Ich danke dem Landesverband Südwest der DGUV für die Einladung nach Baden-Baden und die freundliche Überlassung des Themas. Die nachfolgende Betrachtungsweise ist rein subjektiv und sozusagen egoistisch aus Sicht eines Chefarztes an einer VAV-Klinik (VAV: Verletzungsartenverfahren).

Struktur und Umfeld der Klinik

Das Ostalb-Klinikum ist ein Krankenhaus der Zentralversorgung mit 400 Betten und liegt in Aalen, der Kreisstadt des Ostalbkreises, in Ostwürttemberg. Die Stadt Aalen selbst hat etwa 66.000 Einwohner, der Landkreis ungefähr 320.000. Die Struktur ist ländlich. Im Umkreis von etwa 50 km finden sich insgesamt 9 weitere Krankenhäuser (Abb. 1).

In der Klinik für Orthopädie, Unfall- und Wirbelsäulenchirurgie mit 48 Betten in Aalen werden im Jahr etwa 2000 Patienten stationär und etwa 10.000 Patienten ambulant behandelt. Der Stellenschlüssel der Abteilung beträgt 1/5/9. Die Klinik nimmt seit 2009 am Traumanetzwerk Ostwürttemberg teil und wurde Ende 2012 erfolgreich als Regionales Traumazentrum rezertifiziert.

Abb. 1
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Lage und Umfeld der Klinik

Im Jahr 2012 wurden 261 stationäre Fälle BG-Fälle (BG: Berufsgenossenschaft) behandelt, hierunter 114 Fälle des VAV. In der retrospektive Analyse dieser Fälle wurden 11 Patienten identifiziert, die gemäß den neuen Kriterien des SAV (Schwerstverletzungsartenverfahren) an eine entsprechende Klinik der Maximalversorgung hätten verlegt werden müssen (vgl. Beispiel in Abb. 2: mehrfachverletzter Patient mit Beckenverletzung). Die Kostenanalyse dieser 11 Fälle ergab ein Umsatzvolumen (Rechnungsstellung bei den Berufsgenossenschaften) von 113.714,97 €.

Abb. 2
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Tile-C-Beckenringverletzung eines mehrfachverletzten Patienten (weiterhin offene distale Unterarmfraktur rechts und Etagenfraktur des Humerus links), a,b Unfallbilder, c Notfallstabilisierung mittes supraazetabularem Fixateur externe, d definitive Versorgung mit 2 navigierten ISG-Schrauben und einer Symphysenplatte, ISG Iliosakralgelenk

Zu erwartende künftige Auswirkungen des neuen Verfahrens

Aus ökonomischer Sicht

Der Wegfall der oben genannten 11 Patienten hätte im Jahr 2012 einen Umsatzverlust von mehr als 110.000,-- € bedeutet. Die notwendigen infrastrukturellen und personellen Vorhaltekosten wären allerdings unverändert geblieben, da der Status als VAV-Klinik bzw. als Regionales Traumazentrum selbstverständlich aufrechterhalten bleiben muss. Gleichzeitig bringt die Neuordnung des Verletztenartenverfahrens erhöhte Anforderungen (z. B. im Bereich Hygiene) mit sich, die mit einer Steigerung des finanziellen Aufwandes für die Klinik einhergehen.

Somit ist betriebswirschaftlich gesehen ein Umsatzrückgang im sechsstelligen Bereich ohne Reduktion der Vorhaltekosten und bei gleichzeitig erhöhten Anforderungen natürlich negativ zu beurteilen. Einschränkend muss allerdings erwähnt werden, dass für die Versorgung der genannten 11 Fälle während des stationären Aufenthalts selbstverständlich auch Ressourcen verbraucht wurden. Ob sie mit dem Umsatz von 113.714,97 € kostendeckend abgebildet wurden, kann an dieser Stelle leider nicht festgestellt werden, da hausintern keine detaillierte Kostendifferenzierung nach InEK-Kriterien (InEK: Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus) erfolgt.

Die theoretische Überlegung, dass der Umsatzrückgang aufgrund des Wegfalls von SAV-Fällen durch eine Zunahme an VAV-Fällen [aus Kliniken, die nach der Neuordnung nur noch eine Zulassung zum stationären D-Arzt-Verfahren (D-Arzt: Durchgangsarzt) erhalten werden] kompensiert werden könnte, erweist sich bei näherer Betrachtung des Umfeldes unserer Klinik als trügerisch: Von den 11 Nachbarkliniken werden 5 mit Sicherheit ebenfalls VAV-Status erhalten, 5 weitere Häuser befinden sich in Klinikverbünden und werden definitiv keine Patienten in VAV-Häuser der Konkurrenz verlegen. Somit verbleibt lediglich ein einziges Haus der Grund- und Regelversorgung, welches theoretisch Fälle zuverlegen kann, wobei selbstverständlich die anderen VAV-Kliniken der Region ebenfalls um diese Fälle konkurrieren. Ein wesentlicher Zuwachs an VAV-Patienten von nicht für VAV-Fälle zugelassene Häuser ist somit nicht zu erwarten.

Aus medizinischer Sicht

Das oben angeführte Beispiel (Abb. 2) zeigt anschaulich, dass Fälle des SAV aufgrund der Verletzungsschwere bzw. -kombination unfallchirurgisch interessant sind. Neben den wichtigen Teamerfahrungen im Handling solcher Patienten (Schockraum – Erstversorgung – Intensivstation – definitive Versorgung – Station – Entlassung – Rehabilitation) bieten diese Fälle erfahrungsgemäß auch oft die Möglichkeit für Ausbildungseingriffe – im genannten Beispiel der Notfallfixateur bzw. im Intervall die ISG-Schrauben (ISG: Iliosakralgelenk) bzw. die Symphysenverplattung. Im konkreten Fall würden somit vier, für die Erlangung der Zusatzbezeichnung Spezielle Unfallchirurgie wichtige Beckeneingriffe ersatzlos für die Weiterbildung wegfallen. Zum hiermit zu befürchtenden Wegfall von medizinischer Expertise der Abteilung kommt die Sorge um die künftige Akquise des unfallchirurgischen Nachwuchses hinzu. Es steht zu befürchten, dass künftig die Weiterbildung zum speziellen Unfallchirurgen an VAV-Häusern erschwert bzw. verlängert wird, was im Werben um den immer weniger werdenden chirurgischen Nachwuchs ein eindeutiger Nachteil dieser Kliniken sein wird. In diesem Zusammenhang kann aus meiner Sicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sich an Häuser mit Zulassung nur zum stationären D-Arzt-Verfahren künftig praktisch keine Weiterzubildenden für die spezielle Unfallchirurgie mehr bewerben werden, selbst die normale Weiterbildung zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie erscheint mir unter diesen Voraussetzungen evtl. schwierig.

Ein weiterer Aspekt soll vor dem Hintergrund der ländlichen Versorgungsstruktur der Klinik ebenfalls angesprochen werden – die relativ großen räumlichen Distanzen, die mit entsprechend langen Transportzeiten einhergehen. Ob ein Patient mit einer Humerusschaftfraktur und einer, aufgrund des initialen Dehnungsschadens bestehenden Radialisparese (SAV 6.3) tatsächlich von einer 1-stündigen Transportzeit in die nächste SAV-Klinik profitiert, anstatt zügig vor Ort in der VAV-Klinik reponiert und stabilisiert zu werden, möchte ich beispielsweise in Frage stellen.

Aus persönlicher Sicht

Anhand des oben erwähnten klinischen Beispiels wird deutlich, dass durchaus auch an VAV-Kliniken eine der Qualität des SAV entsprechende Versorgung erbracht werden kann. Dies ist im speziellen vorliegenden Fall einer instabilen Beckenverletzung kein Zufall, da unsere Klinik einerseits technisch auf SAV-Niveau ausgestattet ist (intraoperative Navigation und 3-D-Bildverstärker) und andererseits der Autor und Chefarzt der Klinik über weitreichende, dokumentierte Expertise im Bereich der Beckenchirurgie verfügt [1, 3, 4, 5]. Durch die erzwungenen Regelungen des neuen SAV geht diese Expertise den Versicherten der gesetzlichen Unfallversicherung verloren. Der genannte Fall soll dies nur exemplarisch für den Bereich Becken erläutern, deutschlandweit besteht an den VAV-Kliniken weitreichende SAV-Kompetenz, selbstverständlich nicht an allen Kliniken und in allen Bereichen, wohl aber in verschiedenen Ausprägungen an verschiedenen Standorten. Dass diese hervorragende Expertise der VAV-Kliniken aufgrund der verwaltungstechnischen Vorgaben nicht berücksichtigt und damit den Versicherten vorbehalten wird, geht aus meiner Sicht zu weit. Es sind in der Regel gerade die guten, in jahrelanger Erfahrung am Maximalversorgungshaus geschulten und bestens ausgebildeten Operateure, die auf Chefarztstellen an VAV-Häusern berufen werden. Dort aber darf künftig die erworbene SAV-Expertise nicht mehr eingebracht werden, wohingegen sich an der vorherigen Stelle dieses Arztes ein jüngerer Kollege erneut mühsam und unter manchem Fehlschlag bemühen muss, die Expertise seines Vorgängers zu erlangen.

Resümee

In der Zusammenschau sind meine Erwartungen hinsichtlich der Neuordnung der stationären Heilverfahren aus Sicht eines Chefarztes einer VAV-Klinik gedämpft. Dass die Lenkung der Patientenströme zu Zeiten der zunehmenden Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen auch versorgungspolitische Aspekte hat, ist selbstverständlich nachvollziehbar. Hochspezialisierte Häuser der Maximalversorgung, die an der Schwerstverletztenversorgung teilnehmen, haben enorme Vorhaltekosten. Die Sicherstellung einer ausreichenden Auslastung dieser Häuser ist vor dem Hintergrund rückläufiger Unfallzahlen nachvollziehbar. Ob dadurch allerdings tatsächlich die

„Effektivität und Effizienz der stationären Heilverfahren gestärkt“ [2]

wird, bleibt jedoch ebenso abzuwarten, wie die tatsächliche medizinische Ergebnisqualität der Patientenbehandlung (vgl. obiges Beispiel der Humerusschaftfraktur).

Im Sinne der bestmöglichen Versorgung der Versicherten hätte ich mir gewünscht, dass bei der Neuordnung mehr auf die tatsächliche Kompetenz der einzelnen VAV-Kliniken geachtet wird. Eine ähnliche Zulassung in Abhängigkeit der real vorhandenen Kompetenzen wird beispielsweise bereits im Bereich der Kindertraumatologie praktiziert. Dass eine derartige kompetenzbasierte Zulassung zum SAV-Verfahren einen weiteren verwaltungstechnischen Aufwand bedeuten würde ist klar. Da dieser aufgrund der Neuordnung aber in jedem Fall notwendig ist, wäre der zusätzliche Aufwand aus meiner Sicht sinnvoll in die Qualität der Versorgung der Versicherten investiert gewesen.