FormalPara Originalpublikation

Schmitz A (2020) Kommentar: Gefahr der COVID-19-Ansteckung durch Medikamentenvernebelung. Notfall Rettungsmed. https://doi.org/10.1007/s10049-020-00710-x

FormalPara Leserbrief

Clemens J (2020) Gefahr der Medikamentenverneblung bei COVID-19: viel Rauch um nichts? Notfall Rettungsmed. https://doi.org/10.1007/s10049-020-00738-z

Die SARS-CoV-2-Pandemie ist ein Jahrhundertereignis von historischer Tragweite. Während noch am Anfang des Jahres kaum absehbar war, was der Welt bevorstand, ist heute dem COVID-19 Dashboard des Center for Systems Science and Engineering (CSSE) an der renommierten US-amerikanischen Johns Hopkins University zu entnehmen, dass wir in wenigen Monaten weltweit mit über 8 Mio. Erkrankungs- und 449.397 COVID-19-assoziierten Todesfälle konfrontiert wurden [1]. Der Ausgang der Pandemie ist trotz der aktuellen erfreulichen Entwicklung in Deutschland weiterhin unklar!

In einer solchen Situation werden die Versäumnisse und Lücken im kollektiven Wissen um Medizin und Gesundheit schonungslos offengelegt. Es ist für die Wissenschaft unmöglich, mit dem rasanten Tempo, welches tagesaktuelle Nachrichten vorgeben, mitzuhalten. Offene Frage klären und Wissenslücken mit dem Tempo zu schließen, mit dem das Infektionsgeschehen voranschreitet, sind unmöglich. Gesunder Pragmatismus kann segensreich und zielführend sein. Fehleinschätzungen können gnadenlos zu Rückschlägen führen. Bei der Bewertung von Lösungsvorschlägen gilt es, Umsicht walten zu lassen, aber auch Grenzen zu erkennen, bevor man sich zu fatalen Festlegungen hinreißen lässt.

In der Notfall+Rettungsmedizin veröffentlichten wir einen Kommentar von A. Schmitz zum Thema „Gefahr der COVID-19-Ansteckung durch Medikamentenvernebelung“, in dem auf eine mögliche Gefährdung des Rettungsdienstpersonals durch den Einsatz von Verneblermasken hingewiesen wurde [2]. Die Intention des Autors war, darauf hinzuweisen, dass von Maßnahmen, die die Aerosolbildung fördern, für das Behandlerteam mögliche Gefahren ausgehen, die mit einem erhöhten Infektionsrisiko einhergehen könnten. Auf die Notwendigkeit zur Verwendung der persönlichen Schutzausrüstung (PSA), insbesondere der Verwendung von geeigneten Partikelfiltermasken, Augenschutz, Kittel und Handschuhen, wurde dabei hingewiesen. Es wurden mögliche alternative Therapieoptionen mit vermeidlich geringerem Infektionsrisiko diskutiert. Klar ist, dass diese nur infrage kommen, wenn der Zustand des Patienten deren Anwendung erlaubt. Der Autor bezieht daher auch deutlich Stellung dahingehend, dass „indizierte und vielleicht sogar lebensrettende Therapien … dem Patienten … nicht vorenthalten werden“ dürfen [2].

Dieser Kommentar wurde nun in einem Leserbrief kritisch aufgegriffen, der in dieser Ausgabe mit abgedruckt wird und den wir zum Anlass nehmen möchten zu unterstreichen, dass die kritische Auseinandersetzung mit Handlungsempfehlungen stets angebracht ist, dass aber auch viele Unsicherheiten bestehen [21].

Aerosole als möglicher Übertragungsweg für SARS-CoV-2-Infektionen müssen spätestens nach einem Ausbruch mit mehr als 100 COVID-19-Infektionen im Umfeld einer Gemeinde in Frankfurt [3] oder der zweieinhalbstündigen Chorprobe der Berliner Domkantorei [4], aus der 60 von 80 anwesenden Chormitgliedern mit COVID-19-Infektion hervorgingen, ernst genommen werden. Aerosole sind kleinste Flüssigkeitströpfchen, die von Lebewesen unvermeidlich ausgeatmet werden. Die Partikelgröße liegt je nach Definition bei <5 µm. Im Gegensatz zu Tröpfchen können diese Partikel länger in der Luft verweilen und auch über größere Distanzen wirksam werden [5].

Die Bedeutung von Aerosolen für Ansteckungen von Mitarbeitern im Gesundheitswesen wird immer noch diskutiert. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung von Übertragungsereignissen, die auch auf andere Übertragungswege zurückzuführen sein können [6].

Es ist unbestritten, dass Vernebler mit einem deutlich messbaren Anstieg von Aerosolpartikeln einhergehen. Das ist ihr konstruktionsbedingter Bestimmungszweck und das ist mehrfach gezeigt worden [5, 7]. Der Nebel kommt dabei tatsächlich zunächst aber nicht aus dem Patienten, sondern aus der Verneblerkammer. Die Arbeitsgruppe um Edwards fand heraus, dass beim Vernebeln von 0,9 % Kochsalzlösung der Anteil der Partikel im Aerosol messbar reduziert werden kann. Dies führten sie insbesondere auf eine veränderte Oberflächenspannung der Flüssigkeit in den Atemwegen zurück [8,9,10]. Ob sich daraus ein Nutzen für die Reduktion eines eventuellen Infektionsrisikos ziehen lässt, ist aber ungeklärt. Offenbar spielt also für die Aerosolbildung auch eine Rolle, was vernebelt wird.

Völlig unklar ist, ob bei Verwendung von Verneblern in dem Nebel auch Tröpfchen enthalten sind, die aus den Atemwegen des Patienten stammen, und ob diese infektiöses Material enthalten, welches ausreichend konzentriert genug ist, um eine Infektion herbeizuführen zu können. Nur sehr wenige Studien mit kleinen Fallzahlen liegen dazu vor [11, 12]. Klinische Studien wie die Arbeiten von Loeb et al. [13], Wong et al. [14] und Raboud et al. [15] sind letztlich ungeeignet, um zwischen der Bedeutung einzelner Maßnahmen unterscheiden zu können, die zu Infektionen beim Behandlerteam führten, weil sich das komplexe Behandlungsgeschehen nicht auf eine einzelne Intervention herunterbrechen lässt. Eine Metaanalyse bleibt daher ohne gute Empfehlung zum Infektionsrisiko beim Einsatz von Verneblern [16]. Eine weitere wichtige Limitation solcher Arbeiten ist außerdem, dass nicht immer klar ist, ob das Personal z. B. durch das Tragen der PSA ausreichend geschützt war. Auch aktuelle Studien bringen hier keine verlässlichen Daten [17]. Für H1N1-Infektionen konnte gezeigt werden, dass anhand des Gehalts an infektiösem Material in der Umgebungsluft das Infektionsrisiko, das von einer Verneblermaske ausgeht, im Vergleich mit Basiswerten nicht nennenswert größer zu sein scheint, während Maßnahmen wie z. B. Absaugen oder Bronchoskopieren zu einer deutlich höheren Freisetzung von Virus-RNA führten [11]. Einige Autoren schließen ein relevantes Risiko durch Vernebler aus [11, 12, 14]. Dieser Einschätzung schließt sich auch die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e. V. (DGP) in ihrem Positionspapier zur praktischen Umsetzung der apparativen Differenzialtherapie der akuten respiratorischen Insuffizienz bei COVID-19 an [18]. Das heißt jedoch nicht, dass eine Infektion nicht dennoch stattfinden könnte. Schließlich ist der Patient infiziert.

Deshalb sei hier nochmals auf die WHO-Leitlinie zur Vermeidung von Ansteckung beim Umgang mit COVID-19-Patienten hingewiesen, insbesondere die Empfehlung zur Verwendung der PSA [19]. Indizierte Maßnahmen sollten durchgeführt werden. Der Schutz der Behandler ist dabei aber keinesfalls zu vernachlässigen und genauso wichtig wie die Behandlung des Patienten mit allen gebotenen und Erfolg versprechenden Maßnahmen. Ein abweichendes Vorgehen kann nur zugelassene Verfahren einbeziehen. Kontraindikationen sind zu beachten, Risiken sind individuell abzuwägen. Neue Verfahren müssen ihre Wirksamkeit im Rahmen geeigneter klinischer Studien unter Beweis stellen. Was nicht passieren darf, ist, dass wir aus Angst vor Ansteckung auf Therapiemaßnahmen verzichten, statt uns adäquat vor einem gegebenen Infektionsrisiko zu schützen. Jeder einzelne Mitarbeiter im Gesundheitswesen ist unverzichtbar und stellt zur Bekämpfung der Pandemie eine dringend benötigte Ressource dar, die mit allen Mittel geschützt werden muss.

Sinnvoll erscheint, das Vorgehen der Erkrankungsschwere anzupassen. Eine aktuelle Empfehlung zur Behandlung von akuten Asthmaanfällen in Zeiten von COVID-19 [20] differenziert hier zwischen milden/moderaten, schweren und lebensbedrohlichen Anfällen und richtet danach das Vorgehen aus. Der Einsatz von Verneblern ist hierbei dem lebensbedrohlichen Anfall vorbehalten. Dabei wird neben der Verneblung von Medikamenten auf die Möglichkeit der kombinierten Sauerstofftherapie hingewiesen.

Zur Prävention nosokomialer Infektionen über die Aerosolroute sind ganz offenkundig weitere Forschungsarbeiten erforderlich, um Situationen, medizinische Verfahren oder Geräte zu identifizieren, die mit einem erhöhten Risiko der Aerosolübertragung verbunden sein können. Auch fehlen Definition der Verfahren, die Aerosole erzeugen, sowie Studien zur Reduktion von Ansteckungen im Gesundheitswesen durch Aerosolbildung [6].

Die kritische Auseinandersetzung mit Bekanntem und Unbekanntem ist unverzichtbarer Bestandteil der Medizin. Gerade in der Notfallmedizin sind viele Zusammenhänge nicht ausreichend gut erforscht. Wir ermutigen unsere Leser wie unsere Autoren gleichermaßen, sich dieser Tatsache zu stellen und sich im wissenschaftlichen Disput damit auseinanderzusetzen.