Zusammenfassung
Wirtschaftliche Folgen des neuen VAV
Am Beispiel einer Klinik der Schwerpunktversorgung (400 Betten) im ländlichen Raum sollen die Auswirkungen der Neuordnung des VAV dargestellt werden. Mittels retrospektiver Analyse der 114 stationären VAV-Fälle der Klinik im Jahr 2012 wurden 11 Patienten identifiziert, die gemäß den neuen Kriterien des Schwerstverletzungsartenverfahrens (SAV) an eine entsprechende Klinik der Maximalversorgung hätten verlegt werden müssen. Die Kostenanalyse dieser 11 Fälle ergab ein Umsatzvolumen von 113.714,97 €. Betriebswirtschaftlich betrachtet ist ein derartiger Umsatzrückgang ohne Reduktion der Vorhaltekosten und unter Berücksichtigung der gleichzeitig erhöhten Anforderungen des neuen VAV (z. B. Hygiene) negativ zu beurteilen.
Auswirkung des neuen VAV auf die Expertise
Durch den Wegfall bzw. die Verlegung von unfallchirurgisch interessanten Fällen (in der Regel Mehrfachverletzten) könnte es zu einer Abnahme der medizinischen Expertise der Abteilung kommen, zudem besteht Besorgnis bezüglich der künftigen Akquise des unfallchirurgischen Nachwuchses. Es ist zu befürchten, dass die Weiterbildung zum speziellen Unfallchirurgen an VAV-Häusern künftig erschwert bzw. verlängert wird, was im Werben um den immer weniger werdenden chirurgischen Nachwuchs ein eindeutiger Nachteil der VAV-Kliniken sein wird.
Schlussfolgerung
Deutschlandweit ist an den VAV-Kliniken weitreichende SAV-Kompetenz vorhanden. Selbstverständlich liegt diese nicht an allen Kliniken und in allen Bereichen vor, wohl aber in verschiedenen Ausprägungen an unterschiedlichen Standorten. Dass diese hervorragende Expertise der VAV-Kliniken aufgrund der verwaltungstechnischen Vorgaben egalisiert und damit den Versicherten vorbehalten wird, geht aus Sicht des Autors zu weit. In der Zusammenschau sind die Erwartungen des Autors hinsichtlich der Neuordnung der stationären Heilverfahren aus Sicht eines Chefarztes einer VAV-Klinik gedämpft. Im Sinne der bestmöglichen Versorgung der Versicherten wäre zu wünschen gewesen, dass bei der Neuordnung mehr auf die tatsächliche Kompetenz der einzelnen VAV-Kliniken geachtet wird.
Abstract
Economic effects of the revised VAV
The effects of the reform of the injury type procedure (VAV) are demonstrated using the example of a rural specialized care clinic (400 beds). Using a retrospective analysis of 114 inpatient VAV cases from the clinic in the year 2012, 11 patients were identified who should have been transferred to an appropriate maximum care clinic according to the new criteria for the severe injury type procedure (SAV). The cost analysis of these 11 cases resulted in a turnover volume of 113,714.97 Euros. From an economic perspective, such a decline in turnover without a reduction of the contingency costs and at the same time increased requirements of the new VAV (e.g. hygiene), must be considered a negative development.
Effect of the revised VAV on expertise
The loss or transfer of interesting trauma surgery cases (as a rule multiple trauma cases) could lead to a reduction in medical expertise in the department and in addition there is the problem with future acquisition of the next generation of trauma surgeons. It is feared that the advanced training to specialist trauma surgeon in VAV hospitals will be made more difficult or take longer in the future which will be a clear disadvantage for VAV clinics for attracting the ever decreasing numbers of next generation surgeons.
Conclusion
In Germany as a whole there is extensive SAV competence in VAV clinics. This is of course not true for all clinics and for all regions but to a varied extent in the different locations. That this excellent expertise in VAV clinics will be compromised by bureaucratic regulations and which will therefore be detrimental for the patients is, from the author’s point of view, taking things too far. In synopsis, the expectations of the author are subdued with respect to the reform of inpatient healthcare procedures from the perspective of a senior consultant in a VAV clinic. In the sense of the best possible care of patients, it would have been desirable if more attention had been paid in the reform to the actual competence of the individual VAV clinics.
Ich danke dem Landesverband Südwest der DGUV für die Einladung nach Baden-Baden und die freundliche Überlassung des Themas. Die nachfolgende Betrachtungsweise ist rein subjektiv und sozusagen egoistisch aus Sicht eines Chefarztes an einer VAV-Klinik (VAV: Verletzungsartenverfahren).
Struktur und Umfeld der Klinik
Das Ostalb-Klinikum ist ein Krankenhaus der Zentralversorgung mit 400 Betten und liegt in Aalen, der Kreisstadt des Ostalbkreises, in Ostwürttemberg. Die Stadt Aalen selbst hat etwa 66.000 Einwohner, der Landkreis ungefähr 320.000. Die Struktur ist ländlich. Im Umkreis von etwa 50 km finden sich insgesamt 9 weitere Krankenhäuser (Abb. 1).
In der Klinik für Orthopädie, Unfall- und Wirbelsäulenchirurgie mit 48 Betten in Aalen werden im Jahr etwa 2000 Patienten stationär und etwa 10.000 Patienten ambulant behandelt. Der Stellenschlüssel der Abteilung beträgt 1/5/9. Die Klinik nimmt seit 2009 am Traumanetzwerk Ostwürttemberg teil und wurde Ende 2012 erfolgreich als Regionales Traumazentrum rezertifiziert.
Im Jahr 2012 wurden 261 stationäre Fälle BG-Fälle (BG: Berufsgenossenschaft) behandelt, hierunter 114 Fälle des VAV. In der retrospektive Analyse dieser Fälle wurden 11 Patienten identifiziert, die gemäß den neuen Kriterien des SAV (Schwerstverletzungsartenverfahren) an eine entsprechende Klinik der Maximalversorgung hätten verlegt werden müssen (vgl. Beispiel in Abb. 2: mehrfachverletzter Patient mit Beckenverletzung). Die Kostenanalyse dieser 11 Fälle ergab ein Umsatzvolumen (Rechnungsstellung bei den Berufsgenossenschaften) von 113.714,97 €.
Zu erwartende künftige Auswirkungen des neuen Verfahrens
Aus ökonomischer Sicht
Der Wegfall der oben genannten 11 Patienten hätte im Jahr 2012 einen Umsatzverlust von mehr als 110.000,-- € bedeutet. Die notwendigen infrastrukturellen und personellen Vorhaltekosten wären allerdings unverändert geblieben, da der Status als VAV-Klinik bzw. als Regionales Traumazentrum selbstverständlich aufrechterhalten bleiben muss. Gleichzeitig bringt die Neuordnung des Verletztenartenverfahrens erhöhte Anforderungen (z. B. im Bereich Hygiene) mit sich, die mit einer Steigerung des finanziellen Aufwandes für die Klinik einhergehen.
Somit ist betriebswirschaftlich gesehen ein Umsatzrückgang im sechsstelligen Bereich ohne Reduktion der Vorhaltekosten und bei gleichzeitig erhöhten Anforderungen natürlich negativ zu beurteilen. Einschränkend muss allerdings erwähnt werden, dass für die Versorgung der genannten 11 Fälle während des stationären Aufenthalts selbstverständlich auch Ressourcen verbraucht wurden. Ob sie mit dem Umsatz von 113.714,97 € kostendeckend abgebildet wurden, kann an dieser Stelle leider nicht festgestellt werden, da hausintern keine detaillierte Kostendifferenzierung nach InEK-Kriterien (InEK: Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus) erfolgt.
Die theoretische Überlegung, dass der Umsatzrückgang aufgrund des Wegfalls von SAV-Fällen durch eine Zunahme an VAV-Fällen [aus Kliniken, die nach der Neuordnung nur noch eine Zulassung zum stationären D-Arzt-Verfahren (D-Arzt: Durchgangsarzt) erhalten werden] kompensiert werden könnte, erweist sich bei näherer Betrachtung des Umfeldes unserer Klinik als trügerisch: Von den 11 Nachbarkliniken werden 5 mit Sicherheit ebenfalls VAV-Status erhalten, 5 weitere Häuser befinden sich in Klinikverbünden und werden definitiv keine Patienten in VAV-Häuser der Konkurrenz verlegen. Somit verbleibt lediglich ein einziges Haus der Grund- und Regelversorgung, welches theoretisch Fälle zuverlegen kann, wobei selbstverständlich die anderen VAV-Kliniken der Region ebenfalls um diese Fälle konkurrieren. Ein wesentlicher Zuwachs an VAV-Patienten von nicht für VAV-Fälle zugelassene Häuser ist somit nicht zu erwarten.
Aus medizinischer Sicht
Das oben angeführte Beispiel (Abb. 2) zeigt anschaulich, dass Fälle des SAV aufgrund der Verletzungsschwere bzw. -kombination unfallchirurgisch interessant sind. Neben den wichtigen Teamerfahrungen im Handling solcher Patienten (Schockraum – Erstversorgung – Intensivstation – definitive Versorgung – Station – Entlassung – Rehabilitation) bieten diese Fälle erfahrungsgemäß auch oft die Möglichkeit für Ausbildungseingriffe – im genannten Beispiel der Notfallfixateur bzw. im Intervall die ISG-Schrauben (ISG: Iliosakralgelenk) bzw. die Symphysenverplattung. Im konkreten Fall würden somit vier, für die Erlangung der Zusatzbezeichnung Spezielle Unfallchirurgie wichtige Beckeneingriffe ersatzlos für die Weiterbildung wegfallen. Zum hiermit zu befürchtenden Wegfall von medizinischer Expertise der Abteilung kommt die Sorge um die künftige Akquise des unfallchirurgischen Nachwuchses hinzu. Es steht zu befürchten, dass künftig die Weiterbildung zum speziellen Unfallchirurgen an VAV-Häusern erschwert bzw. verlängert wird, was im Werben um den immer weniger werdenden chirurgischen Nachwuchs ein eindeutiger Nachteil dieser Kliniken sein wird. In diesem Zusammenhang kann aus meiner Sicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sich an Häuser mit Zulassung nur zum stationären D-Arzt-Verfahren künftig praktisch keine Weiterzubildenden für die spezielle Unfallchirurgie mehr bewerben werden, selbst die normale Weiterbildung zum Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie erscheint mir unter diesen Voraussetzungen evtl. schwierig.
Ein weiterer Aspekt soll vor dem Hintergrund der ländlichen Versorgungsstruktur der Klinik ebenfalls angesprochen werden – die relativ großen räumlichen Distanzen, die mit entsprechend langen Transportzeiten einhergehen. Ob ein Patient mit einer Humerusschaftfraktur und einer, aufgrund des initialen Dehnungsschadens bestehenden Radialisparese (SAV 6.3) tatsächlich von einer 1-stündigen Transportzeit in die nächste SAV-Klinik profitiert, anstatt zügig vor Ort in der VAV-Klinik reponiert und stabilisiert zu werden, möchte ich beispielsweise in Frage stellen.
Aus persönlicher Sicht
Anhand des oben erwähnten klinischen Beispiels wird deutlich, dass durchaus auch an VAV-Kliniken eine der Qualität des SAV entsprechende Versorgung erbracht werden kann. Dies ist im speziellen vorliegenden Fall einer instabilen Beckenverletzung kein Zufall, da unsere Klinik einerseits technisch auf SAV-Niveau ausgestattet ist (intraoperative Navigation und 3-D-Bildverstärker) und andererseits der Autor und Chefarzt der Klinik über weitreichende, dokumentierte Expertise im Bereich der Beckenchirurgie verfügt [1, 3, 4, 5]. Durch die erzwungenen Regelungen des neuen SAV geht diese Expertise den Versicherten der gesetzlichen Unfallversicherung verloren. Der genannte Fall soll dies nur exemplarisch für den Bereich Becken erläutern, deutschlandweit besteht an den VAV-Kliniken weitreichende SAV-Kompetenz, selbstverständlich nicht an allen Kliniken und in allen Bereichen, wohl aber in verschiedenen Ausprägungen an verschiedenen Standorten. Dass diese hervorragende Expertise der VAV-Kliniken aufgrund der verwaltungstechnischen Vorgaben nicht berücksichtigt und damit den Versicherten vorbehalten wird, geht aus meiner Sicht zu weit. Es sind in der Regel gerade die guten, in jahrelanger Erfahrung am Maximalversorgungshaus geschulten und bestens ausgebildeten Operateure, die auf Chefarztstellen an VAV-Häusern berufen werden. Dort aber darf künftig die erworbene SAV-Expertise nicht mehr eingebracht werden, wohingegen sich an der vorherigen Stelle dieses Arztes ein jüngerer Kollege erneut mühsam und unter manchem Fehlschlag bemühen muss, die Expertise seines Vorgängers zu erlangen.
Resümee
In der Zusammenschau sind meine Erwartungen hinsichtlich der Neuordnung der stationären Heilverfahren aus Sicht eines Chefarztes einer VAV-Klinik gedämpft. Dass die Lenkung der Patientenströme zu Zeiten der zunehmenden Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen auch versorgungspolitische Aspekte hat, ist selbstverständlich nachvollziehbar. Hochspezialisierte Häuser der Maximalversorgung, die an der Schwerstverletztenversorgung teilnehmen, haben enorme Vorhaltekosten. Die Sicherstellung einer ausreichenden Auslastung dieser Häuser ist vor dem Hintergrund rückläufiger Unfallzahlen nachvollziehbar. Ob dadurch allerdings tatsächlich die
„Effektivität und Effizienz der stationären Heilverfahren gestärkt“ [2]
wird, bleibt jedoch ebenso abzuwarten, wie die tatsächliche medizinische Ergebnisqualität der Patientenbehandlung (vgl. obiges Beispiel der Humerusschaftfraktur).
Im Sinne der bestmöglichen Versorgung der Versicherten hätte ich mir gewünscht, dass bei der Neuordnung mehr auf die tatsächliche Kompetenz der einzelnen VAV-Kliniken geachtet wird. Eine ähnliche Zulassung in Abhängigkeit der real vorhandenen Kompetenzen wird beispielsweise bereits im Bereich der Kindertraumatologie praktiziert. Dass eine derartige kompetenzbasierte Zulassung zum SAV-Verfahren einen weiteren verwaltungstechnischen Aufwand bedeuten würde ist klar. Da dieser aufgrund der Neuordnung aber in jedem Fall notwendig ist, wäre der zusätzliche Aufwand aus meiner Sicht sinnvoll in die Qualität der Versorgung der Versicherten investiert gewesen.
Literatur
Konrad G, Zwingmann J, Kotter E et al (2009) Variabilität der Schraubenlage bei 3D-navigierter Sakrumverschraubung. Einfluss der operateur-spezifischen Navigationserfahrung. Unfallchirurg 113:29–35
Oberscheven M, Kranig A (2014) Neuausrichtung der stationären Heilverfahren. Gesetzliche Unfallversicherung. Trauma Berufskrankh [Suppl] 16:5–8
Oberst M, Hauschild O, Konstantinjdis L et al (2012) The effects of 3D navigation on intraoperative management and early postoperative outcome after ORIF of displaced acetabular fractures. J Trauma Acute Care Surg 73:950–956
Zwingmann J, Konrad G, Kotter E et al (2008) 3D-navigated IS screw insertion reduces malposition rate and radiation exposure. Clin Orthop Relat Res 467:1833–1888
Zwingmann J, Konrad G, Mehlhorn A et al (2010) Percutaneous iliosacral screw insertion. Malpositioning and revision-rate of screws with regards to application technique (navigated vs. conventional). J Trauma 69:1501–1506
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Interessenkonflikt. M. Oberst gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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Oberst, M. Neuordnung des Verletzungsartenverfahrens (VAV) aus Sicht einer VAV-Klinik. Trauma Berufskrankh 16 (Suppl 3), 227–230 (2014). https://doi.org/10.1007/s10039-014-2081-7
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