Die Ätiologie einer Radialisparese kann sehr unterschiedlich sein, wobei eine traumatische Genese die häufigste Ursache darstellt. So sind 11,8% aller Humerusschaftfrakturen mit einer Radialisparese vergesellschaftet [16]. Darüber hinaus werden zunehmend stich-, schnitt und schussverletzungsbedingte Nervenläsionen beobachtet.

Berücksichtigt man den exponierten Verlauf des N. radialis, ist es nicht verwunderlich, dass die verletzungsbedingte Radialisparese die häufigste traumatische Nervenläsion der langen Röhrenknochen darstellt [12]. Abzugrenzen von der akut traumatischen Radialisläsion sind klassische Engpasssyndrome wie das Supinatorsyndrom, das mit Schmerzen und Schwäche der Extensoren einhergeht, sowie das Wartenberg-Syndrom, welches lediglich eine Hypästhesie im Versorgungsgebiet des N. radialis superficialis aufweist. Darüber hinaus kann ein Druckschaden am Oberarm, z. B. bei falscher Lagerung, sich ebenfalls in Form einer Radialisparese manifestieren. Die iatrogene N.-radialis-Verletzung im Rahmen operativer Eingriffe proximal des Ellenbogens und Tumoren am Oberarm sind weitere Ursachen einer solchen.

Das Ausmaß des funktionellen Defizits bei einer N.-radialis-Läsion hängt insbesondere von der Lokalisation der Schädigung ab, wobei die Funktionseinschränkung umso ausgeprägter ist, je proximaler der Nerv verletzt wurde. Der direkt dem Knochen aufliegende Verlauf des N. radialis im Sulcus n. radialis am distalen Drittel des Humerus sowie seine Fixierung durch das Septum intermusculare erklären die Häufigkeit der Radialisparese nach Frakturen des distalen Humerusschafts. Das Funktionsdefizit dieser häufigsten traumatischen N.-radialis-Läsion in Höhe des distalen Drittels des Humerus umfasst alle folgenden Muskelgruppen, wobei die Reihenfolge der aufgelisteten Muskeln die Höhe des Nervenabgangs von proximal nach distal widerspiegelt:

  • M. brachioradialis,

  • M. extensor carpi radialis longus,

  • M. extensor carpi radialis brevis,

  • M. supinator,

  • M. extensor digitorum communis,

  • M. extensor digiti minimi,

  • M. extensor carpi ulnaris,

  • M. abductor pollicis longus,

  • M. extensor pollicis longus,

  • M. extensor pollicis brevis und

  • M. extensor indicis proprius.

Darüber hinaus besteht bei einer Nervenläsion am Oberarm ein sensibler Ausfall im Versorgungsgebiet des R. superficialis n. radialis und, je nach Höhe der Läsion, auch des N. cutaneus antebrachii posterior, ggf. sogar bei weiter proximaler Verletzung auch des N. cutaneus brachii posterior bzw. N. cutaneus brachii lateralis. Klinisch repräsentiert die Radialisläsion in Höhe des distalen Humerusdrittels somit das klassische Muster der Fallhand.

Anhand einer Literaturrecherche und Datenanalyse zu dem Thema: „Humerusfraktur und Radialisparese“ wird für die häufigste traumatische Genese der Radialisläsion ein Überblick über den aktuellen Kenntnisstand gegeben.

Material und Methode

Im Zeitraum von 1964–2005 wurden insgesamt 391 Arbeiten zum Thema „Humerusfraktur und Radialisparese“ in folgenden Medien publiziert: Pubmed, Datastar und Cochrane Database. Eine Literaturrecherche durch Shao et al. [16] erfasste alle Publikationen, die unter den Stichworten „humeral“, „humerus“, „shaft“, „diaphysis“, „fracture“, „radial nerve“, „palsy“, „paralysis“ identifiziert und analysiert werden konnten. Hiervon waren 35 verwertbare Kohortenstudien (n>10), die insgesamt 1079 Patienten mit N.-radialis-Parese beinhalteten. Die erwähnte Literaturrecherche war Grundlage der einzigen publizierten Metaanalyse zu dem Thema: „Humerusfraktur und Radialisparese“. Kontrollierte oder randomisierte Studien wurden zu dieser Fragestellung nicht publiziert. Darüber hinaus wurden zwischen 2006 und 2008 weitere 22 Publikationen und 8 Kohortenstudien unter den Stichworten: „humerus fracture“, „diaphysis“, „radial nerve“, „palsy, „paralysis“ in Pubmed veröffentlicht.

Ergebnisse

Inzidenz

Die Häufigkeit der posttraumatischen Radialisparese bei Humerusschaftfraktur liegt je nach Autor zwischen 2% und 17% [1, 7, 14]. Im Rahmen der Metaanalyse von Shao et al. [16] wurden insgesamt 4517 Humerusschaftfrakturen erfasst. Hiervon wiesen 532 Patienten eine Radialisläsionen auf, was einer Inzidenz von 11,8% entspricht.

Die Häufigkeit der Radialisparese wird beeinflusst von der Lokalisation und dem Typ der Fraktur. Patienten mit einem Bruch in Schaftmitte erleiden in 15,2%, Personen mit einer Fraktur distal der Schaftmitte in 23,6% eine Radialisparese, welche damit häufiger auftritt als bei Patienten mit einer Fraktur proximal der Schaftmitte, bei denen die Inzidenz bei 1,8% liegt [2, 9, 10, 15]. Eine Unterteilung der Frakturhöhe in 5 Regionen zeigte in gleicher Weise das überwiegende Auftreten der Radialisläsion im mittleren bis distal der Schaftmitte angrenzenden Bereich, was signifikant öfter als bei Humerusfrakturen der übrigen Regionen beobachtet wurde (p<0,05) (Tab. 1) [16]. Frakturformen, die hinsichtlich des Auftretens einer Radialisparese als ungünstig einzustufen sind, stellen die Quer- und Spiralfraktur dar, die in 21% bzw. 20% mit einer Radialisparese vergesellschaftet sind [16]. Hierzu zählt insbesondere auch die distale extraartikuläre Spiralfraktur des Humerus mit Einklemmung des Nervs im Frakturspalt, welche auch Holstein-Lewis-Fraktur genannt wird [7]. Hingegen ist das Risiko einer Radialisparese bei Schräg- oder Trümmerfrakturen des Humerus mit 8% bzw. 7% als signifikant geringer einzustufen (p<0,001) [16].

Tab. 1 Häufigkeit einer Radialisparese in Abhängigkeit der Lokalisation der Humerusschaftfraktur. (Nach [16])

Regenerationsrate

Von 1045 in der Metaanalyse von Shao et al. [16] aufgeführten Patienten mit einer N.-radialis-Parese zeigten 921 eine Regeneration. Somit liegt die Gesamtregenerationsrate bei einer humerusfrakturassoziierten Radialisläsion ohne Berücksichtigung der durchgeführten Therapie bei 88,1%. In dieser Metaanalyse bestand kein signifikanter Unterschied der Regenerationsraten einer primären (89%) und einer sekundären N.-radialis-Läsion (93%) [16]. Hingegen findet nach Shaw u. Sakellarides [17] bei primären Radialisparesen in 40% und bei sekundären Paresen infolge einer geschlossenen Reposition und Marknagelung in 100% eine Regeneration des N. radialis statt. Eine inkomplette Parese (98%) wies eine signifikant bessere Prognose auf als eine komplette (78%) (p<0,05) [16]. Auch eine geschlossene Fraktur (97%) war prognostisch signifikant günstiger einzustufen als eine offene (86%) (p<0,05) [16].

Spontanheilung

Die Spontanheilungsrate einer humerusfrakturassoziierten Radialisläsion liegt zwischen 70 und 87% [6, 16]. In der Metaanalyse von Shao et al. [16] trat bei 411 von 581 Patienten (70,7%) eine Spontanheilung ein, wobei die Nervenregeneration nach etwa 7,3 Wochen (2–6,6 Wochen) begann. Hierbei war die erste diagnostizierbare Reinnervierung in einer Wiedererlangung der Funktion des M. brachioradialis und der Handgelenkstrecker feststellbar. Eine vollständige Regeneration bestand nach 6,1 Monaten (3,4–12 Monate) [16]. Sind 7 Monate nach der Verletzung noch keine Regenerationszeichen vorhanden, ist mit keiner weiteren Funktionsverbesserung zu rechnen [4].

Operative Therapie

Auf der Basis von 23 Studien wird in Tab. 2 die Inzidenz der Nervenregeneration in Abhängigkeit des operativen Verfahrens bei insgesamt 397 Patienten aufgelistet. Sie beträgt für alle operativen Verfahren zusammen 82%. Für die Naht des N. radialis wurde sie mit zwischen 53% und 90% angegeben [11].

Tab. 2 Häufigkeit des operativen Verfahrens und Regeneration bei Radialisparese. (Nach [16])

Primäre Operation

Von 314 Patienten mit einer primären oder sekundären Radialisparese im Rahmen einer Humerusschaftfraktur, die innerhalb von 3 Wochen nach deren Auftreten einer operativen Therapie zugeführt wurden, zeigten 276 (87,6%) eine Regeneration [16]. Die Regenerationsrate bei primärer Radialisparese und früher operativen Nervenrevision liegt bei 84,7% [16]. Von insgesamt 222 Patienten mit einer primären Radialisparese und frühzeitiger operative Nervenrevision (innerhalb von 3 Wochen) kam es bei 188 zur Regeneration [16].

Sekundäre Operation

In der Metaanalyse von Shao et al. [16] erhielten insgesamt 149 Patienten, bei denen keine Spontanheilung eintrat, eine operative Therapie der Radialisläsion nach mindestens 8 Wochen, im Sinn einer verzögerten Exploration. Bei 98 davon (65,8%) kam es anschließend zur Regeneration. Eine Einklemmung des N. radialis im Rahmen der verzögerten Exploration wird mit einer Häufigkeit zwischen 6 und 25% nachgewiesen [3, 8, 13, 17]. Eine erkennbare Nervendurchtrennung nach ausbleibender Spontanheilung wurde in 20–42% der Fälle beschrieben [14].

Therapieregime und Regenerationsrate

In der Metaanalyse von Shao et al. [16] wurden 2 Therapieregimes bei primärer oder sekundärer Radialisläsion im Rahmen einer Humerusschaftfraktur hinsichtlich ihrer Effektivität verglichen. Das Therapieregime der Gruppe A (30 Studien und 581 Patienten) beinhaltete das Abwarten der Spontanheilung für mindestens 8 Wochen. Fand keine Regeneration statt, wurde die sekundäre Revision des Nervs nach durchschnittlich 4,3 Monaten vorgenommen. Bei Gruppe B (27 Studien und 314 Patienten) erfolgte die frühzeitige operative Nervenrevision (innerhalb von 3 Wochen). Das Gesamtergebnis hinsichtlich der Regeneration der Gruppe A (abwartende Strategie) (87,6%) war nicht signifikant unterschiedlich zu Gruppe B (frühzeitige Operation) (87,9%) (p=0,388). Somit besteht statistisch keine Unterschied zwischen der zunächst abwartenden, ggf. sekundär operativen und der primär operativen Strategie (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Regenerationsrate bei primärer Radialisparese in Abhängigkeit von der Therapiestrategie. (Nach [16])

Diskussion

Bei etwa 237.000 Humerusfrakturen/Jahr allein in den USA und einer humerusschaftfrakturassoziierten Inzidenz der traumatischen Radialisparese von etwa 12% kommt der Prognose und Therapie der Radialisparese eine wichtige Bedeutung zu [4, 16]. Um so mehr überrascht die Tatsache, dass bis heute eine Kontroverse hinsichtlich des Therapiealgorithmus bei Vorliegen einer humerusschaftfrakturassoziierten Radialisparese besteht [4, 11, 16].

Von einem Teil der Autoren wird bei Vorliegen einer Radialisparese die frühzeitige Exploration des N. radialis empfohlen. Als Vorteil der frühzeitigen Revision wird im Vergleich zur verzögerten Operation der technisch einfachere Primäreingriff gesehen. So besteht unmittelbar nach der Verletzung noch keine ausgeprägte, den N. radialis umgebende Narbenbildung, welche die sekundäre, zeitlich verzögerte Präparation deutlich erschwert. Darüber hinaus sind bei Vorliegen einer Neurotmesis (komplette Nervendurchtrennung) im Rahmen einer primären Operation die Nervenenden deutlich einfacher darzustellen und zu nähen, ggf. kann durch eine geringe Verkürzung des Humerus sogar auf eine Nerventransplantation verzichtet werden. Ist der Nerv in der Fraktur eingeklemmt, kann durch eine primäre Neurolyse eine frühzeitige Nervenregeneration erwartet werden, welche bis zu einer sekundären Operation sicher ausbleiben würde. Die Möglichkeit der Einschätzung des Verletzungsausmaßes und der damit einhergehenden Regenerationsfähigkeit stellt einen weiteren Vorteil der primären Exploration des N. radialis dar. So kann in aussichtlosen Fällen bereits frühzeitig eine motorische Ersatzoperation in Erwägung gezogen werden. Von besonderer Bedeutung hinsichtlich der primären Exploration ist die Tatsache, dass im Rahmen einer Plattenosteosynthese der N. radialis ohnehin dargestellt wird und so bereits primär eine der Nervenverletzung adäquate Therapie erfolgen kann.

Im Widerspruch zur Strategie der frühzeitigen Exploration bei Vorliegen einer humerusschaftfrakturassoziierten Radialisparese steht die hohe Spontanheilungstendenz von etwa 70%. So zeigte die Metaanalyse von Shao et al. [16], dass die überwiegende Anzahl der Operationen bei traumatischer Radialisparese letztendlich überflüssig war und sich der operative Eingriff auf eine diagnostische Exploration beschränkte [17]. Nach Lowe et al. [11] bestand nur in 12% der humerusschaftfrakturassoziierten Radialisparesen eine Nervendurchtrennung [11]. Somit können durch die zunächst abwartende und ggf. sekundär operative Strategie die Mehrheit unnötiger Operationen und hierdurch bedingte Komplikationen vermieden werden. Insbesondere eine postoperativ auftretende perineurale Vernarbung würde sich durch Abwarten der Spontanheilung in vielen Fällen gar nicht erst entwickeln. Der zunehmende Einsatz von Marknägeln erfordert, vergleichbar mit der konservativen Therapie, keine operative Freilegung der Frakturregion mehr, sodass die Exploration des N. radialis einen zusätzlichen Eingriff darstellen würde, der auch erst dann erfolgen kann, wenn eine Spontanheilung ausbleibt.

Der Vergleich der 2 kontroversen Therapiestrategien, zum einen der primären Exploration und zum anderen der zunächst abwartenden und ggf. sekundär operativen Therapie, in der Metaanalyse von Shao et al. [16] lieferte äußerst überraschende Ergebnisse. So wurde nachgewiesen, dass kein Unterschied zwischen der primär operativen und der zunächst abwartenden, ggf. sekundär operativen Strategie besteht. In beiden Gruppen wurde sowohl für alle als auch nur für die primären Radialisparesen kein Unterschied hinsichtlich der Regenerationsrate gefunden, welche bei etwa 85% lag. Hieraus kann eindeutig gefolgert werden, dass bei Vorliegen einer Radialisparese zu häufig rein diagnostisch operativ exploriert und die Chance der Spontanheilung nicht entsprechend genutzt wird. Nach Packer et al. [13] soll die Regeneration der sekundären Exploration und Nervenchirurgie bei Radialisparesen überlegen sein und den Ergebnissen der primären Naht nicht nachstehen. Diese Ergebnisse müssen jedoch studienbedingt kritisch gesehen werden, da allgemein tierexperimentell und klinisch bei früher Nervennaht ein besseres Ergebnis erwartet wird als nach verzögerter Naht [5].

Anhand der Ergebnisse der Literaturrecherche kann daher gefolgert werden, dass bei Hinweis auf das Vorliegen einer Nervenverletzung im Sinne einer Durchtrennung oder Einklemmung eine primär operative Exploration und eine Neurolyse, Nervennaht oder Nerventransplantation erfolgen sollten. Besteht jedoch nur der Verdacht auf eine Nervenkontusion oder Axonotmesis, sollte der Spontanverlauf abgewartet werden. Die Schwierigkeit besteht darin, das Ausmaß der Nervenverletzung ohne operative Exploration zu beurteilen. Hinweise auf eine relevante N.-radialis-Verletzung, die primär operiert werden sollte, sind [4]:

  • offene Frakturen,

  • Frakturen mit höhergradiger Weichteilverletzung,

  • extraartikuläre Spiralfrakturen des distalen Humerus (Holstein-Lewis-Fraktur),

  • begleitende Gefäßverletzungen,

  • Schuss- und Stichverletzungen sowie

  • Radialisparesen nach geschlossener Reposition.

Ebenso sollte bei sonographischem oder magnetresonanztomographischem Verdacht auf eine Nervendurchtrennung eine primär operative Therapie angestrebt werden.

In allen übrigen Fällen, bei denen kein Hinweis auf eine relevante Nervenverletzung besteht, ist ein Abwarten der Spontanheilung gerechtfertigt. Es muss dann jedoch berücksichtigt werden, dass bei einer ausbleibenden Nervenregeneration etwa 2–3 Monate nach der Verletzung eine sekundäre Nervenexploration und eine der Nervenverletzung adäquate Therapie erfolgen sollten. Zur genauen Berechnung der Regerationszeit kann auch das Verfahren nach Green et al. [5] angewandt werden, wonach die Regerationszeit der Strecke zwischen Fraktur und 2 cm proximal des Epicondylus lateralis in Millimetern plus 30 Tage entspricht. Eine Sekundäroperation sollte nicht später als 7 Monate nach der Verletzung erfolgen.

Resümee

Zusammenfassend kann aufgrund der aktuellen Literatur gefolgert werden, dass die Prognose einer humerusschaftfrakturassoziierten Radialisparese mit einer Regerationsrate von über 85% als sehr gut einzustufen ist. Die hohe Spontanheilungsrate macht eine frühe operative Exploration des N. radialis häufig überflüssig. In den Fällen, in welchen ein Hinweis auf eine relevante Nervenverletzung vorliegt, sollte jedoch weiterhin eine primäre operative Exploration des N. radialis vorgenommen werden.