Auf Einladung des Landesverbandes Südwest berichte ich über die Erfahrungen mit dem neuen stationären Durchgangsarztverfahren (DAV) aus der Perspektive als Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am Krankenhaus Leonberg.

Das KH Leonberg ist ein Haus der Grund- und Regelversorgung in öffentlicher Trägerschaft. Zusammen mit den Häusern Herrenberg, Sindelfingen, Böblingen, Calw und Nagold bildet es den Klinikverbund Südwest, der von den Landkreisen Böblingen und Calw getragen wird. Das Haus verfügt über 239 Planbetten in 8 Hauptabteilungen (2 innere Kliniken, 3 chirurgische Kliniken, Gynäkologie, Anästhesie/Intensivmedizin und Radiologie). Die Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie verfügt über 40 Betten mit einem Stellenschlüssel von 1–3–5,4. Das Krankenhaus war bis zum 31.12.2013 zum Verletzungsartenverfahren (VAV) zugelassen.

Die VAV-Zulassung ging mit dem altersbedingten Ausscheiden des ehemaligen Chefarztes, Herrn Dr. Münst, verloren. In der Folge war vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Situation des Klinikverbundes die Zukunft des Hauses unsicher. Ein Gutachter brachte die Vision eines „chefarztfreien Krankenhauses“ im Sinne einer Portalklinik ins Spiel. Erst auf massiven Protest der Bevölkerung unter Beteiligung der örtlichen Presse und der lokalen Politiker wurde die Nachbesetzung der unfallchirurgischen Chefarztstelle beschlossen. Der zuständige Kreistag entschied einerseits, eine neue zentrale Klinik in Böblingen auf dem sog. Flugfeld zu errichten und die beiden Standorte Sindelfingen und Böblingen dorthin zu verlagern, andererseits aber auch alle kleineren Häuser im Verbund zu erhalten.

In dieser Situation habe ich die Chefarztstelle zum 01.06.2014 angetreten. Inzwischen bildet die Klinik – aufbauend auf der guten Arbeit des Vorgängers – ein breites Spektrum an Leistungen der Unfallchirurgie und der Orthopädie ab – von Alterstraumatologie über Endoprothetik bis hin zu Schulter- und Wirbelbelsäulenchirurgie und der Behandlung muskuloskeletaler Tumoren. Die Klinik steht vor der Zertifizierung als Endoprothesenzentrum. Sie ist zertifiziert als regionales Traumazentrum im Traumanetzwerk (TNW) Stuttgart und derzeit als DAV-Haus am stationären BG-lichen Heilverfahren beteiligt.

In der täglichen Arbeit stellt die Tätigkeit für die Berufsgenossenschaften einen wichtigen, aber bei Weitem nicht den einzigen Bezug zu externen Partnern dar. Die Klinik kooperiert eng mit

  • den anderen Häusern im Klinikverbund Südwest, hier insbesondere mit der Unfallchirurgie und der Orthopädie am Standort Sindelfingen (VAV, EPZmax, Weiterbildung),

  • den Kliniken des TNW Stuttgart, insbesondere dem Katharinenhospital Stuttgart (VAV, Schwerstverletzungsartenverfahren [SAV], Neurotrauma),

  • der Klinik für Hand-, Plastische und Mikrochirurgie des Karl-Olga-Krankenhauses Stuttgart (SAV Hand nach § 37),

  • den Universitäten Tübingen und Ulm sowie der BG-Unfallklinik Tübingen (SAV, Lehre, Sarkomboard).

Daneben bestehen vielfältige Kooperationen mit, aber auch Abhängigkeiten von niedergelassenen Ärzten, dem Rettungsdienst, Physiotherapeuten, Sanitätshäusern, Versicherungen, Rehakliniken, der Ärztekammer und der Kassenärztlichen Vereinigung sowie Zertifizierungsstellen – von der Bedeutung lokaler politischer Institutionen einmal abgesehen. Die Berufsgenossenschaften sind in dieser Gemengelage ein wichtiger Partner unter einer Vielzahl von Partnern.

In Bezug auf das stationäre berufsgenossenschaftliche Heilverfahren ist die Möglichkeit der Versorgung von VAV-Fällen an 2 Häusern unseres Klinikverbundes gegeben, SAV-Patienten müssen dagegen an externe Partnerkliniken weiterverlegt werden, wofür in der Region 3 leistungsfähige Kliniken existieren (Ludwigsburg, Stuttgart, Tübingen).

Beim Blick auf die wirtschaftlichen Daten der letzten 4 Jahre zeigt sich, dass der Zeitraum der Chefarztvakanz von 5 Monaten zwar zu einem leichten Rückgang der stationären Fälle in 2014 geführt hat, der Rückgang der Erlöse aber nur gering war. Die Hochrechnung für das Ergebnis 2015 weist dagegen einen kräftigen Anstieg sowohl der Patientenzahlen wie des Case Mix (CM) und damit der stationären Erlöse aus. Ist somit also der Wechsel von der VAV- auf die DAV-Versorgungsstufe unproblematisch?

Betrachtet man lediglich das Aufkommen der ambulanten und stationären Fälle, so ist die Entwicklung zunächst nicht dramatisch. Ein leichter Rückgang der stationären BG-lichen Fälle von 12 auf 9 pro Monat wäre zu verkraften, zumal die Fallzahlen in der D‑Arzt-Ambulanz sogar leicht ansteigen auf zuletzt etwa 230 D-Arzt-Fälle pro Monat.

Die Probleme der Zuordnung zum DAV und dessen Grenzen zeigen sich aber bei Betrachtung einzelner Fälle.

FormalPara Fall 1.

Der 34-jährige, von einer Leiter gestürzte Arbeiter wird wach und kreislaufstabil mit dem Notarzt eingeliefert. Die Diagnostik im Schockraum ergibt eine pertrochantere Femurfraktur, eine distale Radiusfraktur Typ C3 und eine Kalkaneusfraktur. Damit liegt eine SAV-Situation vor. Die vom Chefarzt persönlich an die zuständige BG herangetragene Bitte, ob man nicht die Femurfraktur im Sinne einer raschen Stabilisierung des Röhrenknochens und zur Besserung der Schmerzsituation vor der Weiterverlegung versorgen könne, wird vom Sachbearbeiter nach interner Rückfrage abgelehnt und stattdessen die unmittelbare Weiterverlegung in eine SAV-Klinik angeordnet. Hierzu ist ein notarztbegleiteter Transport unter Intubation erforderlich, da anders die Schmerzsituation nicht beherrscht werden kann. Der Patient wird somit einem medizinisch nicht notwendigen Eingriff (Intubation) mit allen damit verbundenen Risiken ausgesetzt.

FormalPara Fall 2.

Der 68-jährige Landwirt ist ebenfalls von einer Leiter gestürzt und hat sich dabei eine Azetabulumfraktur zugezogen. Auch auf genaue Befragung durch mich persönlich bleibt er bei der Aussage, die Tätigkeit habe nichts mit seinem landwirtschaftlichen Betrieb zu tun, sondern sei vollständig privat veranlasst gewesen. Daraufhin erfolgt im eigenen Haus die interne Osteosynthese mit störungsfreiem postoperativem Verlauf. Nach Rückkehr aus der Reha ist der Patient bei guter Funktion weitgehend schmerzfrei und möchte in seinen Beruf zurückkehren. Bei einer Kontrollvorstellung berichtet er aber auf einmal, dass die BG derzeit prüfe, ob es sich nicht doch um einen Arbeitsunfall gehandelt habe.

FormalPara Fall 3.

Das Verletzungsartenverzeichnis enthält unter Ziffer 5.1 den Passus „Alle operationspflichtigen Verletzungen des Brustkorbes einschließlich Brustkorbdrainagen“. Am Beispiel einer isolierten Rippenfraktur mit Spannungspneumothorax aber ist klar ersichtlich, dass dieser Zustand in jedem Fall die sofortige Drainagenanlage erfordert – alles andere wäre ein Kunstfehler. Damit ist aber die wesentliche Behandlungsleistung bereits erbracht. Eine Weiterverlegung dieses Patienten in eine VAV-Klinik, wie im Verzeichnis vorgesehen, würde dem Patienten keinen Vorteil bringen, dafür aber in der VAV-Klinik die Bettenkapazität unnötig blockieren. Diese Einschätzung gilt natürlich nicht bei Patienten mit schweren Traumen, die thoraxchirurgisch versorgt werden müssen.

Zusammenfassung und Bewertung

Das dreistufige stationäre Heilverfahren wurde in Anlehnung an die dreigliedrige Qualifikation unfallchirurgischer Kliniken im Rahmen von Traumanetzwerken (überregionales Traumazentrum [TZ], regionales TZ, lokales TZ) konzipiert. Im Vordergrund sollte die Optimierung der Behandlungsqualität und damit des Outcomes für die Verletzten stehen. Diesem Konzept ist im Interesse der Betroffenen vom Grundsatz her zuzustimmen. Gefragt nach „Erfahrungen eines DAV-Hauses“ – so der gesetzte Titel meines Beitrags – muss man allerdings eingestehen, dass sich in der praktischen täglichen Arbeit mitunter unsinnige Hürden ergeben, die gerade nicht im Sinne einer optimalen und auch kostenoptimierten Patientenversorgung sind. Es besteht deshalb noch erheblicher Bedarf an einer Verbesserung des Systems.

Als positive Entwicklungen der letzten Monate und Jahre bewerte ich:

  • die Präzisierung, dass Patienten für die Dauer von 4 Monaten nach dem Unfallereignis als „Akutfälle“ gelten. Damit wird der alte Grundsatz „einmal VAV immer VAV“ zugunsten einer pragmatischeren Betrachtungsweise (z. B. für Metallentfernungen) verändert;

  • die Einführung des SAV Hand nach § 32, wodurch einzelne Krankenhäuser mit hoher spezifischer Kompetenz die Möglichkeit erhalten, diese zum Wohl der Patienten wohnortnäher einzusetzen als die wenigen SAV-Kliniken dies aufgrund ihrer Verteilung im Land zu leisten in der Lage sind;

  • als persönliche Erfahrung eine hohe Partnerschaftlichkeit und Professionalität in der Kooperation mit den niedergelassenen wie den klinischen Partnern, sodass die Weiterversorgung von VAV- wie von SAV-Fällen bislang stets gesichert war.

Dem stehen allerdings in dem neuen System erhebliche Bedenken und Nachteile gegenüber:

  • Dem Rettungsdienst, der ein unverzichtbarer Partner in der täglichen Arbeit ist, bleibt nicht verborgen, dass manche Patienten, die sie in unser Haus gebracht haben, bereits nach wenigen Stunden als Sekundärverlegung an eine andere Klinik gebracht werden müssen – obwohl die fachliche Kompetenz zur Versorgung z. B. einer dislozierten Tibiakopffraktur gegeben wäre. Ein Patient, der die gleiche Verletzung bei einem privaten Unfall erleidet, wird in unserer Klinik auf hohem fachlichem Niveau versorgt. Das hat zur Folge, dass der Rettungsdienst vermehrt Unfallverletzte gar nicht mehr in eine DAV-Klinik bringen wird, denn es ist im außerklinischen Umfeld meist nicht möglich, bei einem Verletzten verlässlich zu klären, ob ein Arbeits- oder Wegeunfall vorliegt und ob eine Diagnose des VAV/SAV-Verzeichnisses gegeben ist – und somit eine bestimmte Klinik angefahren werden kann oder eben nicht. Der Rettungsdienst vor Ort wird diese Fragen in aller Regel nicht oder mangels Diagnose noch nicht beantworten können.

  • Die gesetzlichen Kassen könnten sich an der Aufteilung der Versorgungsbefugnisse für verschiedene Verletzungsschweregrade beteiligen und entweder den Katalog des Verletzungsartenverfahrens übernehmen oder eine vergleichbare Struktur schaffen. Eine Argumentation, der gesetzlich krankenversicherte Patient habe den gleichen Anspruch auf eine qualitativ hochwertige Versorgung wie der berufsgenossenschaftlich Versicherte, wäre nur schwer zu widerlegen. Damit aber würde einer DAV-Klinik im ersten Schritt eine erhebliche Zahl an Fällen verloren gehen und damit auch die Erlöse. In weiterer Konsequenz aber würde dies den Status einer Klinik im Traumanetzwerk gefährden sowie eine Verschlechterung der Weiterbildungsmöglichkeiten nach sich ziehen. Damit sinkt die Attraktivität einer Klinik als Ausbildungsstätte und macht es schwer, qualifizierte junge Ärzte als Mitarbeiter zu gewinnen. Letztlich bedroht eine derartige Abwärtsspirale die Existenz manch einer DAV-Klinik oder doch zumindest der unfallchirurgischen Abteilungen.

Lösungsansätze

Das gemeinsame Ziel aller am BG-lichen Heilverfahren beteiligten Ärzte wie der Verwaltung muss die optimale Versorgung des einzelnen Unfallverletzten sein. Daran muss sich das System der stationären berufsgenossenschaftlichen Behandlung messen lassen. Derzeit krankt es aber an bürokratischen Hürden. Eine Verbesserung im Sinne der Patienten sollte folgende Ansätze umfassen:

  • Es sollte eine kritische Überarbeitung des Verletzungsartenverzeichnisses unter Einbeziehung von erfahrenen Unfallchirurgen aus Häusern aller Versorgungsstufen mit Neudefinition der Zuständigkeiten für einzelne Verletzungsmuster und Behandlungsmaßnahmen erfolgen (siehe z. B. Thoraxdrainage – Fall 3).

  • Spezifische Kompetenzen individueller Operateure an DAV-Kliniken, die Patienten mit Verletzungen des Kataloges auf dem gleichen fachlichen Niveau wie ein VAV- oder SAV-Haus zu versorgen imstande sind, sollten berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für Monotraumen (z. B. einzelne Frakturen, Kreuzbandverletzung), weniger für vital bedrohte, polytraumatisierte Patienten. Über viele Jahre sind an den großen Zentren wie Universitäten und BG-Kliniken erfahrene Unfallchirurgen in großer Zahl ausgebildet worden. Viele von ihnen sind inzwischen jedoch nicht mehr im Zentrum, sondern an kleineren Krankenhäusern oder in der Niederlassung tätig. Diese Kollegen aus der Versorgung komplexerer Verletzungen auszugrenzen bedeutet, auf deren Leistungsfähigkeit und Erfahrungsschatz zu verzichten und eine wohnortnahe Kompetenz den Verletzten vorzuenthalten.

  • Es bedarf einer Möglichkeit, das Vorgehen bei speziellen Verletzungsmustern mit einer qualifizierten Instanz zu besprechen und die geeignete Klinik für einen individuellen Patienten festzulegen. Die fachliche Kompetenz hierfür ist weniger bei den Sachbearbeitern der Verwaltung anzunehmen als bei Ärzten auf der Leitungsebene von VAV- und SAV-Kliniken – sie sollten die Entscheidungsbefugnis für notwendige Verlegungen erhalten.

  • Bei Verlegung von einem DAV-Haus in eine VAV- oder eine SAV-Klinik ist derzeit keine Rückverlegung nach der akuten Behandlungsphase vorgesehen. Dabei wäre durchaus in vielen Fällen eine wohnortnahe Weiterversorgung in der erstbehandelnden DAV-Klinik nach der operativen Versorgung in einem VAV- oder SAV-Haus zu leisten. Innerhalb der Traumanetzwerke ist eine derartige Option seit Jahren etabliert und wird auch praktiziert.