Kinderspezifische systematische Frakturklassifikation

Notwendigkeit einer kinderspezifischen Einteilung

Eine Klassifikation für das wachsende Skelett ist die Grundlage für die Erfassung von epidemiologischen und klinischen Daten in einer systematischen einheitlichen Dokumentation. Eine solche Erfassung wiederum schafft die Grundvoraussetzungen zur Evaluierung von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen im Sinne einer Effizienz- und Effektivitätskontrolle. Mit einer systematischen und einheitlichen Klassifikation können zudem unterschiedliche Behandlungskonzepte identischer Läsionen miteinander verglichen werden. Darüber hinaus stellt eine spezifische und einheitliche Klassifikation die Basis für retrospektive und prospektive Studien dar. Anhand dieser klinischen Forschung können Therapierichtlinien erarbeitet und Prognosen abgegeben werden und damit die Voraussetzungen für eine evidenzbasierte Medizin geschaffen werden.

Ausgangslage

Für Frakturen im Kindesalter existieren viele Einteilungen, jedoch alle mit dem entscheidenden Nachteil, dass sie nur für die jeweilige Region entwickelt wurden. Darüber hinaus finden sich für einige Frakturlokalisationen mehrere Klassifikationen z. B. für Ellenbogenfrakturen.

Aufgrund des Fehlens einer systematischen kindspezifischen Klassifikation wurde häufig die AO-Klassifikation des ausgereiften Skeletts verwendet, wodurch die Kenntnisse über die „natural history“ der unterschiedlichen Frakturen erweitert werden konnten. Dies hatte zur Folge, dass die Ursachen für Komplikationen analysiert und systematisch ausgewertet und damit deren Häufigkeit reduziert werden konnten, was auch in einer Senkung der Behandlungskosten resultierte. Therapeutische Maßnahmen wurden effektiver und effizienter. Dennoch kann die AO-Klassifikation des Erwachsenen aus verschiedenen Gründen nicht unverändert für die Frakturen des wachsenden Skeletts übernommen werden.

Kindspezifische Faktoren

Im Kindesalter ist die Frakturgeometrie im Wesentlichen vom Unfallmechanismus unabhängig. Das Verletzungsmuster wird entscheidend vom Alter und Reifestadium der Wachstumsfugen geprägt, so treten beim Kind kaum Trümmerfrakturen von langen Röhrenknochen oder komplexe Gelenkfrakturen auf.

Im Gegensatz zum Erwachsenen lassen sich bei Frakturen im Kindesalter anhand der Verletzung keine hierarchische Struktur der Brüche und somit auch keine Therapiemethode ableiten. Die Therapieform wird im Wesentlichen bestimmt durch:

  • das Alter des verunfallten Kindes,

  • die Frakturlokalisation,

  • die Dislokation,

  • die Geometrie sowie

  • Begleitverletzungen.

So wird beispielsweise eine Oberschenkelschaftfraktur bei einem 1-jährigen Jungen meist konservativ versorgt, während bereits beim 4-Jährigen eine Operation notwendig sein wird.

Nach Verletzungen des wachsenden Skeletts des Kindes kann es zu Wachstumsstörungen kommen. Inwieweit diese tatsächlich auftreten, hängt von verschiedenen Faktoren ab:

Lokalisation der Fraktur

Neben der eigentlichen Lokalisation sind insbesondere die Nähe der Fraktur zur bzw. eine evtl. Mitbeteiligung der Wachstumsfuge von Bedeutung. So gehen Fugenverletzungen an den unteren Extremitäten gegenüber Verletzungen an den oberen Extremitäten häufiger mit Wachstumsstörungen einher.

Alter des Kindes zum Unfallzeitpunkt

Noch vorhandenes Wachstum

Ein solches kann zu einer „Spontankorrektur“ von verbliebenen Fehlstellungen oder durch hemmende Einflüsse zum einseitigen bzw. vorzeitigen Wachstumsfugenverschluss führen. Wachstumsstörungen im Sinne einer Steigerung des Wachstums führen ebenfalls zu Fehlstellungen wie beim Cubitus varus nach Condylus-radialis-Frakturen.

Wachstumsbeteiligung der jeweiligen Epiphysenfuge

Je reifer die Epiphysenfugen sind, desto geringer ist die Gefahr einer Wachstumsstörung.

Die Wachstumsprognose hängt somit nicht allein von der Frakturgeometrie innerhalb der Epiphysenfuge ab. Es scheint keine hierarchische Ordnung der Wachstumsprognosen und eventueller Folgen von Wachstumsstörungen zu geben.

Zweck und Ziel einer kinderspezifischen Klassifikation soll es sein, über retrospektive und prospektive Daten, am sinnvollsten jedoch über prospektive Multicenterstudien Daten zusammenzuführen, um evidenzbasierte Therapieempfehlungen abgeben zu können.

In den letzten Jahren wurde an 2 systematischen kinderspezifischen Klassifikationen gearbeitet, die inzwischen validiert wurden. Es handelt sich um

  • die Klassifikation der AO Paediatric Expert Group (PAEG) in Zusammenarbeit mit der AO Clinical Investigation and Documentation (AOCID) sowie der International Working-Group for Paediatric Traumatology (IAGKT) [3, 5],

  • die Klassifikation der Mitglieder der Sektion der Kindertraumatologie der DGU und Lila (Licht und Lachen für Kranke Kinder; Effizienz in der Medizin e. V.) [1].

Im Folgenden wird die erstgenannte Klassifikation der AO-Gruppe vorgestellt. Sie basiert auf der Erwachsenen-Müller-AO-Klassifikation [2] und berücksichtigt die zahlreichen kinderspezifischen Fraktureigenschaften. Für die Anwendung der AO-Paediatric benötigt man konventionelle Röntgenaufnahmen in lateraler und a.-p. Position. Der vollständige Frakturkode wird aus 5 bzw. 6 Kodes gebildet, in Abhängigkeit davon, ob ein Ausnahme- bzw. Zusatzkode angewendet wird (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Prinzip der Frakturklassifikation im Kindesalter. (Aus [4])

Einzelkodes der PAEG-Klassifikation

Knochenkode

In Anlehnung an die AO-Klassifikation für Erwachsene werden die langen Röhrenknochen mit 1–4 bezeichnet (1: Humerus, 2: Radius/Ulna, 3: Femur, 4: Tibia/Fibula, Abb. 2). Paarige Knochen mit identischem Verletzungsmuster werden durch einen Frakturkode klassifiziert. Ist z. B. nur ein Knochen am Unterarm bzw. Unterschenkel betroffen, wird dies durch einen entsprechenden Buchstaben (r, u, t, f) beschrieben. Betrifft die Verletzung beide Knochen mit unterschiedlichem Verletzungsmuster, muss jeder Knochen separat mit dem entsprechenden Buchstabenzusatz klassifiziert werden. Ist das Verletzungsmuster bei paarigen Knochen identisch, wird die schwerwiegendere Fraktur angegeben.

Abb. 2
figure 2

Bezeichnung der langen Röhrenknochen mit 1–4 in Anlehnung an die Erwachsenen-Müller-AO-Klassifikation; Segmentkode: 1–3 für proximal/diaphysär (Schaft)/distal; Typkode: Buchstaben E, D und M für Epi-, Dia- und Metaphyse; weitere Erläuterungen s. Text. (Aus [4])

Segmentkode

Die Röhrenknochen werden nach Segmenten eingeteilt in (Abb. 2):

  • Segment 1 (proximal): proximale Epiphyse und Metaphyse,

  • Segment 2 (diaphysär): Diaphyse und

  • Segment 3 (distal): distale Metaphyse und Epiphyse.

Typkode

Die Röhrenknochen werden auch nach Epi-, Dia- und Metaphyse differenziert (Abb. 2), es wird also zwischen extra- und intraarkulären Frakturen unterschieden. Die epiphysären Frakturen stellen damit immer intraartikuläre Frakturen dar.

Die Größe der Metaphyse wird dadurch ermittelt, dass einen Quadrat über der gesamten Länge der Epiphysenfuge angelegt wird. Für die paarigen Knochen des Unterarms und Unterschenkels müssen beide Epiphysenfugen in dieses Quadrat eingeschlossen werden. Bei metaphysären Frakturen sollte die Mitte der Fraktur im Zentrum des Quadrats liegen (Abb. 2).

Kinderkode

In ihn fließen die speziellen Eigenschaften des wachsenden Skeletts ein, sie werden für die verschiedenen Frakturtypen in E, M und D eingeteilt.

Bei den metaphysären Frakturgeometrien werden 3 Typen unterschieden: Wulst-, Spiral- und Grünholzfrakturen mit M/2. Die vollständigen Frakturen werden mit M/3 benannt (Abb. 3) und die metaphysäre osteoligamentäre und einfache Avulsionsverletzung mit M/7 beziffert.

Abb. 3
figure 3

Metaphysäre Fraktur, a Einteilung, b metaphysäre Fraktur Typ M/2 (inkomplette Fraktur), c vollständige metaphysäre Fraktur Typ M/3. (Aus [4])

Die epiphysären Frakturen werden in den Kodes E/1–E/9 abgebildet, dabei entsprechen E/1–E/4 der Salter-Harris-Klassifikation (Abb. 4). Weitere kinderspezifische Frakturen sind: Tillaux-Frakturen (E/5), Triplane-Fraktur (E7/6), Eminentia-intercondylaris-Avulsionsverletzung (E/7) und Flake-Frakturen (E/8). Andere epiphysäre Frakturen werden in E/9 zusammengefasst.

Abb. 4
figure 4

Kindspezifische Einteilung der epiphysären Frakturen. (Aus [4])

Die Schaftfrakturen werden im Kinderkode unterschieden in

  • Bowing-Frakturen (D/1),

  • Grünholzfrakturen (D/2),

  • Toddler-Frakturen (D/3),

  • komplette Querfrakturen (Winkel <30°/D/4),

  • komplette Spiral- und Schrägfrakturen (Winkel >30°/D/5),

  • Monteggia-Läsionen (D/6),

  • Galeazzi-Läsionen (D/7).

D/9 bildet alle andere Schaftfrakturen ab, die keinem der genannten Frakturtypen zugeordnet werden können (Abb. 5).

Abb. 5
figure 5

Klassifikation der diaphysären Frakturen. (Aus [4])

Abb. 6
figure 6

Frakturschweregrad. (Aus [4])

Frakturschweregradkode

Es werden 2 Grade unterschieden (Abb. 6):

  • Grad 1 für einfache Frakturen (partiell instabile Frakturen mit 3 Fragmenten einschließlich eines vollständig dislozierten Fragments) und

  • Grad 2 für komplexe Frakturen (instabile Frakturen mit mehr als 3 Fragmenten).

Ausnahme- und Zusatzkodes

Mit der bisher vorgestellten Klassifikation können nicht alle Kinderfrakturen abgebildet werden. Daher wurden Zusatz- und Ausnahmekodes entwickelt.

Übergangsfrakturen

Sie sind unabhängig vom metaphysären Keil zu den epiphysären Frakturen zu rechnen.

Knöcherne Bandverletzungen

Intraartikuläre knöcherne Bandverletzungen werden zu den epiphysären Frakturen und extraartikuläre zu den metaphysären Frakturen gezählt.

Apophysenfrakturen

Sie werden den metaphysären Frakturen zugeordnet.

Suprakondyläre Frakturen (13-M/3)

Sie erhalten zusätzlich eine Ziffer (I–IV) für das Dislokationsausmaß nach von Laer et al. [1] (Abb. 7):

  • Keine Dislokation: Grad I,

  • Dislokation in einer Ebene: Grad II,

  • Rotation mit Dislokation in 2 Ebenen: Grad III und

  • Vollständige Dislokation ohne knöchernen Kontakt bzw. Fehlstellung in 3 Ebenen: Grad IV.

Radiushalsfrakturen (21-M/2 bzw. /3 oder 21-E/1 bzw. /2)

Sie werden nach dem Ausmaß der Dislokation und der axialen Abweichung eingeteilt (Abb. 8):

  • Keine Dislokation oder Angulation: Typ I,

  • Dislokation oder Angulation mit weniger als halber Schaftbreite: Typ II und

  • Dislokation oder Angulation mit mehr als halber Schaftbreite: Typ II.I

Schenkelhalsfrakturen:

Epiphysenlösungen ohne oder mit metaphysärem Keil werden nach der Salter-Harris-Klassifikation in E/1 bzw. E/2 differenziert (Abb. 9).

Metaphysäre Schenkelhalsfrakturen werden unterschieden in:

  • transzervikal: Grad I,

  • basozervikal: Grad II und

  • pertrochantär: Grad III.

Abb. 7
figure 7

Suprakondyläre Frakturen: Kodierung in Abhängigkeit von der Dislokation (Humerus, distal, Metaphyse, komplett, einfach, grob disloziert, Kode 1 3-M/3.1, Typ I–IV)

Abb. 8
figure 8

Radiuskopf-/-halsfrakturen: Kodierung in Abhängigkeit von der Dislokation (Kode 21-E/1–2, 21-M/2–3 Typ I–III), Erläuterung s. Text. (Aus [4])

Abb. 9
figure 9

Einteilung der Schenkelhalsfrakturen Typ I–III. (Aus [4])

Fazit

Mit der vorgestellten AO-Paediatric-Klassifikation und der Klassifikation der Sektion der Kindertraumatologie der DGU und Lila stehen uns evaluierte kinderspezifische Klassifikationen zur Verfügung, die als Grundstein für die Dokumentation von Frakturen des wachsenden Skeletts dienen können. Die damit geschaffene einheitliche kinderspezifische Klassifikation ist Basis für Studien, mit deren Hilfe Aussagen über Therapieaufwand und Resultate unterschiedlicher Therapien oder Prognosen von Verletzungen getroffen werden können.

Inwieweit sich diese Klassifikationen im klinischen Alltag durchsetzen können bzw. ob sie alltagstauglich sind, bleibt abzuwarten. Für den klinischen Alltag benötigen wir prägnante, einfache Klassifikationen mit therapeutischer Relevanz.