels R (Version 3.6.1, R Foundation for Statistical Computing, Wien, Österreich). Zum Vergleich der diagnostischen Aussagekraft der verschiedenen Scores wurden Receiver-operating-characteristics(ROC)-Kurven erstellt und die jeweilige Fläche unter der ROC-Kurve ermittelt (AUROC). Zur Ermittlung der Odds Ratio wurden die Vitalparameter nach klinisch relevanten Grenzwerten gestaffelt (Beispiel: Körpertemperatur ≤ 36,0/36,1–38,0/38,1–39,0/≥ 39,1 °C). Die p-Wert-Berechnungen der AUROC-Kurven erfolgten mittels DeLongs Methode, der nominalen Variablen mittels Fisher’s Exact Tests und der kontinuierlichen Variablen mittels Mann-Whitney-U-Test.

Ergebnisse

Insgesamt konnten 312 Patient*innen mit dem klinischen Verdacht auf eine akute Infektion eingeschlossen und ausgewertet werden (Abb. 1). Durch das Expertenpanel konnte für 194 Patient*innen (62,2 %) eine bakterielle und für 41 (13,1 %) eine virale Infektion diagnostiziert werden, 45 (14,4 %) wurden als koinfiziert (bakteriell und viral) gewertet. Für 10,3 % aller Patient*innen konnte eine Infektion ausgeschlossen werden. Unter allen als infiziert gewerteten Patient*innen kam es bei 20 % innerhalb von 72 h nach initialer Vorstellung in der Notaufnahme zu einem Multiorganversagen – dies schließt auch Patient*innen ein, welche zum Zeitpunkt der Vorstellung bereits an einem Multiorganversagen litten. In der gesamten Kohorte von Patient*innen mit initial bestehendem Verdacht auf eine Infektion lag somit bei 17,9 % eine Sepsis vor.

Abb. 1
figure 1

Flussdiagramm der Studie. Einschluss von 312 Patient*innen mit klinischem Verdacht einer akuten Infektion. Auswertung des Infektionsstatus durch Expertenpanel aus der Ex-post-Sicht: bakterielle und/oder virale Infektion. Infektion und Diagnose eines Multiorganversagens bis 72 h nach notfallmedizinischer Vorstellung wird als Sepsis gewertet. Multiorganversagen definiert als Dysfunktion von 2 oder mehr Organsystemen des SOFA-Scores [16]

Tab. 3 zeigt die Charakteristika der Patient*innen bei Studieneinschluss und ausgewählte Endpunkte des klinischen Verlaufs. Patient*innen mit einer Sepsis unterschieden sich nicht signifikant in Alter und Geschlecht von Patient*innen ohne Sepsis. Für die dargestellten Vitalparameter zeigte sich für alle aufgeführten Parameter ein signifikanter Unterschied zwischen Patient*innen mit und ohne Sepsis. Das Serumlaktat in der initialen Blutentnahme war in der Sepsisgruppe signifikant erhöht. In der Gruppe der Patient*innen mit einer Sepsis verstarben 30,4 % aller Patient*innen binnen 28 Tagen. In der Gruppe ohne Sepsis verstarben 2,0 %. In der Gruppe der Patient*innen, für die keine Infektion nachgewiesen werden konnte, gab es innerhalb von 28 Tagen keinen Todesfall. Die Mortalität in der gesamten Kohorte lag bei 7,1 %.

Tab. 3 Basischarakteristika

Vergleich qSOFA und NEWS2

Zum direkten Vergleich des qSOFA-Scores und von NEWS2 wurden Receiver-operating-characteristics(ROC)-Kurven erstellt und die Fläche unter der ROC-Kurve ermittelt (AUROC). NEWS2 zeigte mit einer AUROC von 0,81 gegenüber qSOFA (0,77) eine bessere diagnostische Leistung, war jedoch nicht signifikant überlegen. Die einmalige Serumlaktatmessung ergab mit einer AUROC von 0,73 eine schwächere diagnostische Güte. Die Performance der älteren SIRS-Kriterien (systemisches inflammatorisches Response-Syndrom) zeigt sich mit einer AUROC von 0,67 deutlich unterlegen (Tab. 4).

Tab. 4 AUROC für Vorliegen einer Sepsis

Für den klinischen Einsatz der Scores ist für den qSOFA-Score ein Grenzwert von ≥ 2 etabliert, NEWS2 unterscheidet zusätzlich zwischen einem niedrigen, moderaten und hohen Risiko (Cut-off jeweils: ≤ 4, 5–6, ≥ 7 Punkte). Ein positiver qSOFA-Score (≥ 2) erkennt in unserer Kohorte eine Sepsis mit einer Sensitivität von 57 % bei einer Spezifität von 83 %. Wählt man in der vorgestellten Kohorte den moderaten NEWS2-Grenzwert (≥ 5) für das Erkennen einer Sepsis, ergibt sich eine deutlich bessere Sensitivität von 96 % mit einer Spezifität von 45 %. Der NEWS2-Grenzwert ≥ 7 (hohes Risiko) ergibt weiterhin eine bessere Sensitivität im Vergleich zu qSOFA von 75 % bei einer Spezifität von 70 %. Wird zum Vergleich in der gleichen Kohorte ein Serumlaktat > 2,0 mmol/l als positiver Test auf das Vorliegen einer Sepsis gewertet, ist auch die Sensitivität des erhöhten Serumlaktats mit 75 % (Spezifität 61 %) besser als die des positiven qSOFA-Scores (57 %). Weitere Werte siehe Tab. 5.

Tab. 5 Genauigkeit nach Grenzwert

In der gesamten Kohorte konnte, unabhängig vom Vorliegen einer Infektion oder einer Sepsis, der qSOFA-Score die Mortalität innerhalb von 28 Tagen mit einer Sensitivität von 50 % (Spezifität 78 %) voraussagen. Der moderate NEWS2 zeigte sich auch hier mit einer Sensitivität von 91 % (Spezifität 40 %) überlegen.

Analyse einzelner Vitalparameter

Die Vitalparameter, welche Bestandteile des qSOFA-Scores und von NEWS2 sind, wurden nach klinisch relevanten Grenzwerten gestaffelt und die beobachteten Odds Ratios (OR, im Folgenden auch als „Risiko“ übersetzt) für das Vorliegen einer Sepsis berechnet (Abb. 2). Für Patient*innen mit Verdacht auf eine Infektion lässt sich somit theoretisch zeigen, ob und wie durch die Abweichung einzelner Vitalparameter eine Risikoerhöhung für das Vorliegen einer Sepsis besteht. Eine Atemfrequenz bei Vorstellung in der Notaufnahme von > 25/min erhöhte das Risiko auf das Vorliegen einer Sepsis um den Faktor 3,1, eine Sauerstoffsättigung von < 90 % um den Faktor 2,7, eine Sauerstoffsättigung < 86 % um 4,4. Erhielt der Patient zum Zeitpunkt der Vorstellung in der Notaufnahme Sauerstoff, entstand hierdurch statistisch ebenfalls eine Risikoerhöhung um den Faktor 4,4. Von einer erhöhten Körpertemperatur bis hin zu Fieber > 39,0 °C konnte in unserer Kohorte keine Erhöhung des Risikos abgeleitet werden, jedoch zeigt eine Untertemperatur von ≤ 36,0 °C eine 2,4-fache Risikoerhöhung. Ein systolischer Blutdruck ≤ 90 mm Hg führt zu einer 3,9-fachen Risikoerhöhung, ebenfalls steigerten eine Bradykardie (≤ 60/min) und eine Tachykardie (> 110/min) das Risiko. Für eine Vigilanzminderung bzw. für ein Defizit auf der Glasgow Coma Scale (GCS) fand sich in unserer Kohorte die stärkste Risikosteigerung. Bereits eine leichte Vigilanzminderung mit einem GCS-Wert von 14 steigerte das Risiko um den Faktor 4,6. Ab einem GCS-Wert von 13 und weniger war das Risiko um den Faktor 5,8 erhöht.

Abb. 2
figure 2

Einfluss veränderter Vitalparameter auf das Risiko einer Sepsis. Odds Ratio für das Vorliegen einer Sepsis in Abhängigkeit von veränderten Vitalparametern. Odds Ratio (OR; 95 %-Konfidenzintervall [KI]) gestaffelt nach Auslenkung der entsprechenden Vitalparameter. Keine Sepsis/Sepsis zeigt die Anzahl der Patient*innen, welche den entsprechenden Endpunkt erfüllen

Diskussion

Durch die liberalen Einschlusskriterien (klinischer Verdacht auf eine akute Infektion) und die niedrigschwellige Möglichkeit, bereits durch die triagierende Pflegekraft einen Studieneinschluss zu initiieren, wurde versucht, eine maximal realitätsnahe notfallmedizinische Kohorte zu genieren. Der hier gewählte Endpunkt einer Sepsis beruht auf einer möglichst exakten Diagnose des Infektionsstatus und einem engmaschigen Follow-up. So konnte in der untersuchten Kohorte für 56 von 312 Patient*innen (17,9 %) eine Sepsis diagnostiziert werden. Ein isoliertes Screening auf Sepsis mittels qSOFA-Score, basierend auf der initialen Vitalparametermessung, verfehlte bei 43 % aller Patient*innen mit einer Sepsis die entsprechende Diagnosestellung. Wie in Tab. 5 gezeigt, kommt es zu einem sprunghaften Anstieg der Sensitivität des qSOFA-Scores auf mehr als 90 %, wenn der Grenzwert von ≥ 2 auf ≥ 1 gesenkt wird. Dies geschieht auf Kosten der Spezifität, zeigt aber die offensichtliche Schwachstelle des Scores: Bevor qSOFA positiv wird, müssen bereits zwei Organsysteme kompromittiert sein. Bei den untersuchten Patient*innen mussten also mindestens zwei potenzielle Organdysfunktionen aufgetreten sein, bevor der Verdacht auf eine Sepsis überhaupt gestellt werden konnte. Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer möglichst raschen Diagnosestellung und Therapieeinleitung unterstreicht dies die Schwäche des qSOFA-Scores. Darüber hinaus entspricht das Vorliegen von zwei Organdysfunktionen als Voraussetzung für das Vorliegen einer Sepsis nicht der aktuellen Sepsisdefinition, die bereits beim akuten Auftreten einer Organdysfunktion auf Basis des Vorliegens von zwei Punkten nach dem SOFA-Score vom Vorliegen einer Sepsis ausgeht. Jede einzelne der drei den qSOFA-Score bestimmenden Organdysfunktionen ist deshalb für sich genommen ein klinisch sehr wertvoller und einfach zu nutzender Hinweis für die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Sepsis. Eine einfache Reduktion des qSOFA-Grenzwerts auf ≥ 1 erhöht zwar die Sensitivität, der Score bleibt jedoch weiterhin auf drei Organsysteme beschränkt: Die wertvollen Informationen aus den übrigen Vitalparametern gehen verloren. Insgesamt sollte der qSOFA-Score in der ursprünglich vorgeschlagenen Weise nicht mehr als Screeninginstrument und vor allem nicht als Ausschlusskriterium für eine Sepsis genutzt werden. Gerade Letzteres kann zu einer verzögerten Diagnosestellung und Therapieeinleitung führen. Gleichwohl sind die einzelnen, den qSOFA definierenden Parameter Blutdruck, Atemfrequenz und Vigilanz bereits bei der Ersteinschätzung in der Notaufnahme relativ schnell zu bestimmen und Veränderungen alleine eines Parameters sollten – wie ausgeführt – im Zweifel differenzialdiagnostisch auch an eine Sepsis denken lassen.

Der als Alternative zu qSOFA hier ebenfalls evaluierte NEWS2 bietet deutlich bessere Werte für die Erkennung einer Sepsis. Mit 96 % Sensitivität (Spezifität 45 %) in unserer Kohorte zeigt der „moderate“ Cut-off von NEWS2 eine belastbarere Performance als Screening-Tool. Auch mit dem hohen Cut-off von ≥ 7 bleibt die Sensitivität mit dann 75 % qSOFA überlegen, bietet aber gleichzeitig eine höhere Spezifität (70 %). Im Vergleich zu qSOFA ist NEWS2 in der Handhabung diffiziler. So müssen nicht nur mehr Vitalparameter erhoben werden, sondern auch deren Verrechnung ist komplexer. In der klinischen Routine wird NEWS2 nur mit digitaler Unterstützung zuverlässig einsetzbar sein. Die Resultate stehen in Einklang mit vergleichbaren Studien: Die quantitative Wichtung der Abweichung einzelner Vitalparameter, wie in der Berechnung von NEWS2, scheint der binären Beurteilung (Erhöhung der Atemfrequenz: ja/nein) überlegen [12].

Beide Scores und deren Vielzahl an empirisch generierten Modifikationen [4, 10, 17] erreichen jedoch keine überzeugende Performance, um die kritische Herausforderung eines Sepsisscreenings in der Notfallmedizin voll zu erfüllen. Auch NEWS2 erreicht nur eine AUROC von 0,81 für den Endpunkt Sepsis. In der klinischen Routine wird man daher weiterhin nicht auf die subjektive Evaluation der Patient*innen – den „klinischen Blick“ – verzichten können. Das setzt voraus, dass das behandelnde Team die Sepsis grundsätzlich als Differenzialdiagnose oder mögliche Komplikation in Betracht zieht. Hier sollen die in Abb. 2 gezeigten Odds Ratios einen Beitrag zur Objektivierung dieses Eindrucks leisten. Veränderte Vitalparameter können eine imminente Organschädigung anzeigen. Besteht bereits der Verdacht auf eine Infektion, kann aus den abweichenden Vitalparametern eine Risikoerhöhung für das Vorliegen einer Sepsis abgeleitet werden. Zeigten sich Patient*innen im hier untersuchten Kollektiv beispielsweise tachypnoeisch, war das Risiko für eine Sepsis 3‑fach erhöht. Ähnliche Faktoren zeigten sich für Abweichungen der Sauerstoffsättigung, des systolischen Blutdrucks und der Herzfrequenz. Hier zeigte sich für eine Bradykardie statistisch eine stärkere Steigerung des Sepsisrisikos als für eine Tachykardie. Fieber zeigt eher eine protektive Wirkung: Mit einer Körpertemperatur > 39,0 °C verringert sich das Sepsisrisiko um den Faktor 0,8. Dieser bereits vorbeschriebene Effekt könnte auch ein weiteres Argument gegen eine generelle und routinemäßige antipyretische Therapie sein [15]. Die für die klinischen Routine wohl relevanteste Ableitung sollte die Risikosteigerung im Falle einer Vigilanzminderung sein. Kommt es bei Verdacht auf eine Infektion auch nur zu einer leichten Verschlechterung der Vigilanz, muss dies immer als ein deutliches Warnsignal auf eine Sepsis interpretiert werden.

Zusammenfassend lässt sich an den vorgestellten Daten dieser Subanalyse nachvollziehen, warum die Surviving Sepsis Campaign von einer Verwendung des qSOFA-Scores zum Screening auf Sepsis abrät [7]: In der vorgestellten Kohorte hätte qSOFA knapp die Hälfte aller Patient*innen mit einem septischen Krankheitsverlauf nicht identifiziert. NEWS2 zeigt eine deutlich bessere Sensitivität im Screening, wird aber in der Klinik nur mit digitaler Unterstützung zu implementieren sein. Zur Identifikation einer Sepsis muss dieses Krankheitsbild in erster Linie der Notfallmediziner*in als häufige und gefährliche Komplikation bewusst sein. Besteht klinisch der Verdacht auf eine Infektion, erscheint es unerlässlich, dass die gängigen Vitalparameter vollständig erhoben werden. Weichen diese von den altersentsprechenden Normwerten ab, ist das Risiko für einen septischen Verlauf erhöht. Insbesondere eine Veränderung der Vigilanz sollte als Warnsymptom aufgefasst werden.

Fazit für die Praxis

  • Der qSOFA-Score ist als alleiniges Screeninginstrument für das Erkennen einer Sepsis nicht geeignet.

  • Ist der qSOFA-Score positiv (≥ 2), ist eine Sepsis wahrscheinlich – ein negativer qSOFA-Score schließt eine Sepsis jedoch nicht aus. Ist bereits einer von drei Parametern des qSOFA-Scores positiv, ist differenzialdiagnostisch eine Sepsis auszuschließen.

  • NEWS2 zeigt eine deutlich bessere Sensitivität beim Screening auf Sepsis. In der Routine einer Notaufnahme mit hohen Patientenzahlen wird hier jedoch eine digitale Unterstützung zur Erfassung nötig sein, um den Score flächendeckend zu etablieren.

  • Grundsätzlich sollten bei klinischem Verdacht auf eine Infektion sämtliche Vitalparameter (Blutdruck, Herzfrequenz, Sauerstoffsättigung, Atemfrequenz, Körpertemperatur und Vigilanz/GCS) vollständig erhoben werden.

  • Insbesondere eine akut aufgetretene Vigilanzminderung oder Verwirrtheit im Rahmen einer akuten Infektion ist ein häufiges und ernst zu nehmendes Warnsignal für eine Sepsis.